E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Grießer Der Fluch des Blutaltars
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8425-1837-7
Verlag: Silberburg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Historischer Roman zur Walldürner Wallfahrt
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-8425-1837-7
Verlag: Silberburg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im badischen Odenwald rumort es: Der seit einigen Jahren tobende Krieg, der als der Dreißigjährige in die Geschichte eingehen wird, terrorisiert die Menschen und macht sie empfänglich für magisches Denken. Merkwürdige Zwischenfälle beim Bau eines Reliquienaltars heizen die Stimmung weiter an, und der jüngere Bruder des Altar-Erbauers muss den Vorkommnissen auf den Grund gehen, will er Schlimmeres verhindern.
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KAPITEL 2
Walthüren, im Mai 1622
Vogelgezwitscher drang durch das Fenster in die enge Schlafstube unter dem Dach, Stimmengewirr, das Klappern eines Karrens und die Geräusche der alltäglichen Arbeiten. Es musste schon recht spät am Morgen sein, denn die Luft erwärmte sich zunehmend. Seit Tagen schien die Sonne ungewöhnlich heiß. Die Felder vor den Stadttoren sogen Licht und Wärme gierig auf, denn der Winter war endlos und eisig gewesen. Kein Mensch wusste, wie lange der frühe Sommer noch anhalten würde. Im vergangenen Jahr hatte es auch im Juni noch geschneit, die Schafe waren auf der Weide erfroren und zu Pfingsten stürzten gemeinsam mit riesigen Hagelkörnern dreizehn Vögel tot vom Himmel. Böse Zeichen, wisperten die Leute und bekreuzigten sich. Philipp drehte sich im Bett um und verkroch sich tiefer unter seinem Strohsack. Sonne, Regen, Schnee und Hagel – was juckte ihn das Wetter? Am liebsten hätte er den ganzen Tag auf seiner Bettstatt verbracht, wo er mit niemandem reden musste und vor den Fallstricken des Alltags gefeit war. Das ganze Leben war eine einzige tiefe Grube, in die man jederzeit stürzen konnte. Jeder Schritt ein Wagnis, jeder Tag barg Gefahren. Er hasste es, aufzustehen. Nur im Bett, in seiner engen Kammer, fühlte er sich frei und geborgen. Nur hier schlich sich gelegentlich ein Lächeln auf seine Lippen, hier, wo keiner ihn sah und störte. Warum konnte er nicht einfach den ganzen Tag in dieser Stube bleiben? Leise Schritte trippelten die schmale Treppe empor. Philipp zog sich den Strohsack übers Ohr. Vielleicht ließen sie ihn ja heute in Frieden, wenn er einfach schwieg? Die Schritte verharrten vor seiner Tür, ein kurzes Zögern folgte, dann klopfte jemand vorsichtig an. Anna. Er hatte sie längst am Gang erkannt, niemand sonst setzte die Füße so sorgfältig und bedächtig auf. Philipp hielt die Luft an und bewegte sich nicht. Er konnte das unsichere Innehalten seiner Schwägerin regelrecht riechen, ihren leisen Seufzer erahnen. Würde sie umdrehen? Leise nach unten tänzeln und ihrem Gatten Zacharias mitteilen, dass sein Bruder noch schlief? Die Klinke bewegte sich und ein scharrendes Geräusch ertönte. Philipp spürte tiefen Verdruss in sich aufsteigen. Natürlich ging sie nicht. Sie ließen ihn niemals in Ruhe. Niemals. Annas kleine Hand legte sich auf seine Schulter. »Aufstehen, Philipp! Es ist ein so wundervoller Tag. Willst du ihn verschlafen?« Wundervoll? Was sollte an einem Tag wundervoll sein, wenn man ihn nicht sehen konnte? »Die Sonne lacht, lieber Schwager. Und wir sind schon fast mit dem Frühstück fertig. Nun komm schon.« Sie drehte sich um, Philipp hörte es am Rascheln ihres Kleides. Dann stiegen die zarten Füße wieder die Treppe hinab, beschwingter, als sie heraufgekommen waren, jetzt, da die unangenehme Aufgabe des Weckens erledigt war. »Die Sonne lacht«, ahmte er hämisch ihre Stimme nach, als er wieder allein war. »Die Sonne lacht …« Die dumme Sonne konnte ihm gestohlen bleiben. Was hatte er schon von ihrem Strahlen, wenn er den blauen Himmel nicht sehen konnte, die kleinen Schäfchenwolken, die darüber zogen, die grünen Wiesen vor der Stadt und die bunten Blumen? Ja sicher, er konnte die warmen Sonnenstrahlen spüren. Wenn er sich ihnen zu lange aussetzte, verbrannten sie seine Haut und er schwitzte. Und das war auch schon alles, was die Sonne ihm bescherte. Er pfiff auf sie, genau wie auf Regen, Schnee oder Nebel. Fluchend setzte er sich auf. Es nützte ja nichts. Wenn er nicht nach unten ging, würde das nächste Mal nicht die zarte Anna kommen, sondern sein Bruder persönlich, und dessen Weckmethoden waren weit weniger sanft als die seiner Gattin. Philipp hatte in den vergangenen Monaten jeden erdenklichen Trick ausprobiert, um sich einen Tag Ruhe zu verschaffen. Funktioniert hatte keiner. Langsam tastete er sich zum Waschtisch. Er setzte die Füße vorsichtig auf, denn wenn die Schritte auch nur ein bisschen zu groß gerieten, schlug er sich den Zeh schmerzhaft am Tischbein an. Das kalte Wasser, das Anna am Vorabend frisch in die Schüssel gefüllt hatte, war mittlerweile lauwarm geworden. Ein paar getrocknete Rosenblätter schwammen darin herum. Philipp klatschte sich eine Handvoll ins Gesicht, benetzte auch seine Arme, dann hielt er inne. Das musste an Körperpflege bis zum Abend genügen – ein Krüppel brauchte schließlich nicht nach Rosenwasser zu duften. »Krüppel«, sagte er laut. »Krüppel.