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E-Book, Deutsch, 848 Seiten

Green Die Sterne des Südens

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-446-25531-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 848 Seiten

ISBN: 978-3-446-25531-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der amerikanische Süden am Vorabend des Sezessionskrieges. 1861 bricht der Krieg aus. Im Mittelpunkt: Elizabeth, die schöne Engländerin, verwitwet und Mutter eines kleinen Jungen. Sie heiratet wieder, den stürmischen Billy, einen schneidigen Offizier, dessen mangelnde Sensibilität ihre alte romantische Sehnsucht jedoch bald wiederaufleben läßt. Wie viele ihrer Schicksalsgenossinnen kann sie das Leben nur ertragen, indem sie Zuflucht zu Schlaf- und Beruhigungsmitteln nimmt. Und auch die erlesenen Zerstreuungen dieser noblen Gesellschaft wirken wie eine Droge: die Droge des Vergessens.

Julien Green wurde 1900 als Sohn einer amerikanischen Familie in Paris geboren, wo er 1998 starb. Bei Hanser erschien das erzählerische Werk, zuletzt in der Neuübersetzung von Elisabeth Edl: Adrienne Mesurat (Roman, 2000), Fremdling auf Erden (Erzählungen, 2006), die Erinnerungen an seine Kindheit Erinnerungen an glückliche Tage (2008) und sein letzter Roman Der Unbekannte (2011).
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1

Der kleine Junge hockte auf allen Vieren zu Füßen seiner Mutter und tat, als pflückte er die Rosen vom Perserteppich. Wie er ganz leise einem unsichtbaren Gefährten erklärte, stellte er einen Strauß für die Person zusammen, die er am meisten auf der Welt liebte. Seine winzigen Finger, die mehr lebendigen Blumen glichen als die Blüten des farbigen Wollgartens, zeigten auf eine Rose, dann auf eine andere, dann hielten sie inne, um die schönsten auszuwählen.

Elizabeth bewachte ihn aus dem Augenwinkel, aber seit einem Augenblick richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes, auf die Tür des Salons. Eine Frau stand in zögernder Haltung auf der Schwelle des grün-goldenen Zimmers.

»Was ist«, sagte Elizabeth, »wollen Sie noch lange dort stehen und uns ansehen, ohne ein Wort zu sagen? Worauf warten Sie, Miss Llewelyn? Treten Sie doch ein und setzen Sie sich.«

Die Waliserin in ihrem grauen Kleid trug einen kleinen schwarzen Strohhut mit flacher Krempe, der ihr das trügerische Aussehen bürgerlicher Ehrbarkeit verlieh.

Sie trat ein und setzte sich auf den Rand eines Sessels.

»Ich verstehe«, sagte sie, »daß mein Besuch eine Überraschung für Sie ist … doch wohl keine freudige Überraschung, wie ich vermute.«

Einen Moment lang schien sie auf einen Protest zu hoffen, der jedoch nicht kam.

In den Augen Elizabeths tauchte sie wie eine Erscheinung aus der Vergangenheit auf, der eine Kugel ins Herz ein Ende gesetzt hatte … Die Besucherin schien sich dessen nicht bewußt zu sein.

»Nach mehr als vier langen Jahren des Schweigens …«, seufzte sie.

Ihre meergrünen Augen hefteten sich auf Elizabeths Gesicht, aber diese hielt ihrem Blick ungerührt stand. Die Waliserin fuhr fort:

»Ich habe Worte in meinem Herzen, die mir nicht über die Lippen kommen wollen.«

»Entschuldigen Sie«, sagte die junge Frau, »aber wenn es Ihnen so schwer fällt, sie auszusprechen, wäre es da nicht besser, sie dort zu lassen, wo sie sind, bis zu einem anderen Mal?«

Plötzlich erhob sie sich. Da sie den Blick Miss Llewelyns nicht länger ertrug, ging sie zum Fenster, als wollte sie nach den Spaziergängern sehen. Sie beneidete die Leute, die so frei unter den Bäumen schlendern konnten.

Beunruhigt richtete sich der kleine Junge vor ihr auf und zupfte sie am Rocksaum.

»Mamma«, sagte er.

»Laß mich, mein Liebes«, murmelte Elizabeth. »Ich spreche gerade mit dieser Dame.«

»Ich hab dich lieb«, sagte er.

Sie streichelte den Kopf des Kindes, wandte sich dann Miss Llewelyn zu und versuchte zu lächeln.

