Graham Treu bis in den Tod/Ein sicheres Versteck
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-15616-9
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zwei Romane in einem Band
E-Book, Deutsch, 896 Seiten
ISBN: 978-3-641-15616-9
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Treu bis in den Tod: Simone ist nett, unauffällig und eines Tages spurlos verschwunden. Keiner weiß, ob sie ihren Mann verlassen hat oder womöglich ermordet wurde - bis die ersten Lösegeldforderungen eintreffen. Mit dem Selbstmord des Ehegatten nimmt der Fall eine unerwartete Wende. Und dann ist auch noch die Nachbarstochter unauffindbar ...
Ein sicheres Versteck: Als Lionel das alte Pfarrhaus in Ferne Basset als Anlaufstelle für gestrandete Jugendliche einrichtete, hatte er eigentlich nur Gutes im Sinn. Doch schon bald geschehen schreckliche Dinge: Zuerst wird seine Frau Ann erpresst, und dann wird einer der Jugendlichen tot am Flussufer aufgefunden ...
Zwei Romane in einem Band.
Caroline Graham wurde in den dreißiger Jahren in Warwickshire geboren. Nach ihrer Ausbildung war sie einige Zeit bei der englischen Marine, leitete später eine Heiratsvermittlung und arbeitete während der sechziger Jahre an einem Theater. 1970 begann sie mit dem Schreiben, arbeitete zunächst als Journalistin beim BBC und Radio London, später wandelte sie sich zur Hörspiel- und Drehbuchautorin. Caroline Grahams erster Roman erschien 1982, seither hat sie neben zahlreichen Kriminalromanen auch zwei Kinderbücher verfaßt.
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1
Simone Hollingsworth verschwand Donnerstag, den 6. Juni. Man könnte beinah sagen, sie habe sich einen wunderschönen Tag dafür ausgesucht. Ein warmer Wind wehte bei fast wolkenlosem und strahlendem Himmel. Die Hecken standen in voller Blüte, und auf den Feldern tollten Hasen und Kaninchen fröhlich herum, wie das junge Geschöpfe tun, die noch nicht ahnen, was ihnen auf dieser Welt so alles bevorsteht.
Das erste Anzeichen dafür, dass in der St. Chad’s Lane nicht alles so war, wie es sein sollte, bemerkte Mrs. Molfrey, als sie unsicheren Schrittes auf dem Weg zum Briefkasten am Nachbarhaus vorbeikam. Dort versuchte nämlich Sarah Lawson gerade, das Tor der Hollingsworths von innen mit dem Fuß aufzustoßen, während sie mit den Armen einen großen Karton umklammert hielt.
»Kommen Sie, ich helfe Ihnen«, sagte Mrs. Molfrey.
»Wenn Sie mir nur freundlicherweise das Tor aufhalten würden.«
»Der sieht aber schwer aus«, sagte Mrs. Molfrey mit Blick auf den Karton. Dabei zog sie langsam das Tor aus vergoldetem Schmiedeeisen auf. »Was um alles in der Welt ist da drin?«
»Ein paar Einmachgläser für meinen Stand beim Kirchenfest.«
Sie gingen nebeneinander her. Sarah zügelte aus Höflichkeit ihr normales Tempo, denn Mrs. Molfrey war sehr alt. Die Uhr am natursteinernen Kirchturm schlug drei.
»Außerdem hatte Simone mich zum Tee eingeladen, aber offenbar musste sie irgendwohin. Ich hab die Sachen auf der Terrassentreppe gefunden.«
»Wie seltsam. Das sieht ihr überhaupt nicht ähnlich.«
»Kann nicht behaupten, dass ich traurig darüber bin.« Sarah hievte den Karton, der abzurutschen drohte, stöhnend ein wenig höher. »Wenn man erst mal da drin ist, muss man mindestens eine Stunde einplanen.«
»Das arme Ding ist vermutlich einsam.«
»Was kann ich denn dafür?«
Vor dem Bay Tree Cottage, dem Lorbeerbaum-Cottage, blieben sie stehen. Das war Sarahs Zuhause. Hier brauchte Mrs. Molfrey sich nicht zu bemühen, weil das Tor seit ewigen Zeiten schief in den Angeln hing. Diese Nachlässigkeit wurde von den ordnungsliebenden Dorfbewohnern mit einem resignierten Schulterzucken hingenommen. Sarah war Künstlerin, und da musste man eben Zugeständnisse machen.
