E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Gremaud Verkaufte Welt
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-906907-36-9
Verlag: edition bücherlese
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Reise zu fünf Tempeln des Megakonsums
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-906907-36-9
Verlag: edition bücherlese
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rinny Gremaud ist einmal um den Erdball gereist, um die größten Malls der Welt zu besuchen. Heere von Angestellten und Kunden verbringen?–?egal ob draußen +40 oder -20 Grad herrschen?– bei gleichbleibend immer etwas zu kühler Temperatur ihre Zeit in den Mega-Einkaufszentren, die wie eine eigene Stadt funktionieren und darauf angelegt sind, die reale Stadt zu ersetzen. Die Besucher treffen sich, kaufen ein, essen, trinken, erledigen was, spielen, gehen schwimmen oder ins Kino.
Rinny Gremaud erzählt von den Menschen, denen sie begegnet, spricht mit denen, die dort arbeiten, geht den Entstehungsgeschichten der Malls nach, berichtet von dem Teppichverkäufer in Teheran, der in Alberta ein Multimillionär geworden ist, oder von dem Jungen, der erst Mandarinen, dann Enteneier, schließlich Zucker und Reis verkauft, bis er am Ende eine Mall in Malaysia besitzt. Sie schreibt in leicht ironischem, untergründig zornigem Ton über diese Realität gewordenen Disneylands, die in ihrem Gigantismus und mit dem überall gleichen Waren- und Markenangebot ein Sinnbild der Globalisierung sind.
Für das französische Original Un monde en toc wurde die Autorin mit dem renommierten Prix Michel-Dentan 2019 ausgezeichnet, es erschien 2018 im Verlag Éditions du Seuil.
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LAUSANNE
Ich lebe in Lausanne, am Schweizer Ufer des Genfer Sees. Soweit meine Erinnerung reicht, hat mich die Hässlichkeit seiner Straßen immer bedrückt. Ich sage es ohne Snobismus, denn diese Hässlichkeit, davon bin ich überzeugt, ist nicht relativ. Nicht weil ich eindeutig schönere gesehen habe, finde ich die Straßen hier so hässlich. Die Straßen Lausannes und besonders die im Zentrum besitzen eine ihnen eigene, ich würde sogar sagen, eine objektive Hässlichkeit. Die Verkettung katastrophaler architektonischer und städtebaulicher Entscheidungen seit den 70er Jahren verband sich über lange Zeit mit einer bemerkenswert dürftigen Geschäftslandschaft und ließ ein scheußliches und in seiner Abwesenheit von Eleganz offenbar unrettbares Stadtzentrum entstehen. Was noch nicht heißen will, dass das Ganze ohne Charme sei. Aber ich habe beim Gehen durch die Straßen eine Verdrießlichkeit entwickelt, eine Niedergeschlagenheit, wie nur gebaute Umgebungen sie hervorrufen können: Sie wirken so endgültig und nicht wiedergutzumachen. Ich habe immer gedacht, Lausanne sei zu klein für mich. Kam ich von einer Reise zurück, sprang seine Hässlichkeit mich an. Diese Stadt, die ich liebe, die ich vielen anderen vorziehe, erschien mir im Weltmaßstab nur noch voller Unmöglichkeiten und geistiger Enge. So, als schlüge sich das Duckmäusertum, das ich diesem Teil der Schweiz im Allgemeinen vorwerfe, in der Bebauung nieder und spiegelte sich in den Schaufenstern. Armselige Innenstadt, armselige Fußgängerzone, armseliger Marktplatz, die nichts zu bieten haben als verstaubte Café-Restaurants und fantasielose Geschäfte. Vor bald zehn Jahren begann ich in Lausanne ein irritierendes Phänomen zu beobachten: Alle leer stehenden Ladenräume verwandelten sich früher oder später in Schuhläden. Ein Betrieb machte