»Ich habe das nicht gesagt, um Sie zu verletzen«, sagte sie hastig. »Erzählen Sie mir lieber, was es Neues in Dimwood gibt, ich bin in all den Jahren nicht mehr dort gewesen. Mr. Charles Jones erwähnt es mir gegenüber fast nie. Offenbar will er es nicht.«

Der natürliche Ton, den sie absichtlich in ihre Worte legte, gab ihr die Ruhe zurück und ließ ihr die Gegenwart dieser in unerträgliche Erinnerungen gehüllten Frau weniger bedrohlich erscheinen.

Miss Llewelyn seufzte:

»Mr. Hargrove ist zu niemandem mehr wie früher, aber Dimwood hat sich nicht verändert. In Dimwood regt sich nichts. Miss Minnie hat geheiratet und lebt jetzt in New Orleans. Sie erinnern sich vielleicht, daß sie mit einem Herrn aus Louisiana verlobt war, bevor … vor dem Ereignis …«

»Ich weiß«, sagte Elizabeth ungeduldig, »das genügt.«

Sie nahm wieder in ihrem Sessel Platz.

»Schrecklich, schrecklich«, murmelte Miss Llewelyn.

Elizabeth drückte ihren kleinen Sohn an sich. Sie war ganz bleich geworden.

»Und Susanna?« fragte sie.

»Miss Susanna hat erklärt, daß sie nicht heiraten wird. Als man sie fragte, warum, sagte sie, sie habe ihre Gründe. Ich kenne diese Gründe.«

»Wirklich? Und Mildred? Und Hilda?«

»Beide sind mit jungen Offizieren verlobt, aber es schleppt sich hin und schleppt sich hin. Den anderen geht es gut, aber sie langweilen sich. Ja, Sie wären dort willkommen. Man vermißt Sie, man redet von Ihnen. Die Gärten duften stärker denn je. Blumen in Hülle und Fülle bis zum Waldrand.«

Eine Sekunde lang sah Elizabeth sich wieder bei den Magnolien am Fuß der Freitreppe, und sie schloß die Augen. Plötzlich schreckte sie auf, als hätte sie ein Schlag getroffen.

»Aber da ist noch jemand, von dem Sie nicht sprechen«, sagte sie.

»In der Tat, Mr. William Hargrove. Wußten Sie nicht, daß er krank ist?«

»Mr. Jones hat es mir erzählt, aber nur recht ungenau.«

Fast sah es so aus, als leuchtete ein triumphierender Glanz aus allen Falten des Gesichts, das sich ihr aufmerksam zuwandte.

»Vor drei Tagen hat der Arzt Mr. Hargrove gleich nach dem Erwachen eröffnet, daß er nur noch einen Monat zu leben habe.«

»Ach! Und wie hat er es aufgenommen?«

»Es hätte nicht schlimmer sein können. Er brüllte, beklagte sich, daß man ihn nicht richtig gepflegt habe, beschuldigte seinen Arzt der Gewissenlosigkeit und beschloß, sein Testament zu ändern. Mr. Charles Jones hat versucht, ihn zu beruhigen. Nichts zu machen.«

»Ich verstehe, daß es Sie erschüttert hat, Miss Llewelyn.«

»Wenn Sie da gewesen wären, wenn Sie eine Ahnung hätten, was ich gesehen und gehört habe …«

Auf einmal stand sie auf, schien zu wachsen, als ob eine innere Kraft ihr die Ausmaße einer Riesin gegeben hätte, und das Zimmer mit seinen zarten Vergoldungen verdunkelte sich. Das Blut ihrer Rasse sprach plötzlich aus dieser Frau, brach wie eine heftige Eingebung ihres Heimatlandes aus ihr hervor. Sie redete wie eine Seherin, ihr Blick war in die Ferne gerichtet, weit über die junge Engländerin hinaus, die ihr unwillkürlich zuhörte, als sei sie von dem Zauber einer Halluzination gebannt.

Das Kind starrte sie mit strahlenden Augen an, und sein von schwarzen, rötlich schimmernden Locken umrahmtes Gesicht war wie verzückt. Seine ganze Aufmerksamkeit schien in der kleinen Nase konzentriert, die es der Waliserin entgegenstreckte, die wie ein Denkmal vor ihm aufragte.

»Das Dimwood, das Sie gekannt haben, hat sich nicht verändert, denn in Dimwood regt sich nichts, außer in den Köpfen der Bewohner, und welch ein Tumult herrscht da! Erinnern Sie sich an den großen Speisesaal, wo sich alle zu den Mahlzeiten einfanden? Nun stellen Sie sich dort die lange Tafel ohne Tischtuch vor. Ganz am Ende hockt ein abgezehrter Greis auf einem Stuhl, dessen Rückenlehne seinen kahlen Schädel hoch überragt, denn die gräßliche Krankheit, die an ihm zehrt, hat ihm seine letzten weißen Haarsträhnen geraubt, und seine Gestalt ist zu der eines kleinen Jungen zusammengeschrumpft. Jetzt haben Sie Ihre Rache an diesem Mann, der Sie mit seiner Begierde gequält hat. William Hargrove, der gestern noch Herr des Hauses mit den weißen Säulen war, muß heute zusehen, wie es seinen spindeldürren Händen entgleitet.«

