Greve | Etwas ist immer | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 152 Seiten

Greve Etwas ist immer

Geschichten aus der Erinnerung
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7504-4510-9
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Geschichten aus der Erinnerung

E-Book, Deutsch, 152 Seiten

ISBN: 978-3-7504-4510-9
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Andreas Greves Buch 'Etwas ist immer' handelt vom Leben. Es sind aber keinesfalls Memoiren, sondern jeweils kleine Ausschnitte oder kurze Einblicke. Selbst innerhalb einzelner Geschichten werden Ländergrenzen überschritten und Zeiträume durchlaufen. Wie Greve es in der Einführung formuliert: 'Ich habe für meine Reise in die Vergangenheit Gegenstände zu Hilfe genommen, den Rucksack beispielsweise oder die Ascheimer, welche Erinnerungen weckten und wach hielten und so zu einem besonderem Punkt meiner persönlichen Geschichte hinführten, wo Dinge quasi zu Gefühlen wurden, guten wie schlechten.' Dabei entfaltet sich für den Leser ganz beiläufig Zeitgeschichte, wie etwa die 60er und 70er Jahre in Deutschland oder die 80er mit dem Alb/Traum vom Leben im Kollektiv in Dänemark.

Andreas Greve Der Lyriker, Kinderbuch- und Reiseautor Andreas Greve (*1953) wuchs in Hamburg-Altona auf, studierte in Braunschweig und machte eine Zimmermannslehre in Dänemark. Seit 1989 schreibt er Bücher für Jung und Alt. 2004 veröffentlichte er die Reportage 'In 80 Tagen rund um Deutschland' (Hoffmann und Campe) und 2016 'Dichter an Hamburg' mit Til Mette, mit dem er 2018 auch einen Band mit Paarreimen und Cartoons machte ('Für die Frisur ist Geschlechtsverkehr ein Katastrophe', Lappan/Carlsen). Im selben Jahr erschien das Bilderbuch 'Komm bald wieder' mit Illustrationen von Lena Winkel bei Atlantis in Zürich und 2019 als 'Kom snart igen' auf Dänisch bei Forlag Turbine, Aarhus. Andreas Greve lebt und arbeitet meist in der kleinen, dänischen Hafenstadt Faaborg. www.andreasgreve.de

