E-Book, Deutsch, Band 1, 608 Seiten
Reihe: Die Profilerin
Grebe Wenn das Eis bricht
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-19617-2
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Psychothriller
E-Book, Deutsch, Band 1, 608 Seiten
Reihe: Die Profilerin
ISBN: 978-3-641-19617-2
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Camilla Grebe und Åsa Träff sind Schwestern, aufgewachsen in Älvsjö in der Nähe von Stockholm. Der Roman 'Die Therapeutin' war ihr erstes Gemeinschaftsprojekt, fast zwangsläufig entstanden aus ihrer Liebe zur Kriminalliteratur. Camilla, geboren 1968, lebt in Stockholm mit ihrem Mann, zwei Kindern und einem Dalmatiner. Sie ist studierte Betriebswirtin, hat den Hörbuchverlag 'StorySide' gegründet und betreibt ein Beratungsunternehmen. Åsa, geboren 1970, lebt in Gnesta mit ihrem Mann und zwei Kindern. Sie arbeitet als Psychologin mit dem Schwerpunkt Verhaltenstherapie und betreibt in Stockholm mit drei Kollegen eine Gemeinschaftspraxis, die sich auf Angststörungen und neuropsychologische Störungen spezialisiert hat.
Weitere Infos & Material
Ich stehe im Schnee vor Mamas Grabstein, als das Telefon klingelt. Es ist ein schlichter Grabstein, knapp kniehoch, aus grob zurechtgehauenem Granit. Wir haben eine Weile nachgedacht, meine Mutter und ich. Darüber, wie schwierig es ist, in einer Stadt Polizist zu sein, in der sich niemand für andere interessiert, nur noch für sich selbst. Und vielleicht noch wichtiger: über die Schwierigkeit, Mensch zu sein, in einer solchen Stadt, in einer solchen Zeit.
Ich trete den feuchten Schnee von den Turnschuhen und drehe mich weg. Es kommt mir nicht richtig vor, an einem Grab zu telefonieren. Vor mir breitet sich die wellige Friedhofslandschaft aus. Nebelschwaden liegen zwischen den Tannenwipfeln, unter ihnen ragen die dunklen Baumstämme aus dem Schnee wie Ausrufezeichen, die auf die Vergänglichkeit des Lebens hinweisen. Es tropft aus den Baumkronen und von den Grabsteinen. Überall Schmelzwasser. Es dringt durch meine dünnen Schuhe, es sammelt sich um meine Zehen wie eine feuchte Erinnerung daran, dass ich mir endlich Stiefel kaufen sollte. Weiter vorn auf dem Gelände ahne ich dunkle Gestalten, die sich durch den Wald entfernen. Vielleicht wollen sie Laternen aufstellen. Oder Tannenzweige auslegen.
Bald ist Weihnachten.
Ich mache einige Schritte auf den sorgfältig geräumten Weg zu und werfe einen Blick auf das Display, obwohl ich sowieso schon weiß, wer anruft. Das Gefühl in meinem Zwerchfell ist unverkennbar. Das bohrende, pochende Gefühl, das ich so gut kenne.
Ehe ich antworte, drehe ich mich ein letztes Mal zum Grabstein um. Winke unbeholfen und murmele etwas in der Art, dass ich bald wiederkommen werde. Das ist natürlich unnötig, sie weiß ja, dass ich immer zurückkomme.
Der Nynäsväg liegt schwarz und fast leer da, als ich auf die Stadt zufahre. Nur die roten Rücklichter einiger Autos glitzern vor mir auf der Fahrbahn, zeigen den Weg. Am Straßenrand türmen sich große Haufen aus schmutzigbraunem Schnee vor den niedrigen, deprimierend eintönig gebauten Häusern auf, die die Einfahrt nach Stockholm säumen. Einzelne Weihnachtssterne leuchten hinter den Fenstern, wie ein Flackern in der Nacht. Es schneit jetzt wieder. Ein Gemisch aus Regen und Matsch lagert sich an den Rändern der Windschutzscheibe ab und verwischt die scharfen Umrisse der Umgebung, macht die Landschaft weicher. Das Einzige, was ich höre, ist das Geräusch der arbeitenden Scheibenwischer, das sich mit dem sanften Schnurren des Motors vermählt.
Ein Mord.
Noch ein Mord.
