Grazia | Der perfekte Faschist | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 512 Seiten

Grazia Der perfekte Faschist

Eine Geschichte von Liebe, Macht und Gewalt
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8031-4391-4
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Eine Geschichte von Liebe, Macht und Gewalt

E-Book, Deutsch, 512 Seiten

ISBN: 978-3-8031-4391-4
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Im Juni 1926 war Rom Schauplatz eines spektakulären gesellschaftlichen Ereignisses. Gefeiert wurde eine »faschistische Hochzeit«, Trauzeuge Mussolini inklusive. Vor den Altar traten Lilliana Weinman, gefeierte amerikanische Opernsängerin aus einer jüdischen Industriellenfamilie, und Attilio Teruzzi, hochdekorierter Kriegsveteran, Teilnehmer beim Marsch auf Rom, mitleidloser Anführer der Schwarzhemden und Archetyp des »neuen starken Mannes«. Aber bald schon fühlte sich der virile Gatte von der Unabhängigkeit seiner Frau in der Ehre verletzt und forderte die Scheidung - nur dachten seine Frau und die katholische Kirche gar nicht daran, dem zuzustimmen. Die Zwangsehe wird für den Aufsteiger Teruzzi zusehends zum Problem, kündigen sich am Horizont doch die ersten antisemitischen Gesetze des faschistischen Staates an. Mit Seitenblicken auf Literatur, Mode, Stadtwelten und Liebesverhältnisse entfaltet die renommierte Historikerin Victoria de Grazia ein opulentes, fesselnd erzähltes Gesellschaftsepos, das das kulturelle Klima der Epoche greifbar werden lässt. Sie zeigt, wie Mussolinis Bewegung ihre Revolution bis in die zwischenmenschlichen Beziehungen forcierte. Und sie macht die Bedingungen für Aufstieg und Fall des »perfekten Faschisten« anschaulich: die Entwicklung eines Mannes des Mittelmaßes in einer Zeit der Extreme.

Victoria de Grazia ist Professorin Emerita für Geschichte an der Columbia University in New York und eine der international profiliertesten Forscherinnen zur Analyse von Soft Power in autoritären Systemen sowie zur Gender- und Arbeitergeschichte. Die Themen ihrer Bücher reichen von den Überzeugungsmechanismen des Faschismus bis hin zur Anziehungskraft der US-amerikanischen Konsumgesellschaft.
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Prolog


Als Benito Mussolini Attilio Teruzzi am 17. März 1926 in seinem Büro im Palazzo Chigi empfing, ihn umarmte und wegen seiner bevorstehenden Hochzeit neckte, um dann noch mit dessen attraktiver amerikanischer Verlobter zu flirten, war das ein privater Augenblick von durchaus öffentlicher Bedeutung. Zum ersten Mal war Mussolini gebeten worden, in seiner Doppelfunktion als Präsident des Ministerrats und als Duce des Faschismus eine Ehe zu schließen. Er zeigte sich berührt. »Ich bin froh, dass Sie eine Amerikanerin heiraten«, sagte er zu Teruzzi. »Englische Frauen sind hässlich, französische sind pervers, spanische bringen uns Unglück, und mit Amerika kommen wir gut zurecht. Es sind auch ein paar Dollars da, das kann nicht schaden.«1 Alles in allem war er überaus einverstanden.

Teruzzi, ehemals Berufsoffizier in der italienischen Armee, war zu dieser Zeit Staatssekretär im Innenministerium und ein aufsteigender Stern im faschistischen Establishment. Seine Verlobte Lilliana Weinman, eine angehende Operndiva, die unter ihrem Künstlernamen Lilliana Lorma bekannt war, hatte ihre Karriere aufgegeben, um Teruzzi zu heiraten. Das Paar war verliebt, idealistisch und eifrig darauf bedacht, Teruzzis politische Laufbahn voranzutreiben.

Als die beiden ihre Verlobung bekannt gaben, verbreitete sich die Nachricht in Windeseile. Einer der in der Öffentlichkeit sichtbarsten und markigsten »Neuen Männer« der faschistischen Revolution heiratete ein ebenso energisches Exemplar der »Neuen Frau« Amerikas. Als der Hochzeitstermin Ende Juni näher rückte, standen Teruzzi und Lilliana indessen vor einem Dilemma. Ihre Vereinigung sollte ganz dem jüngsten Diktum Mussolinis entsprechen: »Alles innerhalb des Staates, nichts außerhalb des Staates, nichts gegen den Staat.« Doch bislang existierte für eine faschistische Hochzeit kein Protokoll. Lilliana verstand etwas von Bühne und Prominenz, Teruzzi besaß einen guten Instinkt für Rituale und Rangstellung, und so beschlossen die beiden, das Ereignis selbst zu gestalten.

