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E-Book, Deutsch, 120 Seiten
Reihe: Reclams Universal-Bibliothek
Reclam Bildung und Unterricht
E-Book, Deutsch, 120 Seiten
Reihe: Reclams Universal-Bibliothek
ISBN: 978-3-15-962405-1
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Friederike Carlotta Grabowski ist Diplom-Psychologin am Institut für Sonderpädagogik an der Europa-Universität Flensburg. Franziska Greiner-Döchert ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Bildungswissenschaften der Universität Leipzig (Arbeitsbereich Pädagogische Psychologie mit dem Schwerpunkt Lehren, Lernen und Entwicklung).
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2.3 Trennungsangst
Trennungsangst beschreibt eine übermäßige, entwicklungsuntypische Angst vor der Trennung von Elternteilen oder anderen Bezugspersonen. Hierbei können nicht nur Trennungssituationen, sondern auch die Erwartung dieser [24]Situationen Angstsymptome verursachen. Im Fokus steht die Angst vor einer dauerhaften Trennung von der Bezugsperson, weil dieser oder einem selbst etwas zustößt. Nicht jede Form von Trennungsangst ist eine psychische Störung – vor allem bei jüngeren Kindern kann vorübergehende Trennungsangst als eine normale Entwicklungsphase angesehen werden (»Fremdeln«). Klinisch bedeutsam und behandlungsbedürftig wird die Trennungsangst jedoch, wenn sie über das Vorschulalter hinaus bestehen bleibt oder besonders intensiv auftritt. Sie ist oft erkennbar in Übergangssituationen wie dem Beginn der Kindergarten- oder Schulzeit. Im Alltag können Trennungsängste stark beeinträchtigend sein, da betroffene Kinder versuchen, Trennungen von ihrer Bezugsperson zu vermeiden, oder diese nur mit intensiver Angst durchstehen. Typische angstbesetzte Situationen umfassen dabei den Besuch von Kindergarten und Schule, das Übernachten außerhalb (z. B. bei Klassenfahrten) und das Alleinsein zu Hause. Trennungssituationen, wie beispielsweise beim Abgeben in der Schule, können dabei dramatisch verlaufen (z. B. Schreien, langanhaltendes Weinen, Anklammern an Bezugsperson). Der Schulbesuch kann bei einer ausgeprägten Trennungsangst schwierig bis unmöglich werden. Auch der außerschulische Alltag kann stark beeinträchtigt sein, z. B. wenn keine Hobbys mehr ausgeübt oder keine Verabredungen wahrgenommen werden können, bei denen die Bezugsperson nicht dabei ist. In Tabelle 1 werden beispielhaft verschiedene schulische Szenarien, damit verbundene Angstsymptome sowie mögliches problematisches Verhalten bei Kindern und Jugendlichen mit Trennungsangst aufgeführt. Situation Körperliche und verhaltensbezogene Symptome Gedanken (Beispiele) Mögliches dysfunktionales Verhalten Schulbesuch Beim Abgeben zittern, weinen und an Mutter anklammern »Wenn ich nicht bei Mama bin, wird ihr etwas Schlimmes passieren.« Schultag abbrechen und nach Hause gehen, Schule gar nicht besuchen Alleine zur Schule gehen Übelkeit, bei Verabschiedung schreien, um sich schlagen »Ich werde entführt, wenn ich alleine bin.« Schulweg nur in Begleitung antreten Klassenfahrt Schlafprobleme vor der Klassenfahrt, Kopfschmerzen »Mama und Papa könnten einen Unfall haben, wenn ich nicht da bin.« Keine Teilnahme an der Klassenfahrt Tabelle 1: Beispiele für schulische Situationen, Angstsymptome und mögliches dysfunktionales Verhalten bei Trennungsangst Symptome
Alle Formen der Angststörung sind mit körperlichen, kognitiven und verhaltensbezogenen Symptomen verbunden, welche individuell unterschiedlich auftreten können. Bei (erwarteten) Trennungssituationen können körperliche Beschwerden ohne organische Ursache wie Übelkeit, Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Herzklopfen und Schwindel im Vordergrund stehen. Auch Schlafstörungen treten häufig auf – betroffene Kinder und Jugendliche können schlecht [26]ein- und durchschlafen und haben Albträume. Auf der kognitiven Ebene treten oft katastrophisierende Angstgedanken auf, in Form von Sorgen und Besorgnis darüber, dass der Bezugsperson oder einem selbst etwas zustoßen und eine dauerhafte Trennung eintreten könnte (z. B. Unfall, Entführung, Naturkatastrophe). Im Verhalten äußern sich Trennungsängste vor allem durch Vermeidungsverhalten, d. h., die Betroffenen versuchen, jeglicher Trennung aus dem Weg zu gehen. Kinder versuchen häufig, möglichst in einem Zimmer mit der Bezugsperson zu sein, folgen ihr überall hin und können nicht alleine einschlafen und/oder schlafen mit der Bezugsperson im Bett. In Trennungssituationen kann es zu Anklammern, Weinen, Schreien, Protestverhalten oder aggressiven Verhaltensweisen wie Um-sich-Schlagen kommen. Nach den internationalen Klassifikationssystemen DSM-5 und ICD-11 kann eine Störung mit Trennungsangst dann diagnostiziert werden, wenn mindestens drei Symptombereiche vorliegen, mindestens vier Wochen anhalten und zu Beeinträchtigungen im Alltag und Leid führen (APA, 2015; WHO, 2019). Häufigkeit und Verlauf