Greve Etwas ist immer jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Wenig Berührung Kaum irgendwo lernt man besser, seinen Körper einigermaßen – also, als einen Fehler unter vielen – anzunehmen, als in einem Sportverein. Weniger zweifeln, mehr duschen. Ich vertat diese Chance als Grundschüler bei den Jüngern Poseidons: Wir hatten unsere Bahnen geschwommen, wir waren als Gleiche unter Gleichen mit dem Abzeichen »SVP«, Schwimmverein Poseidon, von den Duschen zu den Umkleideschränken gegangen, als ich zu einem dicken, etwas älteren Clubkameraden, der gerade seine blaugräuliche, lange Unterwäsche anzog, sagte: »Na, du trägst die Arbeitsklamotten deines Vaters auf?« Er erhob sich und haute mir ein paar an die Backen. Ungeübt in der Lebenstechnik, auszulöffeln, was man sich eingebrockt hat, verließ ich umgehend den Verein. Dem »Bissi«, dem Bismarckbad am Bahnhof, blieb ich aber treu, wenngleich mir das Badeleben außerhalb des Beckens suspekt war. Unter den Duschen wuschen sich einige Männer zwischen den Beinen. Könner hielten gar vorne ihre Hosen auf, um den warmen Regen hineinspülen zu lassen. Es gab Typen, deren Badehosen seitlich nur durch Schnüre zusammen gehalten wurden. Sie waren bis in den Winter braun gebrannt, stolzierten gerne am Beckenrand entlang, und in ihrem Gesicht stand geschrieben, daß sie sich selber auch sehr gut ohne Hose vorstellen konnten. Das wirkliche Vergnügen des Freizeitmoduls »Ins-Bissi-Gehen« bestand im Hin- und vor allem im Rückweg, den wir immer durch das Kaufhaus »Hertie« legten. Es war ein wundervoller Spielplatz, eigentlich ein Ort angewandter Imagination, wo wir von der Eisenbahn bis zum Ein-Mann-Zelt alles bestaunten, befingerten und möglichst auch ausprobierten, was wir nie oder erst Jahre später würden kaufen können. Selbst im Sommer bot Hamburg überwiegend Hallenbad, denn dahin konnten wir alleine gehen. Mußten wir auch, weil meine Mutter überhaupt nicht schwimmen konnte und mein Vater für solche Unternehmungen nur bedingt zur Verfügung stand. Nur sehr vage erinnere ich, daß er in der kleineren, moderneren Halle des Bismarckbads dünn und bleich im Wasser stand und darauf wartete, daß meine kleine Schwester sich traute, die Rutsche zu nehmen. Vielleicht bilde ich es mir aber auch nur ein. Mein Vater hätte es genauso wenig wie ich auf den Fries einer antiken Vase geschafft. Ihm hätte es mit seiner geraden markanten Nase vielleicht noch als Porträt gelingen können. Doch mit den restlichen spindeldürren Gliedmaßen versuchten wir die Öffentlichkeit nach Möglichkeit zu verschonen. Kurze Hosen trug ich bald nur weit außerhalb der Grenzen jeglicher Zivilisation und lange, lange fühlte ich mich in einer Badehose nicht viel besser als damals, als ich der versammelten Nachbarschaft meiner Großeltern meine ersten Schamgefühle vortanzen durfte: Vermutlich hatten sie sich aus ganz anderen Gründen als der Neuigkeit »unser Enkel hat eine neue Badehose!« im Vorgarten meiner Großeltern eingefunden, jedenfalls schienen es weit mehr zu sein als nur die unmittelbaren Nachbarn von links und rechts. In all die Augen schaute ich ganz bewußt nicht, als ich auf den Tisch gehoben und splitternackt ausgezogen wurde, um die kleine blaue Hose mit den eingewebten weißen Streifen verpaßt zu bekommen. Meine Gedanken waren ausschließlich bei meinem unverhüllten, aber eigentlich kaum vorhandenen Geschlecht. Meine Großeltern besaßen in einem Stadtrandbezirk ein kleines Haus. Es war gerade groß genug, um im ersten Stock eine winzige Dachwohnung an eine Familie zu vermieten, und Haus genug, um einen Vorgarten zu haben, einen Zaun, einen Plattenweg zur Eingangstür und eine Art umrankter Laube vor einem Anbau, der eigentlich die Waschküche gewesen war, aber hauptsächlich den Öltank beherbergte, der dem ganzen Raum den Geruch gab. Der bescheidene Wohlstand in ihrer Zeit als Großeltern ergab sich aus einer Offiziersrente, die mein Großvater als einstiger Pilot der Luftwaffe bezog. Er sprach nie über den Krieg und erklärte mir nie, wie es zu dem Einschußloch in seinem Bauch und dem merkwürdigen hängenden Hautfetzen gekommen war. Aber er verbarg auch nichts, wenn er sich umzog oder – nur leicht abgewandt – auszog. Meinen Vater erlebte ich allerhöchstens im langärmligen Unterhemd und auch im Sommer mit langer Unterhose vorm Badezimmer, während ich als kleiner Junge bei meinen Großeltern sogar zwischen ihnen im Bett einschlafen durfte. Wenn mein Vater auf einem Ausflug war, trug er normalerweise statt eines Mantels einen Mantel, statt eines Jacketts ein