E-Book, Deutsch, 120 Seiten
Ågren Leo Nilheims Geschichte
1. Auflage 2015
ISBN: 978-87-11-44852-6
Verlag: SAGA Egmont
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 120 Seiten
ISBN: 978-87-11-44852-6
Verlag: SAGA Egmont
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Im April 1958 lernt der Erzähler in Leningrad einen geheimnisvollen Mann kennen, der sich Leo Nilheim nennt und als Dolmetscher arbeitet. Eine Nacht lang erzählt der Russe die tragikomische Geschichte seines Lebens: von der jüdischen Mutter, die er nie gekannt hat, und vom revolutionären Vater, der so früh starb, von einem senilen Lehrer, den er durch spontanes Intonieren der Internationale rettet, und dem wilden Eber Rasputin, der nach Sibirien deportiert wird, von einer viel zu kurzen Kindheit und der ersten unerfüllten Liebe. Er erzählt von der Absurdität des Krieges an der russisch-finnischen Front und dem Überleben in einem Gefangenenlager, von Bibeln, Heldenkreuzen, von einer neuen Heimat im Feindesland und dem Mann, der ihn erst erschießen will und ihm später das Leben rettet. Und er beschreibt den Punkt im Leben eines Menschen, an dem er entscheiden muss, wer er sein will. AUTORENPORTRÄT Leo Ågren, geboren 1928 in der vorwiegend schwedischsprachigen finnischen Provinz Österbotten, erlernte den Beruf eines Schriftsetzers und debütierte 1954 mit dem Roman Hunger i skördetid. Für sein Werk wurde er mit mehreren Literaturpreisen und Stipendien ausgezeichnet. Anfang der 1960er übersiedelte er nach Stockholm. 1971 erschien sein letzter Roman Krigshistoria, der nunmehr unter dem Titel Leo Nilheims Geschichte in deutscher Sprache vorgelegt wird. Leo Ågren starb 1984 in Stockholm.
Weitere Infos & Material
I.
Das Dorf
Meine Eltern, mein Vater jedenfalls, waren Bauern. Ich weiß, wie Erde riecht. Ja, es ist seltsam, wie viel Gerüche im Leben bedeuten können. Einige Jahre lang lernte ich, wie Leichen und Pferdekadaver riechen. Dieser Gestank ist schlimmer als alles andere, man kann sich nie daran gewöhnen. Aber auch dem Geruch des karelischen Humus konnte ich nichts abgewinnen. Er duftete ganz anders als der bei uns. Das ist gar nicht so sonderbar. Die Erde, in die man Schützenlöcher gräbt, riecht sicher immer auf eine besondere Art. Schützenlöcher werden auf Befehl gegraben; sie dienen keinem anderen Zweck als dem kriegerischen. Deshalb müssen sie natürlich ganz anders riechen als alles andere. Das Gewühle in der Erde war eine Sinnlosigkeit der Politiker, nicht der Bauern. Und der Sohn eines Kolchosbauern aus einer der tristesten Gegenden Weißrusslands konnte sich nie mit der Art der Politiker, im Boden zu graben, abfinden. Die Humusschicht sollte mit Sorgfalt und Liebe umbrochen, gedüngt und besät werden. Dann zeigt sie vielleicht ihre Dankbarkeit, indem sie eine gute Ernte gibt. Aber die Ernte des Krieges besteht nur aus Schrecken und Leichen. Niemals aus etwas anderem. Ja, mein Vater war Genossenschaftsbauer. Wir wohnten in einer der ältesten Hütten des Dorfes. Die ersten Jahre waren schwer. Der Ofen qualmte, und im Winter schneite es durch die Ritzen zwischen den morschen Balken. Fleisch stand fast nie auf unserem Tisch, und oft gab es nicht einmal eine Mehlsuppe. Wir Kinder bewunderten Stalin sehr, aber nur, weil wir kaum jemals ein gedrucktes Foto von einem anderen gesehen hatten. Und wer, wie der Lehrer sagte, Hunderttausende solcher Bilder verbreiten lassen konnte, musste natürlich viel mehr sein als wir. Aber trotz seiner fast göttlichen Macht konnte nicht einmal Stalin verhindern, dass wir mehrere Jahre hintereinander Missernten einfuhren. Die neue Generation, die Zukunft der Sowjetunion, wuchs unterernährt, zerlumpt und halb verwildert heran. Wundere dich deshalb nicht, dass wir nur das geschafft haben, was du heute siehst. Wir sind