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E-Book

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Griffin Im Versteck

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-86300-225-1
Verlag: Männerschwarm, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Wenn wir gestorben sind, wird sich niemand an uns erinnern. Niemand wird unsere Fotos anschauen, und das, was wir nicht erzählt haben, wird nicht in ihren Köpfen fortleben. Es wird sein, als wäre das alles nie geschehen.' Matthew Griffins Roman 'Im Versteck' erzählt, von einer Beziehung, die keine Spuren hinterlassen hat. Wendell und Frank haben sich in den Vierzigerjahren gefunden und in ein kleines Häuschen am Stadtrand zurückgezogen, weil Gesetze und Moralvorstellungen sie ins Versteck gezwungen haben. Es gibt keinen einzigen Zeugen ihres Glücks, fast nie verlassen sie gemeinsam das Haus. Das Doppelleben ist ihnen so zur zweiten Natur geworden, dass sie es auch dann nicht aufgeben können, als es keinen Grund mehr dafür gibt. Die Schwulenbefreiung geht an ihnen vorbei. Griffin erzählt von zwei knorrigen Südstaatlern Mitte achtzig. Jeder bedeutet dem andern die ganze Welt, doch als Frank einen Schlaganfall bekommt und langsam dement wird, beginnt ein mal tragischer, mal komischer Kleinkrieg. Der eine kann keine Schwäche zuzugeben, der andere muss stark sein, damit der Alltag funktioniert. Sie sind auf Hilfe angewiesen und haben Angst vor jedem Fremden, der sie 'erkennen' könnte. Und was bleibt am Ende, wenn Franks Demenz die Erinnerung an ihr Zusammenleben auslöscht, wenn kein Foto, kein Freund bezeugen kann, was einmal war? Mit zurückgenommener, doch ungemein eindringlicher Sprache erzählt Matthew Griffin von Höhen und Tiefen dieser lebenslangen Liebe gegen die Gesellschaft. Ein schönes, trauriges, unvergessliches Buch.

