E-Book, Deutsch, 100 Seiten
Grandia Weißer als Schnee
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-86827-917-7
Verlag: Francke-Buch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 100 Seiten
ISBN: 978-3-86827-917-7
Verlag: Francke-Buch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Eigentlich hat Kathy mit ihrer Vergangenheit längst abgeschlossen, zu groß ist der Schmerz über den Verrat, den sie erlebt hat. Doch als sie im Nachlass ihres Vaters eine Kassette und ungeöffnete Briefe findet, brechen alte Wunden wieder auf. Kann es sein, dass alles doch ganz anders war, als sie es sich als Kind zusammengereimt hat? Wer war ihr Vater wirklich? Eine aufwühlende Spurensuche beginnt. Wird Kathy am Ende die Kraft finden, der Wahrheit ins Auge zu blicken? 'Ein berührender Debütroman!'
Marianne Grandia lebt zusammen mit ihrem Mann und vier Kindern in den Niederlanden. Sie schreibt für die Frauenzeitschrift Eva, arbeitet als Übersetzerin und ist eine beliebte Rednerin bei Frauentreffen. 'Weißer als Schnee' ist ihr Debütroman.
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Kapitel 3 Montag, 9. Mai Mit gerunzelter Stirn starrte Kathy auf die Tasten ihres Telefons auf ihrem Schreibtisch. Für welche Uhrzeit hatte sie den Termin vereinbart? Ihr Gedächtnis war in den letzten Tagen das reinste Sieb. Seufzend nahm sie den Hörer ab und tippte zum zweiten Mal die Nummer ihres Zahnarztes ein. „Guten Morgen, hier ist noch einmal Kathy Smit“, meldete sie sich, als jemand am anderen Ende den Hörer abnahm. „Ich habe gerade schon einmal angerufen, um einen Kontrolltermin bei Ihnen auszumachen, aber es ist mir leider entfallen, ob wir nun für kommenden Donnerstag Viertel vor oder Viertel nach drei ausgemacht haben, deshalb muss ich Sie noch einmal belästigen.“ „Oh, das macht gar nichts“, flötete die Stimme der Arzthelferin. „Ich schaue es eben für Sie nach. Wie lautet Ihr Geburtsdatum?“ „21. März 1964.“ „So, dann sind Sie also ein Frühlingskind“, lachte die Arzthelferin. „Glückwunsch.“ Kathy antwortete nichts. Sagen Sie mir einfach nur den Termin. Sie hörte, wie die Arzthelferin auf einer Tastatur herumtippte und wartete schweigend. „Donnerstag, 19. Mai, Viertel vor drei“, hörte sie ein wenig später. „Soll ich Ihnen den Termin noch einmal auf einer Postkarte zuschicken?“ „Nein, ich habe ihn mir jetzt in meinem Terminkalender notiert“, erwiderte Kathy, während sie sich die Uhrzeit aufschrieb. „Vielen Dank.“ Sie murmelte noch eine Abschiedsformel und legte auf. Eigentlich sind Termine mitten am Nachmittag ziemlich ungünstig, dachte sie mit einem Mal. Wo war sie bloß mit ihren Gedanken gewesen? Normalerweise legte sie sich solche Untersuchungen entweder vor die Arbeit oder direkt danach. Aber nun ein drittes Mal in der Zahnarztpraxis anzurufen, dazu hatte sie auch keine Lust. Jetzt musste sie wohl oder übel in den sauren Apfel beißen. Sie legte den Terminkalender beiseite und konzentrierte sich auf ihre Arbeit. Wenn sie sich tüchtig ins Zeug legte, dann konnte sie heute Morgen noch gut das Protokoll des Managementtreffens von gestern Abend ausarbeiten. Die Arbeit als Sekretärin bei Instalco, einer Firma, die auf Klimatechnik spezialisiert war, machte ihr zwar Spaß, aber das Verfassen von Protokollen gehörte nicht zu ihren Lieblingsaufgaben. Und mit Sicherheit wurde die ganze Sache nicht einfacher, wenn sie sie vor sich herschob. Also