Greenwell | Reinheit | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Greenwell Reinheit

»Der Großteil der amerikanischen Literatur wirkt dagegen wie kastriert.« - Sheila Heti | Übersetzt von Daniel Schreiber
22001. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8437-2704-4
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

»Der Großteil der amerikanischen Literatur wirkt dagegen wie kastriert.« - Sheila Heti | Übersetzt von Daniel Schreiber

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-8437-2704-4
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Ich wollte hundert Prozent Pornographie und hundert Prozent hohe Kunst schaffen.« Garth Greenwell Nach dem Treffen mit einem Mann, dessen Spuren er noch lange auf seiner Haut tragen wird, läuft ein junger Lehrer durch die nächtliche Stadt, die ihm in den vergangenen Jahren ein Zuhause geworden ist, und schwört sich, dass dies das letzte Mal war. Doch er kennt sein Begehren, und noch während er den Vorsatz fasst, weiß er, dass er zurückkehren wird - vielleicht nicht zu diesem Mann, doch zu einem wie ihm. Die Stadt, Sofia, vibriert vor Hoffnung und Unruhe; der Lehrer, ein Amerikaner, wird sie bald verlassen. In den Wochen vor seiner Abreise spürt er den Beziehungen zu denen nach, die ihn geprägt haben, und die er seinerseits geprägt hat: Schüler, Geliebte, die wenigen Freunde. In schmerzlich klarer, ergreifend schöner Prosa erzählt Garth Greenwell davon, wie wir nach Verbindung streben: zu den Menschen, die wir lieben. Zu den Orten, die wir bewohnen. Und zu uns selbst.

Garth Greenwell ist Schriftsteller und lebt in Iowa City. Sein gefeiertes Romandebüt Was zu dir gehört gewann 2016 den British Book Award und stand auf der Longlist für den National Book Award. Greenwells literarische Arbeiten sowie Kritiken erscheinen regelmäßig im New Yorker, der New York Times Book Review, der Paris Review und der London Review of Books. Sein zweiter Roman Reinheit erschienen 2022 auf Deutsch, nun folgt mit Sanfter Regen der lang erwartete dritte Roman des Autors.
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mentor


Wir hatten uns beim Springbrunnen vor dem McDonald’s auf dem Slavejkov-Platz verabredet. Meinem amerikanischen Zeitgefühl nach kam G. zu spät, und ich überbrückte die Zeit an den Bücherständen vor der Stadtbibliothek, für die der Platz berühmt ist, die Waren aufgetürmt unter Markisen. Der Springbrunnen war eigentlich schon lange keiner mehr, seit Jahren war er abgedeckt, da eine kaputte Elektroleitung eines Sommers das Herz eines Mannes zum Stehen gebracht hatte, als er seine Finger ins kühle Wasser getaucht hatte. Es war Dezember, aber der Winter hatte sich noch nicht durchgesetzt, die Sonne schien, es herrschten milde Temperaturen, und es war nicht unangenehm, ein bisschen herumzustehen und die angebotenen Bücher zu überfliegen. G. hatte meine Aufmerksamkeit schon zu Beginn des Jahres erregt, zunächst einfach aufgrund seiner Schönheit, dann wegen der besonderen Freundschaft, die ihn und einen anderen Jungen in meiner Klasse zu verbinden schien, wegen der Intensität, mit der G. seine Nähe suchte und um sie beide eine Sphäre der Vertrautheit schuf. Sie kam mir bekannt vor, diese Intensität, aus meiner eigenen Jugend, ebenso wie die genussvolle Ambivalenz, mit der der andere Junge sie empfing, die Art, wie er sie einforderte und zugleich von sich fernhielt. Ich glaubte also, in etwa zu wissen, worüber wir heute reden würden und warum die Schule dafür nicht genug Privatsphäre bot, trotzdem war ich neugierig: Er war kein Schüler, der mir besonders nahestand, er hatte nach den Kursen nie in meinem Büro vorbeigeschaut, hatte sich mir nie anvertraut oder war überhaupt irgendwie an mich herangetreten, und ich fragte mich, welche Krise ihn nun zu mir brachte.