Matthew Griffin wurde in North Carolina geboren. Er lebt mit seinem Ehemann in Louisiana und unterrichtet als Gastprofessor an der Louisiana University in Lafayette. 'Im Versteck' ist sein erster Roman. Die amerikanische Originalausgabe 'Hide' erschien im Frühjahr 2016 und wurde von der Presse begeistert aufgenommen.
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Eins
Gott weiß, wie lange er da draußen schon gelegen hat: lang ausgestreckt mitten im Gemüsegarten. Als ich die Einkäufe in die Küche trage, sehe ich ihn durch das Fenster über der Spüle in der prallen Sonne liegen. Ich bin nicht mehr als eine Stunde fort gewesen. Ich stelle die Tüten hin und gehe schnell zur Hintertür. Zwei weitere Tüten liegen noch im Wagen. «Frank», rufe ich, «alles in Ordnung mit dir?» Er sagt kein Wort, bis ich mich über ihn beuge und mein Schatten sich auf ihn legt, seine Brust, das karierte Hemd und den Boden. Ohne zu blinzeln, schaut er hoch, direkt in die Sonne. Er hat drei oder vier Tomatenpflanzen unter sich zerdrückt, und ihre silbern-pelzigen Ranken ringeln sich um seine Arme und Knie, als versuchten sie ihn ins Erdreich hineinzuziehen. Bei dem Versuch, sich aufzurichten, hat er einen der Pflanzstöcke zerbrochen und zwei weitere aus dem Boden gerissen. «Mir geht’s gut», sagt er. «Musste mich nur mal ein Weilchen hinlegen.» «Mitten ins Tomatenbeet?» «War wohl zu lange in der Sonne», sagt er. Er nuschelt undeutlich wie ein Betrunkener. «Lächle mal», sage ich. Ein Mundwinkel wandert nach oben, doch der andere bewegt sich nicht; er verzerrt das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. «Kannst du die Arme heben?» Er hebt beide an, doch einer sackt sofort wieder hinunter, vom Lehmboden angezogen wie von einer energischen, unsichtbaren Hand. Ich greife nach der anderen und drücke sie. Seine Finger riechen nach grünen Tomaten. «Du bleibst schön liegen», sage ich und gehe so schnell wie möglich zurück in die Küche; von dort rufe ich den Krankenwagen. Die Frau in der Telefonzentrale macht nicht den Eindruck, als würde sie sich beeilen, und ich bin ziemlich sicher, dass sie Doughnuts isst. Alles, was sie sagt, klingt fettig. Es dauert eine Ewigkeit, bis sie Franks Namen und Adresse notiert hat. «Und bitte kommen Sie schnell», sage ich. «Es ist ein Notfall.» «Das sagen sie alle, Sir.» Das Telefon ist an der Wand befestigt. Ich lege nicht auf, lasse den Hörer am Kabel über dem Fußboden pendeln, falls sie den Anruf nachverfolgen wollen, um uns zu finden – es würde mich nicht besonders wundern, wenn sie unsere Adresse falsch notiert hätte –, und bringe Frank ein Glas Wasser nach draußen. Ich führe es an seine Lippen, aber dann fällt mir ein, dass er vielleicht nicht richtig schlucken kann, wenn nur noch eine Seite von ihm funktioniert. Er könnte ersticken, bevor sie kommen, um ihn abzuholen, denn er ist so schwer, dass ich ihn alleine kaum auf den Bauch drehen könnte. Schnell ziehe ich das Glas von seinen Lippen zurück, bevor er einen Schluck nehmen kann, aber ihm scheint das ohnehin egal zu sein, er sieht mich nur mit diesem leicht benebelten Gesichtsausdruck an. Seine alte blaue Baseball-Mütze ist weit nach hinten gerutscht und ihm fast ganz vom Kopf gefallen. Er setzt sie so locker auf, dass sie ihm jeder Windstoß vom Kopf pusten kann, und oft passiert das auch, weshalb er dauernd damit beschäftigt ist, seiner Mütze hinterherzulaufen. Aber er kann es nicht leiden, dass etwas seinen Schädel einengt. «Nun ja», sagt er, wie um nach einer längeren Pause einen abgerissenen Gesprächsfaden wiederaufzunehmen. «Hast du Schmerzen?» Er zieht die Augenbraue, die er bewegen kann, in die Höhe. Dabei verschiebt sich auch seine Mütze. «Die eine Hälfte fühlt sich komisch an. Als ob sie gar nicht richtig da wäre.» Ich nehme ihm die Mütze vom Kopf. Das innere Hutband ist schweißdurchtränkt und der Stoff an manchen Stellen blassgrün verfärbt. Mir kommt es wie zwei Stunden vor, dass ich neben ihm in der prallen Sonne stehe und ihm mit der Mütze Luft zufächere, die stickige Luft zu einer ziemlich armseligen Brise verquirle, die kaum stark genug ist, dass seine weißen Haare sich ein wenig bewegen. Die ganze Zeit lächelt er mit einem schiefen Grinsen zu mir herauf, von dem ich eine Gänsehaut kriege. «Hör auf zu lächeln», sage ich. «Ich kriege davon eine Gänsehaut.» Der emporgezogene Mundwinkel rutscht langsam wieder nach unten, in Richtung Kinn. «Draußen ist es jetzt viel zu warm. Du hättest hier überhaupt nicht arbeiten sollen.» Er ist dreiundachtzig, verdammt noch mal. Ein Dreiundachtzigjähriger hat an einem solchen Tag in der Mittagszeit draußen nichts zu suchen. Ich bin sicher, es hat eine Hitzewarnung gegeben, damit die Leute ihre Haustiere und älteren Angehörigen im Haus behalten, im Schutz der Klimaanlagen. Und natürlich hat er seine Hemdsärmel nur bis zur Hälfte des Unterarms aufgekrempelt: niemals einen Zentimeter höher, auch nicht in der prallen Sommerhitze. Der Schweiß läuft mir den Rücken hinunter. Ich hasse Schweiß. Schließlich ist von der Straße das Jaulen der Sirene zu hören, und auf dem Kiesweg, der zwischen den Bäumen hindurch zum Haus führt, knirschen