versuchte sie, das Schreiben des Protokolls so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Sie war noch nicht beim zweiten Tagesordnungspunkt, als ihr Handy klingelte. Genervt holte sie es aus ihrer braunen Handtasche. Warum wurde sie während ihrer Arbeitszeit angerufen? Wer sie auch nur ein bisschen kannte, wusste doch, dass sie das nicht ausstehen konnte. Auf dem Display war nur „Rufnummer unterdrückt“ zu lesen. Jetzt wusste sie auch nicht mehr als vorher. „Kathy Smit“, meldete sie sich deshalb etwas barsch. „Guten Morgen, Sie sprechen mit der Sekretärin von Dr. Baaij. Bin ich mit der Tochter von Herrn Smit verbunden?“ Sollte ich jetzt besser „Nein“ sagen? Dann hätte ich vielleicht nie wieder etwas mit ihm zu tun. „Ja, am Apparat.“ „Schön. Ich rufe wegen Ihres Vaters an. Dr. Baaij würde gern mit Ihnen über die anstehende Operation sprechen, die für Mittwoch angesetzt ist. Könnten Sie heute Nachmittag um sechzehn Uhr in der Klinik sein?“ Nein! „Äh … das passt mir nicht so gut. Ich weiß nicht, was Dr. Baaij noch mit mir zu besprechen hat, aber lässt sich das nicht telefonisch erledigen?“ „Das ist eigentlich nicht üblich, Frau Smit. Solch wichtige Gespräche führt der Doktor nicht am Telefon. Aber wenn Ihnen sechzehn Uhr nicht passt, dann ginge es sicher auch etwas später. Wäre siebzehn Uhr besser für Sie?“ „Nein, auch nicht.“ „Vielleicht morgen Vormittag? Hätten Sie da Zeit?“ „Nein.“ Bevor die Sekretärin noch einen weiteren Vorschlag machen konnte, entschloss sich Kathy mit offenen Karten zu spielen. „Hören Sie, es geht eigentlich nicht darum, ob ich Zeit habe. Ehrlich gesagt verspüre ich überhaupt keine Lust zu solch einem Gespräch. Bei der Aufnahme hat sich Dr. Baaij doch hinsichtlich der Diagnose schon klar geäußert und auf die Risiken, die mit der Operation verbunden sind, hingewiesen. Mehr muss ich nicht wissen. Und wenn der Arzt noch mehr wissen will, kann ich ihm nicht weiterhelfen, denn vor meinem Treffen mit meinem Vater letzte Woche habe ich ihn siebenundzwanzig Jahre lang nicht gesehen und auch kein einziges Wort mit ihm gewechselt. Schon deshalb macht es gar keinen Sinn, wenn ich noch einmal vorbeikomme.“ Irgendwie ahnte sie, dass ihre Worte in den Ohren der Sekretärin ungewöhnlich hart klingen mussten, aber sie hatte einfach keine Lust, ihren Unmut in freundliche Worte zu kleiden. Das Schweigen am anderen Ende der Leitung verriet ihr, dass sie die Sekretärin offensichtlich aus dem Konzept gebracht hatte. „Äh … gut, ich gebe das an den Arzt weiter“, hörte sie die Sekretärin schließlich sagen. „Einen guten Tag noch, Frau Smit.“ Kathy verstaute das Handy wieder in ihrer Tasche. Fest entschlossen, das Gespräch gleich wieder zu vergessen, richtete sie ihren Blick auf den Computerbildschirm. Wo war sie stehen geblieben? Plötzlich räusperte sich jemand hinter ihr. Mit einem Ruck drehte sie sich um und entdeckte in der Türöffnung den Bezirksleiter, für den sie seit drei Jahren arbeitete. „Paul, ich habe dich gar nicht hereinkommen hören.“ Meistens konnte man zuerst ein Schlurfen vor der Bürotür hören, bevor er hereinkam, auch wenn sie in der Regel offen stand. Er hob leicht die Schultern und trat ein paar Schritte in den Raum. Ganz offensichtlich hatte er heute keinen Termin mit einem Kunden, denn anstatt seines braunen Anzugs trug er eine schwarze Jeans und ein T-Shirt. Darin sah er in mancher Hinsicht jünger aus als die vierzig Jahre, die er zählte. „Du hast gerade telefoniert, da wollte ich keinen Krach machen. Als ich gemerkt habe, dass es ein Privatgespräch war, wollte ich eigentlich wieder gehen. Aber dann warst du auch schon fertig mit dem Telefonieren.