noch immer vor allem am Essen interessiert. Es braucht eine weitere satte Generation, um die Wohlfahrtsgesellschaft aufzubauen. Großmutter redete manchmal vom Zaren, von einer glücklichen Periode im Leben Russlands, als niemand Not litt und keiner an Teeblättern sparen musste. Sie nannte ihn Nikolajus; manchmal glaube ich, sie brachte ihn mit einem Heiligen durcheinander. Sie war nämlich sehr religiös. Wenn wir einen Verwandten an der alten Dorfkirche beisetzten, gehörte sie immer zu denen, die am eifrigsten die Stirn auf den Boden schlugen und sich bekreuzigten. Schließlich begruben wir auch sie. Da war ich bereits groß genug, um beim Ausheben des Grabes zu helfen. Ich erinnere mich, dass auch die Erde auf dem Friedhof anders roch als der verdammte karelische Humus, in den ich einige Jahre später auf Befehl der Generale Schützengräben grub. Jedenfalls begriff ich, dass unser Dorf sehr alt sein musste, denn ich stieß auf jede Menge Knochen, ja sogar ganze Schädel, als wir Großmutters Grab vorbereiteten. Hier, an diesem gottverlassenen Platz, hatten Generationen von Menschen gewohnt, jahrhundertelang, ohne auf die Idee zu kommen, sich etwas Anderes, etwas Besseres zu suchen. Aber ich werde es ihnen zeigen, dachte ich. Wenn ich nur ein wenig älter wäre – in dieser Erde wollte ich jedenfalls nicht verwesen! Ich kann nie an Großmutters Tod denken, ohne an meinen Papa erinnert zu werden. Nicht nur, weil die beiden fast zur selben Zeit starben, sondern weil da, bei allen Unterschieden, etwas so gleich war bei ihnen. Eines Morgens antwortete Großmutter nicht, als wir sie ansprachen. Sie lag mit geschlossenen Augen ganz still da, die Hände fest um eine Ikone geschlossen. Ihre Gesichtshaut war straffer geworden; sie sah jünger aus und wirkte viel glücklicher als im Leben. Zwei Mal erlebte ich, dass sich mein Papa mit selbstgebranntem Wodka betrank. Vielleicht habe ich deshalb kein so gutes Verhältnis zu diesem Getränk. Papa war ein echter Revolutionär. Er hatte an der Revolution teilgenommen, war bereits damals in der Partei gewesen. Aber im Gegensatz zu so vielen anderen versuchte er niemals, im Durcheinander des Bürgerkriegs Karriere zu machen. Er nahm an der Niederschlagung der weißen Konterrevolution teil, aber als alles ruhig war, kehrte er als einfacher Kolchosbauer zurück, wissend, dass es lange dauern würde, bis der junge Sowjetstaat die Bedürfnisse aller seiner Bürger befriedigen könnte. Die Jahre vergingen, das Elend blieb. Papa wurde immer verschlossener und wortkarger. Dann kam der Abend, an dem ihm der Wodka die Zunge löste. Er sagte, dass die westlichen Imperialisten, die Kulaken, Trotzkisten und viele andere, ich erinnere mich nicht an alle, dem Sowjetvolk mehr aufgebürdet hätten, als es vielleicht auf Dauer tragen könne. Manchmal, flüsterte er, geschehe es sogar, dass er an dem großen Stalin zu zweifeln beginne. Man habe nicht das Recht, eine Generation zu opfern, eine Generation zu opfern sei, als opfere man die Menschheit. Schließlich schrie er beinahe. Er hatte gar nicht viel getrunken, aber er aß auch immer sehr wenig. Er war einer der Leiter der Genossenschaft und vielleicht der einzige, der sich verantwortlich fühlte. Er wollte nicht mehr essen, als es die anderen konnten. Er wollte sie mit seinem Beispiel überzeugen, aber das war mühsam. Er sah, wie die zwangskollektivierten Bauern draußen auf dem Acker heimlich ihre Kühe schlachteten, er sah sie in ihren Daunenbetten liegen und schlafen, als die Felder bestellt werden mussten. »Und solche nennen unsere Führer Vorkämpfer der idealen Gesellschaft.« Noch einmal trank er Wodka. Es war ein schöner warmer Herbsttag; wir waren beim Pflügen. Ich weiß nicht, was genau geschah; vielleicht bekam er einen Sonnenstich. Jedenfalls fiel er plötzlich hinter seinen Pferden in die Furche. Ich lief ein Stück dahinter und sammelte Steine. Schnell rannte ich hin und half ihm, sich aufzusetzen. »Kannst du aufstehen?