An Geld wurde nicht gespart. Der Dollar war stark, und die Fabrik für elastische Bänder des Brautvaters in der Lower East Side Manhattans boomte. Er würde alles bezahlen, eine große Mitgift für seine Tochter aussetzen und sogar die Familie des Bräutigams ausstatten – sämtlich gute und bescheidene Leute. Die Heirat sollte eine veritable Staatsangelegenheit werden, unter Beteiligung mehrerer Minister und des gesamten Großrats des Faschismus. Der Bräutigam hatte Mussolini und seinen eigenen Vorgesetzten, den Innenminister, gebeten, bei der zivilen Trauung als seine Trauzeugen zu fungieren. Die Trauzeugen der Braut sollten der amerikanische Botschafter und ihr Mentor Tullio Serafin sein, ehemals an der Mailänder Scala und inzwischen Chefdirigent an der Metropolitan Opera.

Bei dem vor der Trauung stattfindenden, für vierhundert oder sogar fünfhundert Gäste ausgelegten Empfang im Hotel Palace in der Via Veneto sollte alles vom Feinsten sein, mit einem Streichquintett, Cocktails und einem Meer von Blumen. Das Paar gedachte, nur die Crème de la Crème der aufkommenden faschistischen Elite einzuladen: die Mitglieder des Quadrumvirats (die den Marsch auf Rom angeführt hatten), Mailänder Geschäftsleute, illustre Präfekten und geschäftstüchtige Anwälte, außerdem Repräsentanten der Kunst und führende Salonnièren des neuen gesellschaftlichen Lebens des Regimes, Journalisten und ausländische Korrespondenten, Aristokraten, ein paar Mitglieder der internationalen Schickeria und die aus fünfzig Verwandten und Freunden bestehende Gruppe der von der Braut geladenen Gäste, die aus New York, Wien und Rzeszów (Reichshof) kamen, dem einstigen »Klein-Jerusalem« Österreichisch-Galiziens, der Heimat ihrer Familie.

Die Hochzeitsgesellschaft aufseiten der Braut, von links nach rechts: Isaac Weinman, Maestro Tullio Serafin, Rose Weinman, Benito Mussolini, Botschafter Henry Prather Fletcher, Lilliana Weinman, Attilio Teruzzi, Amelia Teruzzi und Celestina Teruzzi.

In einer Verbeugung vor Mussolinis erst kürzlich erfolgter Annäherung an den Vatikan beschloss das Paar, neben der zivilen auch eine kirchliche Trauung vornehmen zu lassen. Dazu benötigte es allerdings einen Dispens des Papstes, da die Braut jüdischen Glaubens und daher in den Augen der katholischen Kirche eine Ungläubige war. Die zivile Trauung sollte als erste stattfinden, um zu demonstrieren, dass der italienische Staat die oberste Autorität darstellte. Sie sollte im Kapitol vom Gouverneur Roms vorgenommen werden, der Bräutigam in schwarzem Hemd mit seinen militärischen Auszeichnungen, die Braut in einer lavendelfarbenen Seiden-Georgette. Da die katholische Kirche daran festhielt, dass der Vollzug der Ehe vor der Absegnung des Ehebundes eine Sünde sei, sollte die kirchliche Trauung noch am selben Nachmittag in der Basilika Santa Maria degli Angeli stattfinden, der Bräutigam im Smoking und mit schwarzer Krawatte, die Braut in einem weißen Spitzenkleid mit einer langen Schleppe.

Es hätte keinen besseren Zeitpunkt für dieses Event geben können als den Juni des Jahres IV der faschistischen Ära. Es war nun fast vier Jahre her, dass Mussolini gedroht hatte, Rom mit seiner Armee aus 20 000 Schwarzhemden zu besetzen, und König Viktor Emanuel III. vor dieser Machtdemonstration kapituliert hatte, indem er ihn mit der Bildung einer neuen Koalitionsregierung betraute. Doch erst im vorangegangenen Jahr, 1925, hatte Mussolini – der sich nur mühsam von der politischen Krise erholte, zu der die Entführung und Ermordung des Sozialisten Giacomo Matteotti, des Anführers der parlamentarischen Opposition, geführt hatte – freie Bahn erhalten, seine Herrschaft in eine Diktatur mit grenzenloser Macht und von unbeschränkter Dauer umzuwandeln.

Nach den ersten wilden Jahren lautete das Schlagwort jetzt »Normalisierung«. Statt die Schlägerbanden seiner auf die Opposition zu hetzen, benutzte Mussolini nun das Recht, um die Presse mundtot zu machen, erließ Notstandsgesetze, um einen Ein-Parteien-Staat zu errichten, begann mit der Umwandlung der faschistischen Milizen in ein regulierteres Gendarmeriekorps und schuf spezielle Militärtribunale mit dem Recht zur Verhängung der Todesstrafe, um gefährliche politische Gegner auszuschalten.