“ Wie viel hat er mitbekommen? „Ja, es war nur ein kurzes Gespräch. Also, was kann ich für dich tun?“ „Geht es dir gut, Kathy?“, fragte Paul sie und ignorierte ihre Frage. „Ja, warum soll es mir denn nicht gut gehen?“ Sie wich seinen braunen Augen aus und stellte sich absichtlich dumm, aber sie kannte Paul und wusste, dass er wahrscheinlich nicht darauf hereinfiel. Doch versuchen konnte man es ja mal. „Nun ja, es geht mich eigentlich nichts an, aber den letzten Teil des Telefongesprächs habe ich mitbekommen.“ Kathy antwortete nichts und zog ihren Schreibblock zu sich, so als wollte sie nun weiterarbeiten. Paul rührte sich nicht vom Fleck. „Nun“, sagte er weiter, „weil ich dich bisher nur selten oder gar nicht in so einem Ton habe reden hören, habe ich mir die Frage gestellt, ob es dir gut geht.“ Die Augen auf ihre Notizen gerichtet, die sie sich während des gestrigen Meetings gemacht hatte, überlegte Kathy, ob sie einfach rundheraus sagen sollte, dass sie keine Lust auf dieses Gespräch hatte. Komischerweise hatte sie aber auch das Bedürfnis, ihm zu erklären, warum sie so barsch gewesen war. „Ach, es ging nur um meinen Vater. Und da braucht es nicht viel, um mich auf die Palme zu bringen.“ Paul zog sich den Stuhl heran, der in ihrem Büro stand, und setzte sich ihr gegenüber. „Ich dachte immer, du hättest gar keine Eltern mehr.“ Das war nicht ungewöhnlich. Sie hatte niemandem je von ihrem Vater erzählt. Nur zwei gute Freundinnen wussten überhaupt, dass er noch lebte, aber auch sie respektierten ihren Wunsch, nicht über ihn zu sprechen. „Ein paar Monate vor dem Tod meiner Mutter ist mein Vater nach Amerika ausgewandert und der Kontakt zwischen uns ist abgebrochen.“ Zumindest habe ich ihn abgebrochen. Mein Vater hat mir noch jahrelang Briefe geschrieben, aber die habe ich ungeöffnet zurückgeschickt. Paul schwieg, er wartete ab, ob sie noch mehr sagen würde. „Letzte Woche Dienstag, als ich noch zu Hause war und mich auf die monatliche Besprechung vorbereitete, hat mich plötzlich irgendeine Sanne angerufen. Sie erzählte mir, sie sei die Nachbarin von meinem Vater, der anscheinend wieder in die Niederlande gezogen war. Sie hatte in seiner Wohnung ein seltsames Geräusch gehört und war nachschauen gegangen. Scheinbar war meinem Vater schlecht geworden, jedenfalls lag er auf dem Küchenboden und der Tisch war umgestürzt. Sie hat dann gleich den Notarzt gerufen und der hat sich mit einem Internisten beraten und mit ihm ausgemacht, dass mein Vater sofort ins Krankenhaus eingeliefert werden soll. Sie haben ihn dann mit einem Krankenwagen abgeholt.“ Kathy nahm eine Büroklammer und verbog sie gedankenverloren, während sie weiterredete. „Die Nachbarin hat meinen Vater gefragt, ob sie jemandem Bescheid sagen solle, und anscheinend hat er meinen Namen erwähnt.“ „Woher wusste sie denn, wie du zu erreichen bist?“ „Das war eigentlich ganz einfach. Er wird ihr wohl meine Adresse gegeben haben. Die ist ja nicht schwer herauszufinden, schließlich wohne ich schon immer im Haus meiner Mutter.“ Kathy schwieg und dachte an den Vormittag zurück. Sie war von dem Telefonat so überrumpelt gewesen,...