«, fragte ich, außer mir vor Sorge. »Nein, nie mehr.« Nach einer Weile zeigte er plötzlich auf eine Scheune, die nicht weit entfernt stand. »Geh dort hin und hole ein bisschen Hafer für die Pferde. Du kannst zwei Säcke nehmen.« Ich glaubte, er wäre verrückt geworden, sagte aber nichts und holte das Getreide. Ich musste zweimal gehen. Er blieb in der Furche sitzen. »Jetzt kannst du versuchen, mir zu helfen«, sagte er. »Aber füttere erst die Pferde.« Ich spannte die beiden mageren Gäule aus und schüttete ihnen einen Sack Hafer hin. Dann versuchte ich, Vater nach Hause zu bringen. Es war nicht leicht. Ich trug und schleppte ihn abwechselnd. Er schien jede Kraft in den Beinen verloren zu haben; sie gaben jedes Mal nach, wenn er stehen wollte. Ich glaube, wir brauchten für den kurzen Weg nach Hause mehrere Stunden, und als ich ihn endlich ins Bett legen konnte, war ich genauso am Ende wie er. Mit leiser Stimme bat er mich, eine Flasche Wodka zu holen. Es war die letzte, er hatte sie für Großmutters Begräbnis aufheben wollen, aber es schien, als hätte er geahnt, dass er diesen Tag nicht mehr erleben würde. Großmutters Sarg stand halb fertig in einer Ecke des Raumes, und ich überlegte, wer mir helfen könnte, ihn zusammenzunageln, jetzt, wo es auch Vater schlecht ging. Er nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. Dann winkte er mich heran und flüsterte: »Du, mein Junge, wirst den Sozialismus erleben, vielleicht auch den Kommunismus, aber reiß dir deshalb kein Bein aus. Sei nur ruhig und warte; alles kommt zu dem, der warten kann. Wenn es Ärger geben sollte wegen der beiden Säcke Hafer, dann sag ihnen, dass mir die Pferde leidtaten. Sie sind es vielleicht auch wert, einmal ein bisschen Sozialismus zu erleben.« An weitere Worte kann ich mich nicht erinnern. Er trank die Flasche bis auf den letzten Tropfen aus und schlief ein. Seine Atemzüge wurden immer schwächer, und als ich im Morgengrauen nach ihm sah, lebte er nicht mehr. Sein Körper roch nach Fusel. Jetzt stand ich allein im Leben. Ich wusste nicht, wer meine Mama war und wo sie sich aufhielt; Papa wollte nie von ihr erzählen. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass er sie als Verräterin betrachtete, als eine, die seine politischen Ideale aufgegeben hatte. Jedenfalls musste ich mich nun um beide Beerdigungen kümmern. Ich ging zum Kolchosvorsitzenden, um die Details zu besprechen. Der Vorsitzende verausgabte sich nicht gerade. Er saß hinter seinem Schreibtisch und reinigte eine ganze Menge Pfeifen; er wusste, wie man auf den Sozialismus wartet. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich dazu herabließ, von mir Notiz zu nehmen. »Nun?« »Mein Vater ist gestorben.« Da wurde er plötzlich lebendig. Vater war immerhin ein Pionier und einer der Initiatoren der Genossenschaft gewesen. Der Vorsitzende witterte ein Fest. »Du kannst ruhig alles mir überlassen«, erklärte er. Um Großmutter kümmerte er sich natürlich nicht. Die musste ich selbst, so gut es ging, unter die Erde bringen. Ich erwähnte ja schon, dass ich half, Großmutters Grab auszuheben. Tatsächlich erledigte ich fast die ganze Arbeit allein. Die einzige Hilfe, die ich hatte, war ein alter vertrockneter Dorfpriester, der Göttlichkeit atmete für jeden Teelöffel Sand, den er aus der Grube beförderte. Er wohnte bei seiner Tochter, die ihn mit Tee und Honigkuchen beköstigte, dem Einzigen, was sein leibliches Wesen noch begehrte. Beim Begräbnis betete und sang er mit einer plärrenden Greisenstimme. Er und die anderen Alten, die mir helfen wollten, hätten den Sarg beinahe hochkant ins Grab fallen lassen; im letzten Moment bekam ich...