Grill Zweischritt
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-7013-6125-0
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 263 Seiten
ISBN: 978-3-7013-6125-0
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die schönsten Städte ihrer Welt sind jene, die sie kaum gesehen hat. Die Ich-Erzählerin reist viel von Berufs wegen. Sie ist Wissenschaftlerin, jagt in den verschiedensten Regionen der Welt nach Eichhörnchen, denen sie Haarbüschel ausreißt, um DNA-Sequenzen zu erstellen und daraus die Landkarte der genetischen Vielfalt zu zeichnen. Als wir ihr begegnen, fliegt sie nach Brasilien. Neben ihr sitzt Moor. Wie die Städte, die sie begeistern, weil sie sofort wieder abreisen muss, fühlt sie sich zu ihm hingezogen - weil sie ihn nicht kennt und auch nicht kennen zu lernen vorhat. "Alle suchten etwas, das sie Liebe nannten. Niemand, den ich kannte, wusste, was es war. Wer sie fand, sprach nicht darüber", sagt sie. Ihre Gedanken gehen immer wieder zu Moor, spielen damit, ihn noch einmal zu treffen - oder wandern zu dem Freund, den sie immer wieder in einer bestimmten Stadt sieht. Ist das wirklich ein anderer? Der Text gleitet frei zwischen Erlebtem, Geträumten, Dialog und Erzählung, führt uns Möglichkeiten vor, die "immer wunderbarer sind, als man vermutet, und zugleich bis ins Detail vorhersagbar".
Autoren/Hrsg.
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2 AM TAG bevor ich das Flugzeug bestieg, war ich seit Monaten wieder einmal in der Stadt gewesen, aus der ich gerade abflog. Eine Stadt, die ich gut kannte, oft besuchte, aber trotzdem nicht meine Stadt nannte. Um welche Stadt es sich handelte, ist belanglos. Nennen wir sie Mokum. Nach einer gewissen Zeit, wenn man eine gewisse Anzahl von ihnen gesehen hat, gleichen sie einander alle. Wie sich auch alle Menschen gleichen, in all ihrer Verschiedenheit. „Egal, welche Sprache sie sprechen, werden ihre Worte doch wieder eine anders klingende Version desselben sein.“ Das waren seine Worte gewesen. Es käme auf die Art zu schauen an, zum Beispiel, ob man auf oder unter dem Tisch säße, während man Ausschau hielte. Das waren meine. „Du stiehlst den Leuten die Worte aus dem Mund“, sagte er. „Natürlich“, erwiderte ich, „da kommen sie her.“ Ohne Münder gäbe es sie gar nicht. Die schönsten Städte der Welt sind jene, die ich kaum gesehen habe. Die, in denen ich gerade lange genug gewesen bin, ihre Umrisse auszunehmen. Den Schatten, den sie auf die nächstliegenden Hügel werfen, auf die daran anschließenden Seen und Meere. Einen ihrer Gerüche um die Mittagszeit. Einen Windhauch, der Bäume zum Schweben brachte. Einen Ball, der einen Strauch Blüten regnen ließ. Eine Stadt, in der man ankommt, wenn es Frühling ist und die Bäume blühen, ist wie ein Mensch, der einem zufällig begegnet und einige bemerkenswerte Worte sagt, einen festen Händedruck hat, einen zarten Atem. Ein Mensch, der mir alles verspricht, weil ich nicht mehr von ihm weiß, als was ich sehe, fühle und höre; ein Mensch, der mir noch alles werden kann. Jemand, von dem ich gerade genug kenne, um zu bemerken, dass ich ihn mag, doch zu wenig, um zu wissen, dass er Mundgeruch hat und schnarcht, wenn er Bier trinkt. Jemand, der einem ein Geliebter werden könnte, begegnete man ihm nochmals. Jemand, der ein Geliebter wird, weil ich ihm niemals mehr begegne, seinen Namen nur halb verstehe und mich schäme nachzufragen. Jemand, der riecht, als hätte er sich gerade erst gewaschen und mit Sonnenstrahlen eingeölt. Jemand, dessen