Kapitel 1
Dienstag, 3. Mai
Ellen legte das Kärtchen, auf dem ihr Termin eingetragen war, auf den Tresen in der Rezeption der Poliklinik und sah auf die Uhr. Zehn vor elf. Sie war eine Viertelstunde zu früh.
In der Regel stürmte sie erst im allerletzten Augenblick herein, aber heute Morgen hatte sie so einen seltsamen Drang empfunden, etwas früher zu kommen. Sie wusste selbst nicht, warum. Vielleicht war es nur, weil sie die Untersuchung beim Internisten gern so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. In diesem Wartezimmer hatte sie schon viel zu viel Zeit verbracht, mehr, als ihr lieb war. Unzählige Male hatte sie mit ihrem Mann oder ihrer Schwester schon hier gesessen. Zum Glück erwartete sie heute nur eine Routineuntersuchung, die konnte sie auch gut allein durchstehen.
Weil sie zu früh gekommen war, musste sie noch warten. Doch allzu lange würde es wohl nicht dauern. Außer ihr saßen schließlich nur noch zwei andere Patienten im Wartezimmer.
Sie setzte sich auf einen der roten Stühle, die nebeneinander an der Wand standen, und suchte in ihrer Tasche vergeblich nach einem Kamm, um ihre kurzen, blonden Haare wieder in Ordnung zu bringen, die beim Fahrradfahren durcheinandergeraten waren. Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass sie ihn ihrer Tochter Marilou mitgegeben hatte, weil sie ja heute in der Schule Schwimmen hatte und ihre Bürste verloren gegangen war. So musste sie wohl oder übel ungekämmt zur Kontrolluntersuchung.
Um die Zeit totzuschlagen, nahm sie sich eine der Zeitschriften, die auf dem Tischchen neben ihr auslagen. Gerade hatte sie sich in einen Artikel über den Sinn und Unsinn von Vitaminpräparaten vertieft, als die Tür zum Sprechzimmer aufging. Unwillkürlich sah sie auf, obwohl sie noch nicht an der Reihe sein konnte.
Aus dem Sprechzimmer trat eine Frau Mitte vierzig, die einen Rollstuhl vor sich herschob, in dem ein alter Mann saß. Eine Tochter mit ihrem Vater, vermutete Ellen. Hinter den beiden ging der Arzt, der der Arzthelferin an der Rezeption die Patientenakte überreichte. Er verabschiedete sich mit ein paar Worten von dem Mann und rief den nächsten Patienten auf.
Zu Ellens Überraschung hatte der Arzt mit dem Mann im Rollstuhl englisch gesprochen. Das machte sie neugierig. Aufmerksam betrachtete sie den Mann. Auf den ersten Blick schien er die Achtzig überschritten zu haben, vielleicht wirkte er aber auch nur so alt, weil er insgesamt eine sehr bedauernswerte Erscheinung war. Sein Haar war ihm fast vollständig ausgefallen und die dunkle Weste, die seine schmalen Schultern umspielte, war ihm mindestens zwei Nummern zu groß. Die von blauen Adern überzogenen Hände lagen kraftlos auf seinen dünnen Beinen, die in einer Schlafanzughose steckten. Er hatte keine Strümpfe an und irgendwie rührten sie seine blanken Füße in den Pantoffeln an.