»Normalisierung« bedeutete auch, dass Italien auf die internationalen Finanzmärkte zurückkehrte, indem es einen Zeitplan für die Rückzahlung der Kriegskredite an die Vereinigten Staaten aufstellte, oppositionelle Gewerkschaften verbot, Sparhaushalte verabschiedete und die Löhne der Arbeiter massiv senkte. Sie bedeutete außerdem, dass Mussolini den Respekt der bürgerlichen Kreise zu gewinnen hoffte, indem er hochgeschätzte Institutionen wie die kirchliche Trauung übernahm, Bordelle legalisierte, um die Prostituierten von der Straße zu holen, und eine Junggesellensteuer einführte, um die unverheirateten Männer zu drängen, ihre Pflicht gegenüber der Nation zu erfüllen, zu heiraten und Kinder in die Welt zu setzen. Dass Attilio Teruzzi, dieser notorische Rowdy, sich mit einer Braut von derart ungewöhnlichem Format häuslich niederließ, war aus der Sicht der vielen Frauen, die den Faschismus begrüßt, aber bislang noch nichts dafür bekommen hatten, ein rundum positives Zeichen.

Und so wurde ihre Eheschließung, wie die schrieb, zu einer »faschistischen Hochzeit«. Statt der üblichen Monogramme auf weißem Untergrund zierten die Hochzeitseinladung Putten, die einen Liebesknoten zwischen den amerikanischen Stars and Stripes und dem faschistischen Liktorenbündel samt Axt knüpften. Statt einer militärischen Ehrengarde mit ihren erhobenen Degen stellte man vor der Kirche einen Trupp faschistischer Pfadfinder auf, die »Hipp, hipp, hurra!« riefen und die faschistische Hymne »Giovinezza« sangen. Zwischen der Musik des Streichquintetts des Maestro Antonelli und den eleganten silbernen Partygeschenken aus der Manufaktur des Mailänder Juweliers Chiappe glänzte Teruzzis und Lillianas Hochzeit mit den Finessen der Kultur und des Kunsthandwerks Italiens. Im Salon des Hotels türmten sich pompöse Geschenke (deren Gesamtwert auf mehr als 100 000 US-Dollar geschätzt wurde, wie jemand die Presse wissen ließ), und Umschläge voller Bargeld wanderten in die Hände und Taschen des Bräutigams.

Puccinis Oper hatte zwei Monate zuvor ihre Uraufführung erlebt und gewann für das Paar eine besondere Bedeutung. Teruzzi sei Prinz Kalaf, hatte Lilliana gescherzt, der ungestüme Fremde, der den mörderischen Finten der Eiskönigin trotzt, um ihre Hand zu gewinnen. Als sie im Eisenbahnwaggon des Staatsoberhaupts gen Norden fuhren, den Mussolini ihnen für ihre zweiwöchige Hochzeitsreise nach Mitteleuropa zur Verfügung gestellt hatte, vollzogen sie ihre Ehe. Als die Morgendämmerung über dem Po-Tal anbrach, umarmte Teruzzi seine Lilliana und sang Kalafs Lied: »Vinceròòòò« – »Ich werde siegen«. Er konnte sein Glück gar nicht fassen.

Drei Jahre später, im März 1929, kurz nachdem Mussolini ihn zum nationalen Kommandeur der Schwarzhemden ernannt hatte, sagte Teruzzi sich endgültig und öffentlich von seiner Frau los. Er behauptete, sie habe ihn betrogen und ihn seiner Ehre beraubt, und er schlug alle ihre Unschuldsbeteuerungen aus. Da es im italienischen Recht keine Scheidung gab, konnte er die Verbindung offiziell nur beenden, wenn es ihm gelang, vor dem Kirchengericht zu beweisen, dass die Ehe von vornherein ungültig gewesen war. Durch diesen Prozess gerieten beide in die Abhängigkeit von zölibatären Priesterrichtern, die eine umständliche juristische Untersuchung...


Victoria de Grazia ist Professorin Emerita für Geschichte an der Columbia University in New York und eine der international profiliertesten Forscherinnen zur Analyse von Soft Power in autoritären Systemen sowie zur Gender- und Arbeitergeschichte. Die Themen ihrer Bücher reichen von den Überzeugungsmechanismen des Faschismus bis hin zur Anziehungskraft der US-amerikanischen Konsumgesellschaft.

Victoria de Grazia ist Professorin Emerita für Geschichte an der Columbia University in New York und eine der international profiliertesten Forscherinnen zur Analyse von Soft Power in autoritären Systemen sowie zur Gender- und Arbeitergeschichte. Die Themen ihrer Bücher reichen von den Überzeugungsmechanismen des Faschismus bis hin zur Anziehungskraft der US-amerikanischen Konsumgesellschaft.



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