Graham / Pozzessere Mörderspiel
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-95576-172-1
Verlag: MIRA Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-95576-172-1
Verlag: MIRA Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lochlyre Castle, das düstere schottische Schloss des Krimiautors Jon Stuart, ist Schauplatz der 'Mystery Week': Ein gestellter Mord gibt Rätsel auf. Doch kaum betreten die Mitspieler das Castle, spüren sie, dass etwas anders ist als sonst. Denn während der letzten 'Mystery Week' kam Jons Frau ums Leben, und der dunkle Verdacht, Jon seit nicht ganz unschuldig, überschattet plötzlich den Event. Nur eine Frau ist fest von Jons Unschuld überzeugt: die attraktive Sabrina Holloway, die mit ihm vor seiner Ehe eine stürmische Affäre hatte. Aber auch sie kann sich der bedrohlichen Atmosphäre nicht erwehren. Wird es wieder ein Opfer geben? Die 'Mystery Week' beginnt - unheimlicher und mörderischer als je zuvor.
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1. KAPITEL
Die Szene wirkte sehr gruselig. Eine junge Frau in mittelalterlichem Gewand war auf eine Folterbank gespannt. Ihr langes blondes Haar fiel über den Mechanismus der Folterapparatur. Ein dunkelhaariger Mann mit Bart beugte sich halb über sie.
Die Tochter des Earl of Exeter, stand auf dem Schild darüber, auch bekannt als Streckfolter. Das Gerät war nach dem Mann benannt, der am geschicktesten Geständnisse aus seinen Opfern herausgeholt hatte.
Der Künstler, der für die Gestaltung dieser Wachsfiguren verantwortlich zeichnete, war ebenfalls geschickt gewesen. Die Blondine auf dem hölzernen Marterinstrument war bezaubernd mit einem zarten, klassisch schönen Gesicht und großen blauen Augen, in denen die Angst vor der Qual zu lesen stand. Jeder mit normalen Instinkten verspürte den Wunsch, sie zu retten. Hingegen spiegelten die Gesichtszüge des Folterknechtes neben ihr das reine Böse wider. Seine Augen funkelten in sadistischer Vorfreude auf die Schmerzen, die er ihr zufügen würde.
Viele der dargestellten Szenen im Kellergewölbe waren hervorragend gestaltet und erzählten die alte Geschichte der Unmenschlichkeit des Menschen gegenüber dem Menschen. Doch diese eine übertraf alles.
Zumindest nach Jon Stuarts Auffassung. Er lehnte schweigend in einer Nische an der Wand, und seine Anwesenheit fiel durch das Dämmerlicht ringsum kaum auf. Nachdenklich betrachtete er die Szene und beobachtete die blonde junge Frau, die nun davor stand.
Sie entsprach in Aussehen, Haarfarbe und Figur der Blonden auf der Folterbank, eine junge Frau mit einer üppigen blonden Haarpracht, die ihr lose über Schultern und Rücken hinabfiel. Sie war schlank und hatte eine wunderbare Figur, was Jeans und enger Pullover betonten. Ihre Gesichtszüge waren sehr feminin, mit einer schmalen, geraden Nase, hohen Wangenknochen, schönen blauen Augen und vollen, sinnlichen Lippen. Auch sie betrachtete die Szene mit einem gewissen Interesse – und mit Argwohn. Es schien, als wolle sie auflachen, wie um sich zu beschwichtigen, dass es ja nur Wachsfiguren seien, die sie da betrachtete. Denn die Szene wirkte beängstigend, und sie stand allein hier im Halbdunkel. Glaubte sie zumindest.
Sabrina Holloway.
Er hatte sie seit über dreieinhalb Jahren nicht mehr gesehen. Obwohl er etwas überrascht war, sie gerade hier anzutreffen, freute ihn ihre Anwesenheit. Seine letzte Einladung zu jener schicksalhaften Krimi-Woche hatte sie seinerzeit höflich abgelehnt. Damals war Cassandra gestorben.
Ob Sabrina es nun erkannte oder nicht, jedenfalls hatte sie Joshua als Modell für die Blonde auf der Folterbank gedient.