Elizabeth schrie auf: »Onkel Charlie hatte mir nicht gesagt, daß es so schlimm um Mr. Hargrove steht. Ich bedaure ihn von ganzem Herzen – trotz allem.«

»Er fürchtet den Tod und will nichts aus den Händen geben«, fuhr die Erzählerin in unnachgiebigem Tonfall fort. »Und all die Leute um ihn herum! Er hat nur noch eine ganz dünne Stimme, aber in die legt er seine ganze Wut, und er diskutiert schnaubend mit den Männern in schwarzen Anzügen, den Anwälten, Notaren und Bankiers. Rechts und links von ihm seine beiden ältesten Söhne. Die Enkelinnen und Schwiegertöchter scharen sich entsetzt am anderen Ende des Saals zusammen. Der Schrecken, den William Hargrove ihnen einflößte, war nur ein instinktives Zurückweichen vor dem Tod, dessen Gegenwart sie fühlten, denn diese Gegenwart herrschte überall, in jedem Winkel des Hauses, und wartete auf seine Stunde. Sie haben Charles Jones erwähnt. Er ist da, in seinem grauen Gehrock steht er direkt neben dem Kranken, und vor ihnen auf dem Tisch liegt zwischen Mengen von Papieren ein offenes Buch, ein in rotes Leinen gebundenes Heft. Und dieses Buch, Mrs. Jones, war ich selbst.«

Mit beiden Händen, zu Klauen gekrümmt, griff sie sich an die Brust, als wollte sie sie zerreißen. Gleich einer Wahnsinnigen flößte sie Elizabeth eine solche Angst ein, daß diese ihren kleinen Sohn an sich preßte.

»Beruhigen Sie sich, Miss Llewelyn«, rief sie ihr zu. »Sie können mir das alles später erzählen.«

Die Waliserin hörte sie nicht einmal:

»Mein Rechnungsbuch!« brüllte sie mit erneuter Wut. »Mehr als eine halbe Stunde wurde es geprüft, Seite für Seite, Zeile für Zeile, wurde auseinandergerupft, und ich stand dabei, schwitzend vor Wut und Empörung, auf die Folter gespannt …«

Elizabeth sprang auf, um die Tür des Salons zu schließen, ließ ihren kleinen Jungen für einen Augenblick allein, und er blieb reglos sitzen, fasziniert von dieser energiegeladenen Person, die er mit offenem Munde ansah, in einer Mischung aus Staunen und Neugier, jedoch ohne Furcht. Seine Mutter kam sogleich zurück und nahm ihn in die Arme.

»Auch sie machten die Tür zu«, spöttelte Miss Llewelyn, »aber das hinderte all die Schwarzen des Hauses nicht daran, am Schlüsselloch zu lauschen, um sich keine Silbe entgehen zu lassen, und ich war froh, sie dort zu wissen. Plötzlich schnitt der Oberbuchhalter dem alten Hargrove das Wort ab, als dieser beharrlich behauptete, das Rechnungsbuch sei nichts wert, beweise nichts, sage nichts über die Erpressungen aus: ›Im Namen meiner Kollegen erkläre ich, daß ich noch nie ein so peinlich genau geführtes Rechnungsbuch gesehen habe. Es ist vorbildlich in seiner Korrektheit.‹ Da brüllte Hargrove, so gut er konnte, denn seine Stimme trug nicht mehr. Man hörte nur ein Krächzen: ›Jahrelang...


Green, Julien
Julien Green wurde 1900 als Sohn einer amerikanischen Familie in Paris geboren, wo er 1998 starb. Bei Hanser erschien das erzählerische Werk, zuletzt in der Neuübersetzung von Elisabeth Edl: Adrienne Mesurat (Roman, 2000), Fremdling auf Erden (Erzählungen, 2006), die Erinnerungen an seine Kindheit Erinnerungen an glückliche Tage (2008) und sein letzter Roman Der Unbekannte (2011).

Der 1900 als Sohn amerikanischer Eltern in Paris geborene Julien Green, der seit seiner Kindheit in Paris lebt, französisch schreibt und Mitglied der Académie Française ist, hatte seit Erscheinen seines ersten Buches, 1926, auch in Deutschland enthusiastische Leser wie Walter Benjamin, Klaus Mann und Hermann Kesten. Seine Bücher sind geprägt von Leidenschaft und Askese, atmosphärisch dichter Beschreibung und psychologischem Scharfblick.



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