Ich begann mich über die Buchhändler zu ärgern. Sie merkten, dass ich nicht von hier war, und wiesen mich immer wieder zu den Stapeln mit schäbigen amerikanischen Taschenbüchern, und da von G. immer noch weit und breit keine Spur war, fragte ich mich, ob ich ihm den Nachmittag umsonst geopfert hatte. Doch dann tauchte er auf, stand plötzlich neben mir, und bei seinem Anblick verflog mein Ärger. Hier fiel er auf in seiner leicht förmlichen Kleidung, mit seinem fedrigen Haar, doch in den Staaten wäre seine Erscheinung fast typisch gewesen, um ihn wie einen Anwärter für eine Privatschule an der Ostküste aussehen zu lassen, vielleicht nicht ganz, besonders dann nicht, wenn er zu breit lächelte (was er aus Vorsicht fast nie tat) und das unamerikanische Durcheinander seiner Unterzähne entblößte. Seine Begrüßung war freundlich, allerdings strahlte er wie sonst auch eine gewisse Zurückhaltung aus, wirkte, als würde er noch entscheiden, ob er das Urteil, das er gerade fällte, auch aussprechen sollte. Er fragte mich, wohin wir gehen sollten, verwarf dann aber alle meine Vorschläge, wollte mir eines seiner Lieblingslokale zeigen, und dann machten wir uns auf den Weg. Er ging mir voran, nicht neben mir, was eine Unterhaltung unterband und den Eindruck erweckte, er wäre jeden Moment bereit, jede Verbindung zu mir zu leugnen. Ich war alles andere als neu hier, ich hatte schon zwei Jahre lang in Sofia gelebt, aber meine Ortskenntnis war rudimentär geblieben, und obwohl das Stadtzentrum nicht groß ist und wir uns nicht weit vom Slavejkov-Platz und der Graf-Ignatiev-Straße entfernt hatten, der Gegend, die ich am besten kannte, wusste ich bald nicht mehr, wo wir waren. Meine mangelhafte Orientierung war nicht der Tatsache geschuldet, dass ich mich nicht bemüht hätte: Nach meiner Ankunft war ich monatelang, wann immer es mir möglich war, morgens ins Zentrum gefahren, um, während die Stadt erwachte, die Straßen entlangzulaufen. Sobald ich nach Hause kam, trug ich die Strecke auf einem Stadtplan ein, den ich an die Wand geheftet hatte. Doch selbst wenn ich dieselben Straßen kurze Zeit später entlangging, waren sie mir völlig unvertraut; es war mir unmöglich nachzuvollziehen, wie sie miteinander verbunden waren, und nur einzelne Details (eine alte Schnitzerei am Gesims, die seltsame Farbe einer Hauswand) erinnerten mich daran, dass ich schon einmal hier gewesen war. Während ich G. folgte, hatte ich wie immer, wenn ich in Begleitung von jemandem unterwegs war, der aus Sofia kam, das Gefühl, die Stadt öffnete sich mir; der blanke monolithische Beton der Wohnblöcke im Sowjetstil wurde von unerwarteten Hinterhöfen und Cafés und Wegen durch kleine überwucherte Parks abgelöst. Orte, an denen es ruhiger und weniger überlaufen als auf den Boulevards war und wo G. sein Tempo drosselte, mir erlaubte, aufzuholen und an seiner Seite zu gehen, Orte, an denen unser Spaziergang einen geselligeren Charakter annahm, auch wenn wir immer noch nicht miteinander redeten.

In einem dieser Hinterhöfe oder kleinen Parks war auch G.s Restaurant versteckt. Es befand sich in einem Kellergeschoss, und während wir uns der Tür näherten, die uns nach unten führte, fiel mir das Schaufenster eines benachbarten Antiquariats auf, das mit Ikonen vollgestellt war – Kyrill und Method, eine glückselige Maria, auf dem Rücken eines Pferdes ein heiliger Georg, der seinen Speer in den Rachen eines Drachen stößt –, aber auch Nazi-Devotionalien, Uhren und Brieftaschen und Flachmänner, alle versehen mit dem Zeichen jenes Kreuzes mit den Haken. In den Antiquitätenläden und Märkten hier waren sie keine Seltenheit, Souvenirs für Touristen und junge Männer, die sich nach einer Zeit sehnten, in der sie, wie sie glaubten, unter denen gewesen wären, die wirklich Macht hatten, ungeachtet der katastrophalen Folgen. Wir stiegen eine Treppe hinunter und betraten einen offenen Raum, der größer war, als ich erwartet hatte, mit Sitznischen an den Wänden und einem Tresen weiter hinten, an dem es abends wahrscheinlich von Studenten wimmelte. Aus einer Reihe kleiner Fenster an der oberen Seite einer Wand fiel Tageslicht in den Raum, ihr Glas war aber so trübe, so verschmutzt von Zigarettenrauch, dass das Licht merkwürdig gedämpft wirkte, als wäre es in Tee getunkt. G. zeigte auf eine der Sitznischen, von denen die meisten leer waren, und wir setzten uns.