Der Mann schien völlig benommen zu sein. Er erinnerte sie an eine schwer verletzte Maus, die sie einmal aus den Krallen ihrer Katze gerettet hatte. Später war ihr klar geworden, dass sie der Natur besser nicht ins Handwerk gepfuscht hätte, denn nach einer halben Stunde Benommenheit und Schlaf hatte das Tier in der kleinen Schachtel, in die sie es gelegt hatte, seinen Mund zu einem stillen Schrei aufgerissen und seinen letzten Atemzug getan.
Den Gesichtsausdruck des Mannes konnte sie nicht erkennen, weil er den Kopf nach vorn gebeugt hatte, so, als ob es ihm schwerfiele, sich aufzurichten. Offensichtlich war er schwer krank. Es überraschte sie denn auch nicht, als sie hörte, wie die Arzthelferin auf einer Station anrief und die Aufnahme für ihn regelte. Danach wandte sich noch eine recht junge Mitarbeiterin an die Frau, die hinter dem Rollstuhl stand, um mit ihr ein paar praktische Dinge zu besprechen. Das Gespräch schien an dem Mann völlig vorbeizugehen.
Ellen fragte sich, warum sie nicht mit dem Mann selbst sprach. Konnte sie nicht gut genug Englisch oder wollte sie ihn nicht weiter belasten? Vielleicht ist es für sie aber auch ganz normal, so über Patienten zu reden, als seien sie gar nicht anwesend, dachte sie ein wenig spöttisch. So jedenfalls war es ihr während ihrer Termine immer wieder ergangen.
„Muss ich wirklich mit auf Station? Kann ihn nicht einfach ein Krankenpfleger mitnehmen?“, hörte Ellen die Frau fragen. Die Antwort der Krankenschwester konnte sie nicht verstehen, aber es war offensichtlich, dass die Frau mitgehen sollte, denn sie schob den Rollstuhl ein Stückchen vor, stellte ihn Ellen fast direkt vor die Füße und nahm ohne ein Wort zu sagen auf einem Stuhl auf der anderen Seite des Wartezimmers Platz. Wahrscheinlich doch nicht Vater und Tochter, überlegte Ellen. Vielleicht sind sie noch nicht einmal miteinander verwandt, wahrscheinlich ist sie nur eine Nachbarin oder irgendjemand, der sich angeboten hat, ihn ins Krankenhaus zu bringen.
Aber wie sie es auch drehte und wendete, die Frau passte irgendwie nicht in das Klischee von besorgter Nachbarin oder Ähnlichem. Die Frau strahlte so gar keine Herzlichkeit aus, schlimmer noch, sie schien so wenig wie nur irgend möglich mit dem Mann zu tun haben zu wollen. Zumindest war es sehr auffällig, dass sie sich so weit wie möglich von ihm weggesetzt hatte.
Ellen warf einen Blick auf den anderen Patienten im Wartezimmer, um zu sehen, ob er die Geschichte ebenfalls mitbekommen hatte, aber er schien ganz in seine Zeitung vertieft zu sein.
Ellen betrachtete wieder den Mann im Rollstuhl, der ihr irgendwie leidtat. Seit er dort abgestellt worden war, hatte er nicht ein einziges Mal aufgesehen und schien vollkommen unterzugehen. War er so teilnahmslos, weil er krank war, oder war er an so eine Behandlung gewöhnt? Fürchtete er, dass sie einander zum letzten Mal sehen könnten? War die Frau, die ihn begleitete, vielleicht doch seine Tochter und er hatte ihre Liebe verspielt? Hatte er vielleicht schon seit einer ganzen Weile kein liebevolles Wort mehr gehört? Bei diesem Gedanken brach ihr beinahe das Herz.
Sag ihm, dass ich ihn liebhabe.
Ellen richtete sich kerzengerade auf. Aber nicht, weil sie eine Stimme gehört hatte, die ihr fremd gewesen wäre. Es war der unerwartete, aber deutliche Auftrag, der sie aufgeschreckt hatte.
Das kann nicht dein Ernst sein, Herr! Ich kenne ihn doch überhaupt nicht. Was soll er denn von mir denken?
Sag es ihm.