Armbewegung mir gefällt, seine Art, das Hemd aufzukrempeln an den Ärmeln. Wie die Ellbogen aus dem Stoff ragen und an den Handgelenken feine Haare ihre Wuchsrichtung ändern. In den kurzen Schatten um die Mittagszeit, unter einem Himmel, der blau genug ist, um Hintergrund zu sein für Bilder, die mir in den Augen schwimmen, während ich am Rücken liege und nach oben starre, deutet eine unbekannte Stadt ihre Geheimnisse an, doch gibt sie nicht preis. Sie verspricht, was sie nicht halten muss, bekommt den Bonus des Flüchtigen, Vergänglichen. Museen, die Fassaden bleiben, weil ich sie nur von draußen sehe, verwandeln sich in viel versprechende Grotten voll wunderbarer Schätze. Restaurants, an deren gedeckten Tischen ich, einen Apfel aus der Hand kauend, nur vorbeigeeilt bin, werden zu himmlischen Tempeln voll herrlichster Speisen, während in den Fenstern der Läden bunte Stoffe und extravagante Plattenhüllen mit unverständlichen Aufdrucken Gegenstände zu sein scheinen, die ich immer haben wollte. Am Vortag, kaum in Mokum angekommen, hatte ich ihn gesehen, ihn, den ich immer sah, wenn ich hierher kam. Er küsste eine Frau auf den Mund. Ich nehme nicht an, dass es seine Schwester war. Seit ich eines Tages beiläufig verkündet hatte, dass man in dieser Stadt nie jemanden zufällig träfe, den man kannte, dass diese Stadt glücklicherweise gerade die richtige Größe hätte, weil man sie gerade noch zu Fuß durchqueren könne, ohne sich aber fortwährend von bekannten Gesichtern beobachtet zu fühlen, traf ich ihn ständig. Oft saß er auf dem Fahrrad und fuhr so langsam, dass ich ihn weder überholen, noch hinter ihm herfahren konnte. Ich kannte wenige Leute, hinter denen herzufahren lästiger war. Ich fühlte, dass ich schneller war als er, doch sobald ich zum Überholen ansetzte, beschleunigte er, kaum merkbar und scheinbar unabsichtlich, trat rascher in die Pedale. Dann kam Gegenverkehr und ich blieb wieder hinter ihm, der jetzt aufs Neue in sein übliches Tempo zurückfiel, das deutlich unter meinem üblichen Tempo lag. Meist sah er mich auch, doch manchmal sah er mich nicht. Die Male, da er mich nicht bemerkte, betrachtete ich als Triumph. Ich wohnte nicht in der Stadt, doch er musste wohl davon überzeugt sein, dass ich in der Stadt wohnte. Ich sah ihn öfter als meinen besten Freund. Sobald ich ihn sah, verbarg ich mein Gesicht hinter meiner Haut und sagte schnell ein Wort, das jegliches Gespräch ausschloss. Meist saßen wir auf Fahrrädern, wenn wir uns trafen. Das machte es einfacher, keine Unterhaltung aufkeimen zu lassen. Ab und zu saß er in einem Stuhl des Cafés des Lichtspielhauses. Allerdings saß ihm immer jemand gegenüber, und dieses Gegenüber war immer eine Frau; sodass es bei diesen Gelegenheiten außer eines kurzen Kopfnickens keiner weiteren Kontaktaufnahme zwischen uns bedurfte. Wir nickten und bewegten unsere Münder, als würden wir einen Laut fabrizieren, verschluckten diesen aber, noch bevor er die Lippen passieren konnte, und drehten uns in unsere eigenen Richtungen. Er hatte dunkelbraunes Haar, das er oft schwarz trug und in Locken bis an die Schultern. Er war kleiner als er sich vortat. Vielleicht lag darin der Grund, dass er saß, wo immer ich ihn traf. Vielleicht war das Sitzen seine bevorzugte Lebensform. Im Sitzen sehen alle ungefähr gleich groß aus. Vielleicht waren die Frauen, die ihm gegenüber auf den Stühlen des Cafés des Lichtspielhauses saßen, größer als er und vermied er es, neben ihnen zu gehen oder zu stehen, saß lieber mit ihnen und schlug