»Ohne Auto kann Simone nicht weit sein. Und außerdem sollte sie sowieso bald zurückkommen. Um fünf ist Läutprobe.«
»Ach, ist das ihr neustes Hobby?« Sarah lachte. »Allmählich müsste sie ja alles durchhaben.«
»Hat sie den Kurs bei Ihnen eigentlich zu Ende gemacht?«
»Nein.« Sarah stellte den Karton ab und zog einen Schlüssel aus ihrer Rocktasche. »Sie ist ein paar Wochen gekommen, dann hat sie das Interesse verloren.«
Mrs. Molfrey warf ihren Brief ein und dachte auf dem Heimweg darüber nach, dass für Simone tatsächlich nicht mehr viel blieb, womit sie sich die Zeit vertreiben konnte.
Die Hollingsworths waren vor etwas mehr als einem Jahr ins Nightingales-Haus eingezogen. Im Gegensatz zu den meisten Neuankömmlingen, die förmlich danach lechzten, sämtliche Gepflogenheiten des Dorfes bis ins Letzte zu ergründen, noch bevor die Umzugswagen außer Sichtweite waren, hatte Alan Hollingsworth nie das geringste Interesse am Dorf und seinen Bewohnern bekundet. Man bekam ihn immer nur kurz zu sehen, wenn er in sein metallicschwarzes Audi Cabrio stieg, seiner Frau zum Abschied zuwinkte und dann mit knirschenden Reifen vom Grundstück fuhr. Oder wenn er viele Stunden später – er hatte nämlich eine eigene Firma und arbeitete sehr hart – mit surrendem Motor wieder angerollt kam und sie mit einem Kuss begrüßte.
Simone erschien immer in dem Moment im Hauseingang, wenn die Autotür zufiel, als ob sie irgendwo heimlich gelauert hätte, damit der Herr des Hauses nur ja nicht eine Sekunde auf den verdienten Willkommensgruß warten müsse. Wenn er sie dann küsste, stand sie mit einem Bein auf Zehenspitzen, das andere nach hinten geknickt, wie eine Schauspielerin in einem Film aus den vierziger Jahren.
Im Gegensatz zu ihrem Mann hatte Mrs. Hollingsworth, die reichlich Zeit hatte, sich bemüht, an den dörflichen Aktivitäten teilzunehmen. Man musste allerdings zugeben, dass die sehr begrenzt waren. Da gab es den Frauenkreis, die Stickereigruppe, den Bowling-Klub, die kleine Amateur-Winzerei und – für die wirklich Verzweifelten – den Gemeinderat. Dort führte die Frau des Pfarrers den Vorsitz.
Mrs. Hollingsworth war zu mehreren Veranstaltungen des Frauenkreises gekommen und hatte ein Gespräch über Strohpuppen sowie einen Vortrag mit Bildern über die botanischen Entdeckungen von John Tradescant über sich ergehen lassen. Sie hatte der Gewinnerin des äußerst interessanten Schürzenwettbewerbs applaudiert und ein Stück Sandkuchen gekostet. Auf dezente Fragen nach ihrer Vergangenheit und zu ihrer gegenwärtigen Situation hatte sie freundlich, aber so vage geantwortet, dass es zwar unbefriedigend war, man jedoch nichts dagegen einwenden konnte. Beim dritten Treffen (Überraschen Sie Ihre Freunde mit einem alkoholischen Milchshake aus der Tudorzeit!) war aufgefallen, dass sie ab und an leise vor sich hin seufzte. Und sie hatte leider nicht zum Tee und einem Stück Zitronenkuchen bleiben können.
Als Nächstes war Bowling an der Reihe. Colonel Wymmes-Forsyth, der Vorsitzende des Klubs, hatte mit weit aufgerissenen Augen und halb ohnmächtig vor Entsetzen beobachtet, wie sich ihre zehn Zentimeter hohen Absätze, die so schmal wie der Stiel eines Weinglases waren, in seinen pedantisch gemähten Rasen bohrten und ihn aufrissen. Sie ließ sich jedoch mühelos (alle waren ja viel zu alt) davon abbringen, dem Klub beizutreten.
Beim Winzertreffen und bei den Gemeindeversammlungen, die abends stattfanden, war sie noch nicht aufgekreuzt. Auch nicht bei der Stickereigruppe, obwohl Cubby Dawlish ein hübsch illustriertes Informationsblättchen mit den Zeiten, zu denen man sich traf, durch den Briefschlitz von Nightingales geschoben hatte.