Joshua Valine arbeitete seine Figuren stets nach dem Vorbild lebender Menschen aus seinem Bekanntenkreis. Irgendwann hatte er Jon gegenüber mal erwähnt, dass er Sabrina Holloway in Chicago kennen gelernt habe. Dabei hatte er so verliebt geklungen, dass Jon es seinerzeit nicht über sich brachte, ihm zu gestehen, er kenne sie ebenfalls. Dabei verstand er Joshuas Schwärmerei für Sabrina nur zu gut. Er selbst war auch mehr als angetan gewesen, als er sie damals kennen lernte. Ehe…
Nun ja, es gab viel zu bewundern – oder zu begehren – an Miss Holloway. Er war nicht als Einziger ihrem Charme erlegen. Sie hatte auch die Aufmerksamkeit von Brett McGraff auf sich gelenkt. Die Folge waren eine stürmische Romanze, eine kurze Ehe und eine skandalträchtige Scheidung gewesen.
Jon beobachtete sie und war froh über die Distanz zwischen ihnen. Sabrina Holloway war von einer seltenen Grazie und Schönheit. Trotz seines Einsiedlerdaseins in den letzten Jahren hatte er ihre Karriere in Zeitungen und Journalen verfolgt. Zumal sich die Reporter der Klatschpresse auf Brett McGraffs letzte skandalumwitterte Scheidung von einem so schönen jungen Wesen geradezu gestürzt hatten.
Als er Sabrina Holloway kennen lernte, hatte sie ihn schlichtweg bezaubert mit ihrer Unschuld und ihrer Begeisterungsfähigkeit. Sie war faszinierend gewesen. Heute sah sie die Welt zweifellos nicht mehr durch die rosarote Brille. Sie war eindeutig gereift. Sie war…
Spektakulär. Eleganter denn je. Dabei wirkte sie nachdenklich, wenn nicht gar weise.
Woher willst du das denn wissen? fragte Jon sich ironisch.
Sie kann genauso gut zu einem hartherzigen, selbstsüchtigen Luder geworden sein, belehrte er sich in einem Anflug von trockenem Humor. So ging es manchmal im Leben. Immerhin hatte sie ihn damals mit eiserner Entschlossenheit verlassen. Und in all dem Medienrummel um ihre Scheidung und trotz manch schockierender Situation hatte sie sich wacker gehalten.
Dennoch umgab sie eine sonderbar fesselnde Aura von Kultiviertheit und Unschuld. Obwohl gerade er, bei Gott, auf die harte Tour gelernt hatte, dass ausgerechnet die zart und zerbrechlich wirkenden Frauen die schlimmsten Schwarzen Witwen sein konnten.
Sabrina stammte von einer Farm im Mittleren Westen, wie Jon sich erinnerte. Dabei musste er lächeln. Sie besaß viel Wärme, zugleich war sie zurückhaltend. Dennoch hatte es Momente gegeben, in denen sie alle Zurückhaltung aufgab. Immer dann hatte er geglaubt, sie schon ein Leben lang zu kennen. Sie war fesselnd und doch bodenständig, unverkrampft und von natürlicher Schönheit. Als sie sich begegneten, war sie vierundzwanzig gewesen und frisch vom Land gekommen. Letzten Monat war sie achtundzwanzig geworden. Ausreichend Zeit, zu lernen, härter zu werden, sich zu verändern. Wenn nur…
Nun ja, es war eine andere Zeit gewesen damals, ein anderer Ort, ein anderes Leben. Er hatte sich klug verhalten und ihr keine Märchen erzählt.
Sie hatte auch keine hören wollen.
Dennoch…
Er ärgerte sich über seine Verunsicherung, die er zugleich ungerechtfertigt fand. Brett McGraff war auch hier. Sie und McGraff waren tatsächlich verheiratet gewesen. Er hingegen hatte keine Rechte ihr gegenüber. Und doch…
Zum Teufel, es war sein Haus, seine Party. Und er beabsichtigte, sich all seinen Gästen zu widmen. McGraffs Anwesenheit würde die Wiederbegegnung mit Sabrina nur umso spannender machen.