Ja, aber … auf Englisch?! So gut kann ich das nun auch wieder nicht …
Ich lege dir die Worte in den Mund.
Ellen begann fürchterlich zu schwitzen. Wieder sah sie den Mann an, warf der Frau einen Seitenblick zu – sie starrte einfach nur geradeaus – und betrachtete dann wieder den Mann. Der Gedanke, ihn ansprechen zu müssen, ließ ihre Handflächen feucht werden.
In diesem Augenblick hob er den Kopf und blickte sie geradewegs an. Die unendliche Traurigkeit, die sie in diesem winzig kurzen Moment in seinen Augen sah, brachte sie völlig aus der Fassung. Trotzdem fehlte ihr noch immer der Mut, ihn einfach anzusprechen. Stattdessen lächelte sie ihn freundlich an. Gerade als sie so etwas wie eine Reaktion bei ihm wahrzunehmen schien, ließ er den Kopf wieder sinken.
Und wieder hörte sie die Stimme.
Sag ihm, dass ich ihn liebhabe … und ihn behüte.
Der Auftrag war eindeutig, aber es war, als wäre ihr Mund wie verschlossen. Jedes Mal, wenn sie tief Atem holte und die Worte aussprechen wollte, krabbelten sie im letzten Augenblick wieder zurück. Ihr Herzschlag und ihr Atem wurden schneller und das Blut rauschte in ihren Ohren. Oder war es die Stille, die so rauschte?
Wenn sie jetzt an die Reihe kam oder der Mann abgeholt wurde, wäre sie aus ihrem Dilemma erlöst. Aber es geschah nichts dergleichen.
Nach ein paar Minuten, die quälend langsam verstrichen waren, betrat ein Krankenpfleger das Wartezimmer. „Herr Smit?“
Der Mann sah auf und nickte schwach. Der Pfleger ging auf ihn zu und legte die Hand auf seine zerbrechliche Schulter. „Ich habe Ihnen im zweiten Stock ein schönes Bett hergerichtet. Da bringe ich Sie jetzt hin.“
Er reagierte kaum, vielleicht verstand er auch nichts. Die Frau stand auf und ging auf den Mann zu. „Gehören Sie zu diesem Patienten?“, fragte sie der Krankenpfleger. Die Frau nickte, aber es schien nicht von Herzen zu kommen.
Mit bekümmertem Blick sah Ellen dabei zu, wie der Krankenpfleger den Rollstuhl des Mannes, der nun auf einmal einen Namen hatte, nahm und ihn wegschob. Die Frau folgte ihnen in einem gewissen Abstand.
Zu spät, hämmerte es in Ellens Kopf. Jetzt ist es zu spät.
Wer weiß, wie wichtig diese Botschaft für den Mann gewesen wäre. Und ich habe sie ihm nicht gesagt. Weil ich Angst hatte, mich lächerlich zu machen.
Entmutigt sank sie auf ihrem Stuhl zusammen.
Kapitel 2
Freitag, 6. Mai
„Hier, sehen Sie einmal, heute haben Sie auch Post bekommen.“ Mit einer schwungvollen Handbewegung legte die brünette Krankenschwester einen Briefumschlag auf das Nachtschränkchen am Bett von Steven Smit.
Obwohl er sehr gut verstanden hatte, was sie gesagt hatte, stellte er sich taub. Er hatte schlichtweg keine Lust zu reden, sondern wollte nur einfach so daliegen. An nichts mehr denken. Nichts mehr fühlen. Lass sie ruhig glauben, dass er ihre Sprache nicht verstand. So eine Sprachbarriere war manchmal ganz praktisch, weil man sich dahinter verstecken konnte, und deshalb ließ er die Menschen gern in dem Glauben, dass man sich mit ihm nur auf Englisch unterhalten konnte.