Wenn ich früher, als relativ junger Polizist und frischgebackener Ermittler, an einen Tatort gerufen wurde, fand ich die Nachricht über einen Mord immer überaus anregend. Der Tod war für mich ein Synonym für ein Mysterium, das geklärt werden sollte, aufgerollt wie ein verwickeltes Wollknäuel. Denn alles konnte man klären, aufrollen. Wenn man nur Energie und Ausdauer besaß und zur richtigen Zeit am richtigen Faden zog. Die Wirklichkeit war einfach ein komplexes Gewebe aus solchen Fäden.
Kurz gesagt: Die Wirklichkeit konnte entwirrt werden, geklärt.
Jetzt bin ich mir da nicht mehr sicher. Vielleicht habe ich das Interesse an diesem Gewebe verloren, das Gespür dafür, an welchem Faden ich ziehen muss. Mit der Zeit hat auch der Tod eine andere Bedeutung bekommen. Mama, die im feuchten Boden des Waldfriedhofs schläft. Annika, meine Schwester, die auch hier liegt, ein kleines Stück weiter. Und Papa, der sich an der Sonnenküste nach und nach zu Tode säuft, wird wohl auch bald dort landen. Die Verbrechen, mit denen ich zu tun habe, kommen mir nicht mehr so wichtig vor. Natürlich kann ich dazu beitragen, sie aufzuklären. Kann das Unfassbare – jemand ist ums Leben gebracht worden – in Worte fassen und die Ereignisse beschreiben, die dazu geführt haben. Vielleicht kann ich auch feststellen, wer der Schuldige ist, und bestenfalls dazu beitragen, dass dieser Jemand vor Gericht gestellt wird. Aber die Toten sind doch weiterhin tot, oder?! Inzwischen fällt es mir schwer, den Sinn meiner Tätigkeit zu sehen.
Bei Roslagstull setzt die Dämmerung ein, und mir fällt auf, dass es heute zu keinem Zeitpunkt ganz hell geworden ist. Dass dieser Tag in dem grauen Dezembernebel ebenso unbemerkt vorübergegangen ist wie der gestrige und der davor. Der Verkehr verdichtet sich, als ich auf die E18 nach Norden abbiege. Ich komme an einer Baustelle vorbei, die Löcher in der Fahrbahn lassen den Wagen zittern, der Wunderbaum hüpft bedrohlich vor der Windschutzscheibe auf und ab.
Irgendwo auf Höhe der Universität ruft Manfred an. Erklärt, dass eine verdammte Aufregung herrscht, dass irgendein hohes Tier mit der Sache zu tun hat, und dass es gut wäre, wenn ich verdammt noch mal weniger herumtrödelte, sondern endlich loslegte. Ich schaue aus zusammengekniffenen Augen in die industriegraue Dämmerung, antworte, dass er sich beruhigen solle, die Fahrbahn sei löchrig wie ein Schweizer Käse und ich könnte mir blaue Flecken an den Eiern holen, wenn ich schneller führe.
Manfred lässt sein vertrautes grunzendes Lachen hören, das ein wenig an das Geräusch eines Schweins erinnert. Vielleicht bin ich jetzt ungerecht: Manfred ist ziemlich fett, und vielleicht beeinflusst sein Körperbau mein Bild von seinem Lachen, lässt mich an ein wollüstiges Grunzen denken. Vielleicht klingt sein Lachen auch einfach genauso wie meins.
Vielleicht klingen wir alle genau gleich.
Wir arbeiten seit über zehn Jahren zusammen, Manfred und ich. Jahr für Jahr stehen wir nebeneinander an Obduktionstischen, befragen Zeugen und sprechen mit verzweifelten Angehörigen. Jahr für Jahr nehmen wir Verbrecher fest und machen die Welt zu einem sichereren Ort. Aber tun wir das wirklich? All die Menschen, die in den Kühlfächern der Rechtsmedizin in Solna gelegen haben, sind doch trotzdem tot und werden es auch immer bleiben. Letztlich sind wir nur der Putztrupp der Gesellschaft, der lose Fäden verknotet, wenn das Gewebe gerissen und das Unvorstellbare bereits passiert ist.