G. legte seine Zigaretten auf den Tisch und klopfte mit den Fingerspitzen leicht auf die Schachtel. Ich begriff, dass er auf meine Einwilligung wartete und er sich, obwohl fast alle im Restaurant schon rauchten, ihnen nicht anschließen würde, bevor ich nicht meine Zustimmung signalisierte. Ich lächelte oder nickte ihm zu, er schnappte sich eine Zigarette, lächelte zurück, als wollte er sich für seine Gier entschuldigen, und die Kanten seines Gesichts wurden weicher, als er den ersten langen Zug nahm. Nun unterhielten wir uns ein wenig, tauschten vor allem kleine Höflichkeitsfloskeln aus, dann die unvermeidlichen Fragen zum Studium. Die Schülerinnen und Schüler hatten ihre Bewerbungen abgeschickt und warteten auf eine Antwort, und obwohl wir es alle satthatten, darüber zu reden, kehrten wir immer wieder zu dem Thema zurück. Alles gut, sagte er, alles gut, ich warte ab, und er sagte, die meisten der Unis, bei denen er sich beworben habe, lägen in den Staaten, auch wenn viele Schüler hier sich inzwischen in der EU bewarben, wo die Studiengebühren niedriger und die Chancen, nach dem Abschluss im Land bleiben zu dürfen, höher seien. Doch unsere Unterhaltung glich einem ausgewrungenen Stück Stoff, und bald saßen wir einander schweigend gegenüber. Also kam ich auf Lyrik zu sprechen, vor Kurzem hatten wir einige amerikanische Dichterinnen und Dichter der Jahrhundertmitte durchgenommen, und G.s eigene, als Erwiderung darauf verfasste Gedichte hatten mich wirklich überrascht, sie waren flüssig und witzig und ließen eine unvermutete Tiefe erkennen, die ich in seiner sonstigen Arbeit nicht wahrgenommen hatte. Eines seiner Gedichte hatte mich besonders beeindruckt, alltagssatt und voller Beschreibungen unserer Schule, seiner Mitschülerinnen und Lehrer, durchdrungen von dem Gefühl, in der von ihm beschriebenen Welt gäbe es keinen Ort, an dem er sich zu Hause fühlen könnte. Es wirkte wie eine Art Einladung auf mich, und ich ahnte, dass meine begeisterte und ermutigende Reaktion auf das Gedicht für ihn umgekehrt eine Einladung zu diesem Treffen dargestellt hatte.

Er zog ein paar Seiten aus seiner Tasche, schob sie mir über den Tisch zu und sagte, Hier, ich habe noch einmal an ihnen gearbeitet. Ich war enttäuscht, als ich das schwächste Gedicht, das er abgegeben hatte, ganz oben liegen sah, eine generische Hymne auf das Ideal des Weiblichen, voller übertriebener Huldigungen und großgeschriebener Fürwörter. Es war derselbe Entwurf, den ich schon einmal gelesen hatte, die Seite war mit meinen Korrekturen und Hinweisen versehen, voll jener Ratschläge, zu denen ich mich selbst dann verpflichtet fühlte, wenn die Arbeit der Schülerinnen und Schüler wenig versprach. Sie haben so viele Fehler berichtigt, sagte er, aber den gravierendsten nicht. Ich senkte meinen Blick auf die Seite und schaute dann wieder hoch, verwirrt; Ich weiß nicht, was Sie meinen, sagte ich, was habe ich übersehen? Er lehnte sich über den Tisch, streckte seine Arme so weit nach dem Gedicht aus, dass sein Oberkörper auf dem lackierten Holz ruhte, eine eigentümlich teenagerhafte Geste, fand ich, ich wusste, dass sie auch mir vor Jahren eigen gewesen war, es war schon lange her, und dann...


Greenwell, Garth
Garth Greenwell ist Schriftsteller und lebt in Iowa City. Sein gefeiertes Romandebüt Was zu dir gehört gewann 2016 den British Book Award und stand auf der Longlist für den National Book Award. Greenwells literarische Arbeiten sowie Kritiken erscheinen regelmäßig im New Yorker, der New York Times Book Review, der Paris Review und der London Review of Books. Cleanness ist sein zweiter Roman.

Schreiber, Daniel
Daniel Schreiber, geboren 1977, ist Autor der Susan-Sontag-Biografie Geist und Glamour (2007), seine persönlichen Essays Nüchtern (2014) und Zuhause (2017) wurden von der Kritik begeistert aufgenommen. Sein hochgelobter Essay Allein (2021) wurde zum Bestseller. Er lebt in Berlin, wo er schreibt und übersetzt.



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