Als die Schwester das Krankenzimmer wieder verlassen hatte, drehte er den Kopf nach rechts. Sein Blick fiel auf den elfenbeinfarbenen Briefumschlag auf dem Nachtschränkchen neben seinem Bett. Etwas in ihm hielt ihn davor zurück, den Umschlag einfach zu nehmen und zu öffnen. Er hatte keine Ahnung, wer ihm einen Brief geschrieben haben könnte. Außer seiner Nachbarin Sanne und seiner Tochter Kathy gab es niemanden, der gewusst hätte, dass er im Krankenhaus lag. Doch die Nachbarin hatte ihn schon besucht und seine Tochter wäre mit Sicherheit die Letzte, die ihm eine Karte schreiben würde.
Der Gedanke an Kathy ließ ihn für einen Augenblick den Umschlag vergessen. Schmerzlich scharf hatte er noch immer ihre abweisende Haltung vor Augen. Alle Hoffnung, die er sich gemacht hatte, war in dem Moment verflogen, als sie ihn wieder mit jenem Blick angesehen hatte, der sich schon seit Jahren auf seiner Netzhaut eingebrannte hatte und ihn überallhin verfolgte. Ein Blick, in dem ein ganzes Spektrum von Gefühlen zu erkennen war – Vorwurf, Wut und Schmerz. Aber vor allen Dingen sagte ihm dieser Blick, dass sie ihm niemals vergeben würde. Wie sehr hatte er gehofft, dass dieser Blick nach siebenundzwanzig Jahren etwas sanfter sein würde. Aber alle Hoffnung war vergeblich gewesen.
Vergeblich. Dieses Wort traf ihn mit seiner ganzen Härte. Vergeblich. Vergeben. Geben. Aber es konnte nicht vergeben werden. Es war zu viel, um vergeben zu werden. Es gab nichts mehr, worauf er hoffen konnte.
Plötzlich schreckte er auf, weil er ein Piepen vernahm, doch dann ließ er sich wieder ins Kissen sinken, als ihm klar wurde, dass es nur von der Infusionspumpe kam. Anscheinend musste dort etwas ausgetauscht werden. Komisch, dass ich nach drei Tagen immer noch bei dem Geräusch aufschrecke. Anscheinend ertrage ich nichts mehr.
Schweigend wartete er, bis eine Krankenschwester auf das Geräusch aufmerksam wurde und den beinahe leeren Infusionsbeutel gegen einen vollen auswechselte. Er hielt die Augen geschlossen und stellte sich schlafend. Aber als er sich sicher war, dass sie das Krankenzimmer wieder verlassen hatte, öffnete er die Augen wieder.
Sein Blick fiel erneut auf den Umschlag auf seinem Nachtschränkchen. Zögernd streckte er die Hand danach aus. Er war sich immer noch nicht sicher, ob er wirklich wissen wollte, wer ihm eine Karte geschrieben hatte. Doch schließlich siegte seine Neugier über seinen Widerwillen und er nahm den Brief in die Hand.
Die Schrift auf dem Umschlag war die einer Frau. Aber die Adresse überraschte ihn. Unter der Anschrift des Krankenhauses standen da nur sein Name und das Stockwerk, auf dem sein Zimmer war. Keine Zimmernummer. Anscheinend wusste die Absenderin, dass er auf dieser Station lag, aber nicht, in welchem Zimmer. Am meisten überraschte ihn allerdings, wie sein Name geschrieben war. Mr Smith. Kein Herr Smit, sondern Mr Smith. Die Absenderin redete ihn auf Englisch an und hatte seinen Nachnamen mit h geschrieben. Die Briefmarke mit Königin Beatrix darauf war jedoch ein eindeutiger Hinweis darauf, dass der Brief in den Niederlanden eingeworfen worden war.
Seine Neugier wuchs. Er drehte den Umschlag um, sah aber keinen Hinweis auf die Absenderin. Er würde ihn also öffnen müssen.