Trennungsängste können in jedem Lebensalter auftreten, kommen jedoch bei Kindern am häufigsten vor und nehmen mit steigendem Alter ab. Die Lebenszeitprävalenz liegt bei knapp 5 % (Silove et al., 2015). Die 12-Monats-Prävalenz liegt bei Kindern bei ca. 4 % und bei Jugendlichen bei ca. 1–2 % mit einem durchschnittlichen Onset von 7 Jahren (Beesdo-Baum & Knappe, 2021). Infokasten: Begriffe Lebenszeitprävalenz: die Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens zu erkranken 12-Monatsprävalenz: wie viele Personen innerhalb von 12 Monaten erkranken Onset: Alter, in dem psychische Störung erstmals auftritt [27]Mädchen sind dabei von Trennungsangst und subklinischen Symptomen häufiger betroffen als Jungen. Trennungsängste treten sehr häufig gleichzeitig mit anderen psychischen Störungen auf – am häufigsten zusammen mit Depressionen, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen und Störungen mit oppositionellem und trotzigem Verhalten. Dabei zeigt sich bei Kindern mit Trennungsangst oftmals ein ungünstiger Entwicklungsverlauf, da frühe Trennungsängste einen bedeutsamen Risikofaktor für die Entwicklung anderer psychischer Störungen wie anderer Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen, Substanzmissbrauch oder Panikattacken im Erwachsenenalter darstellen. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass Kinder mit Trennungsangst durch die Angstsymptome daran gehindert werden, Fähigkeiten zum Umgang mit Ängsten und anderen starken Emotionen zu entwickeln, was die Entwicklung der Betroffenen über das Kindesalter hinaus beeinträchtigen kann (Flasinski et al., 2023). Unbehandelt kann diese Angst über mehrere Jahre bestehen und somit chronisch werden. Ist die Trennungsangststörung schwer ausgeprägt (d. h. viele Diagnosekriterien erfüllt und der Alltag deutlich eingeschränkt) und geht die Trennungsangst einher mit depressiver Symptomatik, ist das Risiko für suizidales Verhalten erhöht, welches die [28]Bedeutsamkeit frühzeitigen Handelns unterstreicht (Beesdo-Baum & Knappe, 2021; Pini et al., 2021). Entstehungsbedingungen
Es wird davon ausgegangen, dass eine Interaktion von biologischen und umweltbezogenen Faktoren zur Entwicklung einer Trennungsangst beiträgt. So treten Trennungsängste familiär gehäuft auf. Auch negative Erlebnisse, welche mit Trennungserfahrungen einhergehen, wie zum Beispiel die Scheidung der Eltern oder der Tod einer Bezugsperson, können Trennungsängste auslösen. Ebenso können familiäre Veränderungen wie die Geburt eines Geschwisterkindes einer Trennungsangst vorausgehen. Es gibt Forschungsbefunde dazu, dass das Modelllernen von Bezugspersonen in der Familie bedeutsam sein kann – so entwickeln Kinder häufiger eine Trennungsangst, wenn ihre Bezugspersonen sich ihnen gegenüber (trennungs-)ängstlich verhalten (Beesdo-Baum & Knappe, 2021). Zudem steht ein überprotektiver Erziehungsstil mit Trennungsangst in Verbindung. Infokasten: Überprotektiver Erziehungsstil Ein überprotektiver Erziehungsstil zeichnet sich dadurch aus, dass Eltern ihre Kinder übermäßig behüten, ihnen wenig Eigenverantwortung und Selbstständigkeit zugestehen und durchgängig versuchen, sie vor möglichen Gefahren, Fehlern oder Misserfolgen zu bewahren. Dies kann sich zeigen durch: übermäßige Kontrolle: Entscheidungen werden für das Kind getroffen, ohne die Meinung oder Wünsche des Kindes einzubeziehen, und alle kindlichen Aktivitäten werden überwacht. Vermeidung von Risiken: Kinder werden – auch von altersangemessenen – Risiken und Herausforderungen abgehalten. übermäßige Fürsorge: Eltern übernehmen Aufgaben des Kindes, die es selbst erledigen könnte, aus Sorge, dass das Kind diese nicht schafft. [29]Trennungsängste manifestieren sich...