Janet sagt, ich sei deprimiert, aber ich höre nicht auf Janet. Außerdem glaube ich nicht an Depressionen. Ich glaube einfach nicht daran. Es ist eher so, dass ich die Bedingungen des Daseins erkannt habe, und das Leben zum ersten Mal nüchtern betrachte. Wenn ich Janet das sage, erwidert sie, es gehöre zum Krankheitsbild, dass der Deprimierte den Blick nicht von seinem eigenen gefühlten Elend heben kann. Ich antworte dann immer, dass Depression die vielleicht einträglichste Erfindung der Arzneimittelbranche ist, und dass ich weder Zeit noch Lust habe, rotzreiche Pharmakonzerne noch reicher werden zu lassen. Und wenn Janet dann weiter über mein Befinden reden will, lege ich auf. Wir sind schließlich seit fünfzehn Jahren nicht mehr zusammen, es gibt keinen Grund dafür, solche Fragen mit ihr zu besprechen. Dass sie zufällig die Mutter meines einzigen Kindes ist, ändert nichts an diesem Sachverhalt.
Albin ist ein Kind, das eigentlich gar nicht existieren dürfte. Nicht, dass an Albin irgendetwas auszusetzen wäre – er ist, wie die meisten halbwüchsigen Jungen nun mal sind: picklig, aller Wahrscheinlichkeit nach total sexfixiert und krankhaft interessiert an Computerspielen. Nein, ich war einfach nicht bereit, Vater zu werden. In meinen düsteren Augenblicken, die sich mit den Jahren häufen, denke ich oft, dass sie es damals darauf angelegt hat. Dass sie die Pille nicht mehr genommen hat und aus Rache wegen der Sache mit der Hochzeit schwanger geworden ist. Ich werde es niemals sicher wissen, und es spielt jetzt auch keine große Rolle mehr. Albin existiert, das ist sicher, und lebt in bestem Wohlergehen bei seiner Mutter. Wir sehen uns manchmal, nicht besonders oft – zu Weihnachten und Mittsommer und an seinem Geburtstag. Ich glaube, so ist es besser für ihn, also, dass wir nicht so besonders viel Kontakt haben. Die Gefahr besteht doch, dass er sonst von mir enttäuscht wäre.
Ab und zu denke ich, ich müsste ein Foto von ihm in der Brieftasche haben wie die anderen, die richtigen Eltern. Ein scheußliches Schulfoto vor bräunlichem Hintergrund in einer Turnhalle, von einem Fotografen, dessen Träume ihn nicht weitergeführt haben als bis zum Gymnasium von Farsta. Aber dann sehe ich doch sehr schnell ein, dass das niemanden täuschen würde, schon gar nicht mich selbst. Eltern zu sein, das verdient man sich nicht so einfach, denke ich. Es ist ein Recht, das sich durch Nachtwachen, Windelwechseln und all das einstellt, was man eben tut, wenn man da ist. Es hängt sehr wenig mit den Genen zusammen, mit dem Sperma, das ich vor ungefähr fünfzehn Jahren gespendet habe, damit Janet sich ihren Traum von einem Kind erfüllen konnte.
Ich sehe das Haus schon aus der Ferne. Nicht, weil das weiße viereckige Gebäude in irgendeiner Weise auffiele in dem exklusiven Villenviertel, sondern weil es von Streifenwagen umringt ist. Das Blaulicht jagt über den Schnee, und der unverkennbare weiße Minibus der Kriminaltechnik steht ein Stück weiter am Straßenrand. Ich halte unten am Hang und gehe das letzte Stück bis zum Haus zu Fuß. Begrüße die Kollegen, zeige meinen Dienstausweis und bücke mich unter dem blauweißen Absperrband, das sich in dem leichten Wind langsam hin und her bewegt, hindurch.
Manfred steht in der Haustür. Seine ausladende Gestalt verbirgt fast die ganze Umgebung, als er die Hand zum Gruß hebt. Er trägt einen Tweedblazer, aus der Brusttasche ragt ein kleines rosa Seidentaschentuch. Die großzügig zugeschnittene Wollhose ist sorgfältig in hellblaue Schuhüberzüge gestopft.
»Zum Teufel, Lindgren. Ich dachte schon, du kommst überhaupt nicht mehr.«
Ich erwidere seinen Blick. Die kleinen Pfefferkornaugen liegen tief eingesunken in dem geröteten Gesicht. Seine...