Man hielt es entweder für Schüchternheit oder Schicklichkeit, dass sie nicht den einfachsten und vergnüglichsten Weg wählte, Leute kennen zu lernen, nämlich einen Besuch im Dorfpub, dem Goat and Whistle. Die meisten Neuankömmlinge waren im Handumdrehen dort. Sie bestellten ein Pint vom besten Bier, das der Wirt im Ausschank hatte, und beteiligten sich dann zögernd, einen Fuß auf die Stange an der Bar gestützt, an einem Gespräch in der Hoffnung, Freunde zu finden.
Neuankömmlinge waren im Goat and Whistle immer herzlich willkommen, und sie gingen in dem Glauben nach Hause, dass nur auf dem Lande die Leute wirklich Zeit füreinander haben. Glücklicherweise blieb den meisten verborgen, dass nur die dumpfe Langeweile, jeden Tag dieselben Gesichter zu sehen, das starke Interesse an ihnen verursachte. Und die meisten merkten nicht mal, wenn sie nach einer gewissen Zeit selbst ganz abgestumpft waren.
Das Glockenläuten war, wie bereits erwähnt, Mrs. Hollingsworths jüngste Beschäftigung. Bisher hatte sie an etwa einem halben Dutzend Proben teilgenommen, ohne erkennbar das Interesse zu verlieren. Aber da sie nicht immer pünktlich war, war niemand überrascht oder gar besorgt, als sie um halb sechs noch nicht da war.
Der Pfarrer, Reverend Bream, lauschte mit einem Ohr, ob sie noch kommen würde, während er einen Stapel Kirchenführer ordnete, die seine Frau am Computer erstellte. Die Heftchen kosteten nur fünfzig Pence und waren sehr beliebt bei den Besuchern. Die Hälfte von ihnen warfen zumindest etwas, wenn auch selten den vollen Betrag, in den dafür vorgesehenen Kasten.
Mrs. Molfrey spazierte herein, entschuldigte sich für die Verspätung und zählte rasch die Anwesenden durch.
»Simone ist also noch nicht zurückgekommen?« Nachdem sie erzählt hatte, was sie von Sarah erfahren hatte, beschloss der Pfarrer, dass sie nicht länger warten sollten, und alle machten sich an die Seile.
Die Probe war für ein Begräbnis am nächsten Tag. Normalerweise war bei einem solchen Anlass nichts weiter als ein länger andauerndes, einschläferndes Geläut erforderlich, doch in dem Fall hatten die Hinterbliebenen um Oranges and Lemons gebeten, eine Läutfolge, die der teure Verstorbene von Kindheit an geliebt hatte. Mit dieser Glockenkomposition waren die Campanologen von Fawcett Green nicht vertraut. Deshalb hatte der Pfarrer, der diese Läutfolge gut kannte, die Läufe der einzelnen Glocken auf Karten geschrieben. Heute war die dritte Probe. In Vertretung für die abwesende Mitstreiterin schwang Reverend Bream rhythmisch auf und ab. Die Arme gestreckt, atmete er tief und gleichmäßig, während die Absätze seiner schwarzen Stiefel mit den elastischen Einsätzen sich hoben und wieder senkten und das kräftige rot-weiß-blaue Hanfseil durch seine Finger glitt.
Neben ihm schoss die kleine Mrs. Molfrey mit wehenden Locken hoch in die Luft. Ihre locker geschnürten Turnschuhe hingen schlaff nach unten, bevor sie wieder fest auf dem abgewetzten Steinboden landeten. Die Gruppe läutete eine halbe Stunde lang und begab sich dann wie gewohnt in die Sakristei, um sich eine Erfrischung zu gönnen.
Avis Jennings, die Frau des Arztes, stellte den Kessel auf eine alte elektrische Kochplatte. Der Pfarrer öffnete eine Packung Pfeilwurzkekse. Eigentlich mochte die niemand besonders, aber Mrs. Bream bestand darauf, dass diese Kekse gereicht wurden, weil sie irgendwo gelesen hatte, dass Pfeilwurz nicht nur nahrhaft, sondern auch beruhigend für die Nerven sei.
Kurz vor Weihnachten hatte Avis eine Schachtel selbst gebackener Haselnussplätzchen mitgebracht. Irgendwer hatte das, zweifellos vom Überschuss an Protein beschwingt, ausgeplaudert. Das Pfarrhaus hatte mit eindeutiger Ablehnung reagiert, und Avis...