zu – egal was, Metzgerei, Schokoladengeschäft, Modeboutique, Geschenkartikel- und Souvenirladen, Eisenwarenhandlung, Buchhandlung, Handarbeitsgeschäft, Hifi- oder Handy-Shop, Deko-, Firlefanz- oder Billigladen, was weiß ich –, und innerhalb eines Jahres eröffnete dort ein Schuhladen. Selbst die Schuhläden wurden durch Schuhläden ersetzt. Ohne Ausnahme Geschäfte des mittleren Preissegments, die in belanglosem Rahmen qualitätslose Schuhe anboten. Manchmal handelte es sich um Filialen bekannter Ketten, die man auch in allen anderen Städten des Landes, wenn nicht des Kontinents fand. Aber oft waren es unabhängige Läden von der Sorte, die nur eine oder zwei italienische Damen reifen Alters beschäftigt und eine Auswahl von Schuhen mit halbhohem Absatz aus chinesischer Produktion feilhält. Ich stellte mir vor, diese seltsame Veränderung des Stadtbilds zu untersuchen. Bei der Gewerbepolizei und den Immobilienverwaltungen anzurufen, in der Fußgängerzone von Haus zu Haus zu gehen, die Nachbarschaft zu befragen. Nicht um zu verstehen, warum die anderen Geschäfte aufgaben, sondern um zu verstehen, aufgrund welcher systemischen Anomalie oder Anomalien die Schuhläden sich so vermehrten, ohne anscheinend zu florieren, denn auch sie verschwanden schließlich wieder. Soweit ich weiß, bietet der Handel mit Schuhen mittlerer Preisklasse keine großartigen Gewinnspannen. Die Branche ist vom Wirtschaftsklima sehr abhängig. In Krisenzeiten gehen die Käufe typischerweise zurück zugunsten eher punktueller Ausgaben im Hochpreisbereich. Wenn das Geld rar wird, ist ein teures Paar guter, haltbarer klassischer Schuhe offenbar mehr wert als mehrere modische Wegwerfpaare für eine Saison. Aus konjunktureller Sicht war eine solche Vermehrung also vollkommen widersinnig. Sie ließ sich nur durch eine lokale Eigentümlichkeit, eine einheimische Abweichung von den Marktgesetzen erklären. Etwas in der hiesigen wirtschaftlichen Realität begünstigte die Zunahme von Schuhläden. Ich stellte mehrere Hypothesen auf. Die erste besagte, dass diese Läden weniger dazu bestimmt waren, Schuhe zu verkaufen, als die Gelder aus schattenwirtschaftlichen Aktivitäten zu waschen. Der kleine Einzelhandel ist bekanntlich die einfachste Art, schmutziges Geld in Umlauf zu bringen. Wer wird prüfen, ob die von einem Schuhladenbesitzer auf sein Bankkonto eingezahlten Beträge tatsächlich vom Schuhverkauf stammen? Meine zweite Hypothese war, dass Hausverwalter bei gleicher Miethöhe grundsätzlich die Eröffnung eines Schuhladens bevorzugten, was die Alternativen auch immer sein mochten. Weil eine solche Nutzung vielleicht nur wenig Umgestaltung notwendig machte, konnten sie damit rechnen, dass eine spätere Neuvermietung einfacher und kostengünstiger sein würde. Die dritte lautete, dass die zahllosen Bestimmungen, Hygienevorschriften und andere Handelsbetriebe betreffende Verordnungen jedes Unternehmen abschreckten, das nicht die Absicht hatte, Schuhe zu verkaufen. Der belgische Besitzer einer Boutique in der Altstadt berichtete mir ausführlich von seinem Verdruss und seiner Frustration über die Gewerbeaufsicht und ihr kastrierendes Vorgehen, das ihn täglich von Neuem überrascht habe. Nach fünf Jahren ermüdenden Kampfes war seine Boutique, für die er innovative und durchgehend nicht mit den Vorschriften zu vereinbarende Gestaltungsideen gehabt hatte, von einem Schuhladen abgelöst worden. Schließlich die vierte Hypothese: Lausanne ist weltberühmt für die spektakulären Höhenunterschiede seiner Topografie auf drei Hügeln. Die