Ordentlich wie er immer gewesen war und es wohl auch bis an sein Lebensende bleiben würde, wenn er die Kraft dazu hatte, suchte er nach einem scharfen Gegenstand, mit dem er den Umschlag aufschneiden konnte. Aufgerissene Briefe ärgerten ihn furchtbar. Er richtete sich etwas auf, um nachzuschauen, ob Sanne sein Taschenmesser in sein Nachtschränkchen gelegt hatte. Egal wohin er ging, sein Taschenmesser hatte er stets dabei. Nicht nur aus praktischen Gründen, sondern auch, weil er es einst, vor langer, langer Zeit von Kathy zum Vatertag geschenkt bekommen hatte. „Katje“, wie er sie immer neckend genannt hatte, wenn sie einen Heulkrampf bekommen oder versucht hatte, bei ihren Freundinnen ihren Willen durchzusetzen. Ja, sie konnte ab und zu schon ein richtiger Dickkopf sein.
Er zwang sich, für einen Moment nicht mehr an Kathy zu denken, und konzentrierte sich auf den Inhalt seines Nachtschränkchens. Ja, da lag das Messer. Es kostete ihn einige Anstrengung, danach zu greifen. Als er es in der Hand hielt, ließ er sich erschöpft in die Kissen fallen. Die kleinste Anstrengung kostete ihn anscheinend seine ganze Kraft.
Als seine Atmung sich beruhigt hatte, hob er mit einer Hand den Briefumschlag hoch und schnitt ihn mit dem Messer vorsichtig auf. Im Umschlag befand sich eine Karte zum Aufklappen. Er holte sie heraus, faltete sie auseinander und las die Worte, die in etwas gebrochenem Englisch darin standen.
Dear Mr Smith, lautete die Anrede. Während er las, übersetzte er die Sätze automatisch ins Niederländische, wie er es – oft unbewusst und im Gegensatz zu vielen anderen Emigranten – sonst immer getan hatte.
Lieber Herr Smith,
Sie kennen mich nicht und ich kenne Sie nicht, aber ich saß am Dienstag beim Internisten Baaij im Wartezimmer. Während Sie darauf warteten, dass ein Krankenpfleger Sie holen kam, musste ich Sie immer wieder anschauen. In diesem Augenblick hat Gott zu mir gesprochen. Ich weiß nicht, ob Sie Gott kennen, aber er kennt Sie sehr gut. Und er möchte, dass ich Ihnen sage, dass er Sie liebt und behütet.
Weil ich Angst hatte, Sie könnten mich für verrückt halten, war ich an jenem Vormittag nicht mutig genut, Sie anzusprechen. Aber unsere Begegnung hat mich nicht mehr losgelassen, also habe ich mich entschieden, Ihnen diese Karte zu schreiben. Ich habe gehört, wie der Krankenpfleger Ihren Namen sagte und das Stockwerk nannte, auf dem Ihre Station ist, und ich hoffe, dass diese Informationen ausreichen und die Karte bei Ihnen ankommt. Wenn Sie das hier jetzt lesen, ist mein Vorhaben gelungen und ich kann Ihnen nur noch einmal sagen: Gott liebt Sie! Und behütet Sie … Egal was in Ihrem Leben geschehen ist, seine Liebe ist immer noch größer!
Ich bete für Sie.
Eine Frau aus dem Wartezimmer
Steven las den Text mehrere Male nacheinander, aber der Inhalt schien nicht zu ihm durchzudringen. Es war, als würden die Worte wie Tennisbälle gegen eine Wand geschlagen und sofort wieder zurückspringen.
Völlig fassungslos starrte er minutenlang die beschriebene Innenseite der Karte an und klappte sie dann wie benommen wieder zu.
In diesem Augenblick fiel sein Blick auf die Worte und das Bild auf der Vorderseite. Es war ein Gemälde von Rembrandt, das Bild, auf dem der Verlorene Sohn zu seinem Vater nach Hause kommt und von diesem liebevoll in die Arme genommen wird. Unter der Abbildung standen nur drei einfache Worte. Willkommen zu Hause.
Und bei diesen Worten stürzte mit einem donnernden Krachen die Mauer ein, an der alle anderen Worte so viele Jahre lang abgeprallt waren.