« Damit er es nur nicht vergaß. Auf dem Weg zu seinen Kleidern, die er auf dem einzigen Schemel in seiner Kammer abgelegt hatte, stieß er sich dann doch noch den Zeh an. Verflucht! Was stand da auf dem Boden herum, mitten im Weg, wo es nicht hingehörte? Ein leises, überschwappendes Geräusch erinnerte ihn daran: der Nachttopf. Er grinste böse. Anna würde aufwischen müssen, wenn sie den Topf leerte. Dann seufzte er. Warum war er eigentlich so gehässig? Anna hatte ihm schließlich nichts getan – sie hatte ihn nur geweckt und das in bester Absicht und auf Geheiß ihres Ehemanns, seines Bruders. Genau genommen war Anna immer freundlich zu ihm und bemühte sich um sein Wohlwollen. Sie leerte seinen Nachttopf freiwillig, denn Philipp war durchaus in der Lage, diese Tätigkeit selbst zu verrichten. Warum konnte er ihr dafür nicht einfach dankbar sein? Tief sog er die warme Luft durch die Nase. Er wusste genau, warum er seine Schwägerin so scheußlich behandelte. Weil er ein Krüppel war. Ein hässlicher, grausamer Krüppel. Und als solcher durfte – nein, musste er sich auch hässlich und grausam betragen. So einfach war das. »Mein Bruder gesellt sich doch noch zu uns!« Zacharias klang spöttisch und ein wenig ärgerlich. »Was verschafft uns die Ehre? Hunger? Durst? Oder ist dir nur wieder eine Bosheit eingefallen, mit der du uns den Tag verderben kannst?« Schweigend umrundete Philipp den Tisch, bis er zu dem Platz gelangte, der üblicherweise für ihn bestimmt war. Er tastete nach dem Bierkrug, nach der Schüssel mit Hafergrütze, nach dem Löffel, doch seine Hände griffen ins Leere. »Warum musst du ihn immer ärgern, Zacharias?«, seufzte Anna. »Lass ihn in Ruhe.« Philipp hörte, wie sie aufstand, Richtung Küche lief, um ihm sein Morgenmahl zu bringen. Weit kam sie allerdings nicht. »Bleib sitzen, Weib.« »Ich will ihm doch nur eine Schüssel Hafergrütze …« »Setz dich wieder an den Tisch, sage ich.« Anna gehorchte. Sie wusste ebenso gut wie Philipp, was der Tonfall ihres Gatten zu bedeuten hatte: Der Hausherr stand kurz vor einem seiner gefürchteten Wutausbrüche. Die kamen schnell, unvorhersehbar und waren gewaltig. »Ich glaube, mein Bruder wird sich heute sein Morgenmahl selbst holen.« Nun klang die Stimme leise und bedrohlich, ein gefährliches Anzeichen. »Aber zuerst …«, fuhr Zacharias unerbittlich fort, »… zuerst wird er sich ordentlich waschen. Wir leben hier in einem Bürgerhaus, nicht im Schweinestall. Du stinkst, Philipp, und das dulde ich nicht in meinem Haus! Hast du mich verstanden?« Eine böse Erwiderung lag Philipp auf der Zunge, doch er schluckte sie hinunter. Stattdessen senkte er den Kopf, einmal, zweimal, ein angedeutetes Nicken nur – gerade genug, um Zacharias keinen Anlass zum Wutausbruch zu liefern. »Gut«, sagte Zacharias, ein wenig ruhiger. »Sobald du sauber bist – und ich meine wirklich sauber, auch dort, wo du jede Nacht an dir herumfummelst –, sobald du also nicht mehr stinkst, kannst du in die Küche gehen, dir einen Teller Grütze holen, einen Krug Bier, und essen und trinken, soviel du magst. Schließlich bist du mein Bruder und sollst weder Hunger noch Durst leiden. Anna wird dir allerdings nicht dabei helfen.« »Aber Zacharias! Er weiß doch gar nicht, wo alles steht! Wie soll er …« »Schweig! Ich schätze deine Meinung, Anna. Aber in dieser Angelegenheit will ich keine Widerrede mehr hören! Du hast meinen Bruder lange genug verhätschelt. Er ist kein kleines Kind und bis auf seine Augen ist alles an ihm heil. Höchste Zeit, dass er endlich lernt, seinen Alltag zu meistern! Fast drei Jahre ist der Unfall nun her! Wahrlich lange genug, um sich mit dem Schicksal abzufinden, wie es sich für einen Christenmenschen gehört. Lange genug, um Verbitterung und Boshaftigkeit abzulegen. Doch wie kann er lernen, auf eigenen Beinen zu stehen, wenn du ihn umsorgst wie eine Glucke ihr einziges Küken?« Anna schwieg und Philipp war sich sicher, dass sie die Lippen gekränkt zusammenkniff. Es war grausam von Zacharias, so etwas zu sagen, wo er doch...