Erklärung wäre dann schlicht eine mechanische: Auf seinem Pflaster gehen Schuhe schneller kaputt als anderswo. Dies war von den vier Hypothesen die einfachste und zugleich die unrealistischste. Aber da sie als einzige auf einer eventuellen Nachfrage beruhte, verdiente sie es, in Betracht gezogen zu werden, und sei es nur der Form halber. Zusammen oder einzeln hätten diese vier Optionen wahrscheinlich erlaubt, das Geheimnis der Ausbreitung zu lüften. Aber die Idee zu dieser Untersuchung hat in einem Winkel meines Gehirns Staub angesetzt. Wie viele andere auf bessere Tage verschobene Pläne hat sie sich irgendwann in meinem Körper aufgelöst, ich habe sie verstoffwechselt, verdaut, assimiliert, bis ich mir schließlich einbildete, sie umgesetzt zu haben. Das ist das Privileg der Unentschlossenen, diese Fähigkeit zu glauben, zwischen dem Hervorbringen einer Idee und ihrer Realisierung liege ein so kleiner, im Grunde so vernachlässigbarer Schritt, dass es vollkommen unnötig sei, ihn zu tun. Und dann haben sich mit der Zeit die Dinge in Lausanne verändert. Einerseits hat eine gewisse Gentrifizierung vereinzelt eine neue Art unabhängiger und mutiger, auf eine bestimmte Klientel abzielender Händler hervorgebracht. Andererseits ist eine große Zahl pleitegegangener Schuhläden durch Immobilienmakler oder Filialen bzw. Franchisenehmer von Weltmarken ersetzt worden. Hier wie anderswo sind sie die Einzigen, die überhaupt auf Dauer die Mieten in den Einkaufsmeilen der Innenstädte bezahlen können und wollen. Innerhalb von 30 Jahren hat Lausanne seine einzigartige Hässlichkeit gegen eine globale Hässlichkeit eingetauscht, die aus ihm jetzt den Klon der Stadt von nebenan und aller anderen Städte dieser Größe macht. Lausanne, gestern zu klein für mich, ist nun für meinen Geschmack zu global geworden. Ich staune immer wieder über den Fatalismus, mit dem die Leute es hinnehmen, in derartiger Hässlichkeit zu leben. Es ist, als beträfe diese tägliche Qual, diese deprimierende, ätzende Aggression, die vom Körper zugleich passiven und permanenten Widerstand fordert, in Wirklichkeit bloß eine Handvoll müßiger und empfindlicher Ästheten, die ja nur umzuziehen brauchten, denn im Allgemeinen gehören sie auch der Klasse der Reichen an. Sollen sie sich doch Architektenvillen am Stadtrand bauen, sollen sie sich doch ein Loft in einem angesagten Viertel kaufen und aufhören, uns mit diesen Luxusklagen in den Ohren zu liegen! Das Volk hat weder die Zeit noch das Geld, sich mit gutem Geschmack zu beschäftigen. Nun spreche ich aber nicht von gutem oder schlechtem Geschmack. Ich spreche von der Hässlichkeit, wie sie sich auf Flaniermeilen oder Plätzen darbietet, wenn dort nur noch Markenläden, Modeketten und Supermarktfilialen anzutreffen sind. Von diesen einheitlich knalligen Schaufenstern, über denen die immerselben Markennamen prangen und die die Erdgeschossfront stillos und geistlos erbauter oder renovierter Gebäude einnehmen. Von diesem kriminellen Mangel an Vision oder Originalität, der weniger clevere Unternehmer veranlasst, mit einfältigem Optimismus ständig neue Franchiseläden zu eröffnen, über die sich nur die Hausverwaltungen freuen. Wenn es bloß eine Geschmacksfrage wäre! Aber die mittelmäßigen Unternehmer des Einzelhandels sind, genauso wie die Omnipräsenz der Weltmarken, nur ein Symptom. Sie zeugen vom Zustand eines Systems, einer Kette von Verantwortungslosigkeiten, einer Summierung von Eigennutz, Feigheit, Vernachlässigung und tiefer Gleichgültigkeit. Ich spreche von den...