daher fortwährend das Kino als Treffpunkt vor, wo die Chancen, dass man einen Abend im Sitzen verbringen konnte, beträchtlich höher waren als an anderen Orten der Vergnügung. Nie sah ich ihn zweimal mit derselben Frau. Die wenigen Male, da ich ihn stehend traf, stand er immer allein. Das war auf abendlichen Cocktailempfängen des Instituts, in dem wir einst beide gearbeitet hatten. Er arbeitete nach wie vor dort. Ich nicht mehr. Trotzdem wurde ich noch immer zu diesen Festlichkeiten eingeladen und folgte den Einladungen geschmeichelt, wenn ich gerade in der Stadt war, immer hoffend, dass er nicht käme. Mitunter kam er tatsächlich nicht und ich konnte das Fest in vollen Zügen genießen. Meist aber war er schon vor mir da. Warum ich weniger genoss, wenn er anwesend war, begriff ich selber nicht recht, hatte er mir doch nie etwas zuleide getan, benahm sich weder unhöflich oder gar frech, noch besonders aufdringlich oder herablassend. Nein. Es war einfach so, dass mir seine Anwesenheit im selben Raum unangenehm war und dass dieses Unbehagen auf keiner rationell erklärbaren Ursache gründete. Ich weiß nicht, ob er ähnlich für mich empfand. Doch ich bezweifle es, denn sobald ihn auf diesen festlichen Zusammenkünften die hinund herpendelnden Ströme von Leuten in meine Richtung trieben, suchte er ein Gespräch, das er nie fand. Ich verbarg meine Worte hinter dem Rücken, sobald er sich näherte, oder steckte sie geschwind einem Nächststehenden zu, sodass er sich mir nach dem Austausch der üblichen Wetterberichte mit einem Monolog auf der Zunge gegenüber fand, der ihm in dem Maße leiser geriet, je offensichtlicher ich nach anderen Gesprächspartnern suchend an seiner rechten Schulter vorbeistarrte, bis er ganz verstummte, „wir sehen uns“ murmelte, worauf ich ihm einen guten Abend wünschte. Immer, wenn ich diesen Wunsch aussprach, glomm ein Leuchten in seinen Augen auf, das auch gebrannt hatte, als er sich mir näherte, im Laufe unseres Nicht-Gesprächs aber verloschen war. Er fühlte die Aufrichtigkeit des Wunsches, denn es war nicht so, dass ich es nicht gut mit ihm meinte. Es war nur so, dass ich mit derselben Intensität, mit der ich ihm am Ende dieser unglücklichen Unterhaltungen Gutes heraufbeschwor, wünschte, er lebte in einer Welt, in der ich nicht war, sodass ich ihm nicht mehr zufällig begegnen müsste. Wäre ich ihm nie begegnet, hätte ich ihn ganz gerne gemocht, glaube ich, vielleicht hätte er mich sogar amüsiert, wie er mit seinen Frauen im Café saß oder alleine am Fahrrad. Hätte ich ihn nie getroffen, hätte ich darüber lachen können, dass es Leute gab, die hinter ihm radelten und schneller waren als er, denen es aber trotzdem nicht gelang, ihn zu überholen, die darum immer vergrämter dreinschauten, vergeblich stets aufs Neue zum Überholen ansetzten, endlich aufgaben und in eine andere Gasse abbogen. Niemand hatte mich vom Bahnhof abgeholt, als ich in Mokum ankam. Also sperrte ich meine Tasche in ein Schließfach. Später würde ich sie holen und zu denen bringen, auf deren Sofa ich übernachtete. Nach einigem Herumdrücken gelang es mir, sie hineinzuschieben. Ich warf eine Münze in den dafür vorgesehenen Schlitz, doch die Tür schnappte nicht ein. Das Schloss war defekt. Ich zog die Tasche wieder heraus, fing an zu schwitzen und stopfte sie in ein anderes Fach. Das funktionierte. Erleichtert trat ich hinaus auf den Bahnhofsvorplatz, der eine Baustelle war, wie die meisten Bahnhofsvorplätze in den meisten Städten Baustellen sind. Die Luft duftete...