die Reifen des Krankenwagens. Die Sonne blendet so stark, dass ich nicht einmal das rotierende Blaulicht erkennen kann; unsichtbar gleitet es über das Laub und die weißen Vinylpaneele der Hauswand. Ich öffne das Holztürchen zum Garten und führe die Sanitäter zu ihm. Panik zuckt über seine gelähmten Gesichtszüge, als sie sich über ihn beugen. «Mit mir ist alles in Ordnung», sagt er, «hab nur zu viel Sonne abgekriegt», bevor sie auch nur das Stethoskop auf seine Brust setzen und ihn nach seinen Symptomen fragen können. «Sie können wieder gehen», sagt er. Erst nach längerem Hin-und-hergezerre gelingt es den beiden, ihn vom Boden aufzuheben und auf eine Trage zu betten. Die Tomaten an seinem Rücken bluten wie Schusswunden. Ich leere das Wasserglas über den zerdrückten Pflanzen; der Boden färbt sich dunkel, bis das Wasser nach und nach versickert. «Kommen Sie mit?», brummt einer der Sanitäter, als sie die Trage in den Krankenwagen schieben. Ihr Anblick ist mir unangenehm, diese dicken, schmierigen Schnauzbärte über den feuchten Mündern, und wenn möglich meide ich enge, geschlossene Räume wie diesen Krankenwagen. Alles ist voller Keime, und wer weiß, was für Schleim und nässende Wunden sie schon berührt haben. Als sie ihm die Sauerstoffmaske über Mund und Nase ziehen, starrt Frank mich verängstigt mit aufgerissenen Augen an. «Warten Sie einen Moment», sage ich. Die Wagentür steht noch weit offen und das Alarmsignal piept; auf der Rückbank liegen zwei Einkaufstüten, die hineingetragen werden müssen. Ich schließe die Tür, gehe zurück zum Krankenwagen und lasse mir von einem der Sanitäter beim Einsteigen helfen. Frank und ich vermeiden, uns zu oft anzuschauen. Sie schließen die Tür und fahren schnell den Weg hinunter. Zischend graben die Reifen Furchen in den Kies, und das Heulen der Sirene folgt uns; als das Haus schon längst hinter den Bäumen verschwunden ist, scheint sie noch immer in unserem Garten zu jaulen. Im Krankenhaus erzähle ich der erschöpften Frau am Empfang, dass ich sein Bruder bin. Erspart uns die Hässlichkeit gewisser Auseinandersetzungen. Die ersten Male, als ich das gemacht habe, war ich ganz unruhig und nervös und dachte, dass sie mich durchschauen, aber inzwischen denke ich kaum noch darüber nach. Manchmal macht es mir sogar ein wenig Spaß. «Würden Sie sich bitte ausweisen», sagt sie. Ihr Kittel ist über und über mit tanzenden Bären bedruckt. Ich greife zur Gesäßtasche und tue so, als merkte ich gerade, dass meine Brieftasche nicht da ist. Mein Nachname steht klar und deutlich in meinem Führerschein, wie es üblich ist, seit so viele Menschen auf dieser Welt leben, dass wir fotografische Beweise dafür verlangen, dass man seine Identität nicht erfunden oder jemand anderem gestohlen hat. Und Brüder müssen den gleichen Nachnamen haben. Zumindest war das so, bevor Frauen mit so vielen Männern sie wollten Kinder bekommen konnten, ohne dass ihre Familie sie rauswarf. «Ach herrje», sage ich, klopfe auf die anderen Taschen meiner Hose und wühle darin herum. «Herrje, tut mir leid, ich fürchte, ich habe … in der Aufregung …» Sie stößt einen tiefen Seufzer aus. «Wir sagen Bescheid, wenn Sie zu ihm können», sagt sie. Die Verwirrten-Nummer funktioniert meistens. Frauen, die so unhöflich sind, einen älteren Herrn nach seinem Ausweis zu fragen, fehlt meistens auch die Geduld, seine nachlassenden Fähigkeiten zu ertragen. Sie zeigt mir den Weg zum Wartezimmer, wo ich zwischen hustenden, besorgten und leise weinenden Menschen Platz nehme. Eine Familie hat einen großen Kreis gebildet. Sie halten sich an den Händen, und einer nach dem anderen spricht demonstrativ eine Art von Rundgebet. Ich hasse Krankenhäuser. Sie sind so voller Pietät und Geflüster, die Luft ist kalt und schal, und allein der Geruch des Jods, das sie auf all die gelblich-welken Handgelenke schmieren, würde ausreichen, dass einem übel wird, wenn man nicht schon krank wäre. Um in Frieden zu Hause sterben zu können, muss man Opfer eines Gewaltverbrechens werden. Ich blättere ein wenig in den zerknickten Zeitschriften, die auf dem Tisch liegen, aber die Seiten fühlen sich vom Schweiß vieler Hände und anderen Ausscheidungen so schmierig an, dass ich mich davor ekle, sie anzufassen. Nach einer ganzen Weile kommt ein Arzt in den Raum geschlendert. So wie er aussieht –, helle, funkelnde Augen und glänzendes Haar, das bestimmt stundenlang gestylt wurde, damit es so zerzaust wirkt –, ist er höchstens zwanzig Jahre alt. Jeder im Raum hält ein mit dem, was er gerade tut, und sieht ihn an, voller Hoffnung oder Furcht, dass der eigene Name aufgerufen wird. Der Gebetskreis hebt seine multiplen Gesichter in verzückter Erwartung. «Mr Clifton?» Ich nicke und stemme mich aus dem Stuhl in die Höhe. Das geht nicht mehr...


Matthew Griffin wurde in North Carolina geboren. Er lebt mit seinem Ehemann in Louisiana und unterrichtet als Gastprofessor an der Louisiana University in Lafayette. "Im Versteck" ist sein erster Roman. Die amerikanische Originalausgabe "Hide" erschien im Frühjahr 2016 und wurde von der Presse begeistert aufgenommen.


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