Jackett, statt Lederschuhen Lederschuhe und statt eines Hutes einen Hut. Nur er selbst spürte den Unterschied in der Façon, aber es war seinem Gebaren anzumerken, daß ein erheblicher Teil der Last des Alltags von ihm abgefallen war und er sich dem hingeben durfte, was er am liebsten mochte und am besten konnte: Natur und Kulturlandschaften sehr bewußt in sich aufnehmen und frische Luft atmen. Er brauchte dazu nicht Umbrien, die Provence oder das Tessin, sondern kam mit zwei Landstrichen aus: Norddeutschland, wo er aufgewachsen war, und der Schwäbischen Alb, die er während des Architekturstudiums in Stuttgart kennengelernt hatte. Da ihm seine finanziellen Möglichkeiten keine weiten Reisen gestatteten, war die Norddeutsche Tiefebene sein eigentliches Reiseland. Und auch davon nur ein Teil, der maximal von Worpswede bis Plön reichte. Den Rest der Welt, die für ihn sowieso nur aus dem Abendland bestand, bereiste er ausschließlich beim Lesen, vorzugsweise beim Anschauen der »Merian«-Hefte. Vor allem kehrte er mit allergrößter Leidenschaft in Gegenden zurück, die er kannte, und das durften gerne die sein, die man mit dem Öffentlichen Nahverkehr erreichen konnte, wie etwa Ahrensburg, die Harburger Berge oder das Alte Land. Eigentlich wiederholte er nur die Ausflüge, die er schon als Kind gemacht hatte. Jedes Detail einer Stippvisite in Wittenbergen oder Finkenwerder konnte er in endlose, exakte Sätze fassen, gegen die die Wortschöpfungen und Satzbauten Thomas Manns wie ungenauer Tand wirkten. Es war für uns Kinder immer fürchterlich ermüdend, das anhören zu müssen. Vermutlich wäre er gerne so stilvoll gereist wie Thomas Mann. Er hätte sich in solch einem Falle ohne Frage mit weißer Kapitänsmütze und blauem Blazer in den Strandkorb gesetzt. Meinen Vater in Badehose sehe ich aber in einem anderen Umfeld: im Sommer an der Ostsee, wo unser Hausarzt an der Lübecker Bucht ein Wochenendhaus besaß. Unsere beiden Familien waren irgendwie befreundet. Über viele Jahre müssen wir dort zu Besuch gewesen sein. Am Sommer gefielen mir die kurze Hose und das kurzärmelige Hemd, wenn man schon früh morgens wußte, dies wird ein warmer Tag. Ich mochte dieses Gefühl der Leichtigkeit: Keine Strümpfe, kein Unterhemd bis zum Ins-Bett-Gehen. Badehosen mochte ich nur tragen, wenn ich braun war, doch das wurde ich nie, ich verbrannte lediglich. Beim Segeln in der H-Jolle auf der Ostsee im höchsten Hochsommer trugen alle Kinder und Jugendlichen Badesachen. Wir gondelten stundenlang in der Neustädter Bucht herum und sangen, zwischen schlappen Wenden und trägen Halsen, alle 114 Strophen von »eisgekühlte Coca-Cola…, Coca Cola eisgekühlt!«, doch ich brachte es nie fertig, mich wie die anderen Jungen einfach an den Bug zu stellen und mit einer Hand an der Takelage und der anderen an der Hose in die Ostsee zu pinkeln. Die Zweifel am eigenen Körper überwogen. Ich neigte lange Jahre zu Woody Allens Replik, der einer Frau, die vermutete, er kenne den Begriff Penisneid nicht, entgegnete: »Doch, doch! Ich bin einer der wenigen Männer, der daran leidet!« Wir als Familie fuhren eigentlich nie an den Strand. Zumindest nicht mit der Absicht, einen ganzen Tag in Badekleidung Burgen zu bauen und Ball zu spielen. Auf unseren Ausflügen bewegten wir uns von da nach dort und die Wolldecke wurde nur zur Rast ausgebreitet und nicht, um stundenlang herumzuliegen. Ein – wenn auch kurzer – Aufenthalt im Wochenendhaus des Arztes war dagegen erheblich stationärer. Das freizeitliche Treiben setzte sich zu einem Drittel aus Garten, einem Drittel Segeln und eben auch einem Teil Strand zusammen. In wechselnden Konstellationen. Einmal muß für alle zusammen Strand auf dem Programm gestanden haben, und so saßen mindestens vier Erwachsene und sieben Kinder am Fuße des Steilufers. Vielleicht waren es sogar mehr Kinder, die herumliefen, Ball spielten, etwas zu trinken haben wollten oder sonstwie die Gruppe umrundeten. Nur mein Vater saß weit abseits, bestimmt hundert Meter von der Gruppe entfernt, in seiner verschossenen wollenen Badehose, mit dünnen Beinen, die so weiß waren, daß sie fast blendeten, mit spindeldürren Armen, die unten rot und oben muskelfrei waren, mit seinem schmächtigen Oberkörper, der ebenfalls schneeweiß war bis zum zweiten Kragenknopf, dem Übergang zum sonnenversengten Hals und dem verbrannten Kopf. Er saß keineswegs entspannt da, sondern kauernd und aufs Wasser schauend. Vielleicht trauerte er der Zeit nach, als man in der Sommerfrische auch in Badezeug...



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.