Andererseits – hatte sie mit alledem überhaupt etwas zu tun? Vielleicht hätte er ihren Namen lieber von der Gästeliste streichen sollen. Aber er hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass sie kommen würde. Und alle anderen steckten schließlich mit drin. Trotzdem wünschte er plötzlich, er hätte nicht riskiert, sie wie die übrigen zu ahnungslosen Teilnehmern an einem heiklen Spiel zu machen.
Doch er hatte das Räderwerk in Gang gesetzt, und ihm blieb keine Wahl mehr. Entweder er machte weiter, oder er verlor den Verstand. Und es gab noch andere, denen er Wahrheit und Gerechtigkeit schuldete, nicht nur sich selbst. Es ging nicht in erster Linie um ihn. Er hatte versprochen, es zu wiederholen, auf genau dieselbe Weise.
Vielleicht sollte er sich einfach fern halten von Miss Sabrina Holloway. Von allen Anwesenden war sie allein eindeutig unschuldig.
Er bezweifelte, dass es ihm möglich sein würde, ihr aus dem Weg zu gehen. Dann machte er sich klar, dass sie auf eigenen Wunsch hier war. Alle waren sie bereitwillig gekommen, begierig auf sein Mörderspiel. Einige aus Freude am Spaß, andere um der Publicity willen. Cassie, die eingefleischte Journalistin, hatte ihm mal gesagt: „Lass dir nie die Chance auf ein Foto entgehen, Darling!“ Ihm war aufgefallen, dass weitaus die meisten Schriftsteller, Schauspieler, Musiker oder Künstler genau nach diesem Motto handelten. Und, um im Bild zu bleiben, diese Woche war eine Riesenchance für Fotos. Sogar die zurückhaltenden Typen, die sich nicht immer in den Vordergrund drängten, mochten darauf nicht verzichten.
Konkurrenzkampf bestimmte das Leben. Und der Bekanntheitsgrad des Namens konnte den Unterschied ausmachen zwischen Verhungern und gesundem Einkommen.
Sabrina Holloway hat allerdings ungewollt bereits genügend Publicity eingeheimst, überlegte er. Die Ehe mit und die Scheidung von Brett McGraff hatte sie geradewegs ins öffentliche Bewusstsein katapultiert. Trotzdem war sie ihren Weg unbeirrt weitergegangen. Obwohl die Steigerung ihres Bekanntheitsgrades ihrer Karriere zweifellos einen Aufschwung brachte, erhielt sie auch von angesehenen Kritikern beachtliches Lob für ihre Bücher.
Er war einige Zeit nicht in den Staaten gewesen, deshalb wusste er nicht, wer sonst noch die Runde durch die Talkshows machte. Doch offenbar traf sie mit ihren viktorianischen Thrillern bei vielen Lesern den richtigen Nerv. Außerdem war sie jung und schön. Und die Medien stürzten sich mit Vergnügen auf Persönlichkeiten mit Sex-Appeal und Bildschirmpräsenz.
Er wollte schon auf sie zugehen, als er merkte, dass eine andere Frau auf ihn zukam. Susan Sharp. Er stöhnte innerlich auf und erwog einen schnellen Rückzug über die Geheimtreppe hinter ihm. Seine Vorfahren waren Jakobiter gewesen und hatten das Schloss mit einer Vielzahl von Geheimtüren, -gängen und Fluchtwegen ausgestattet.
Doch er floh nicht. Er wollte seine Geheimnisse noch bewahren und blieb still stehen, während Susan sich heranpirschte, offenbar frohlockend über ihr Glück, ihn allein zu erwischen.
„Da schau an“, sagte sie glücklich. „Darling! Hier steckst du also. Im Dunkeln. Wie erfreulich. Wie verrucht erfreulich. Gib mir einen Kuss, Darling. Wir haben dich alle so vermisst.“
Sabrina Holloway betrachtete die beunruhigende Szene und staunte über ihren Realismus. Die Frau auf der Folterbank sah aus, als wolle sie jeden Moment den Mund öffnen und losschreien. Ihr Blick wirkte abwesend, als versuche sie, das Entsetzliche zu verdrängen, das ihr drohte. Sabrina...