Graf | Wir sind Gefangene | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 512 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Graf Wir sind Gefangene

Ein Bekenntnis
14001. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8437-0864-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein Bekenntnis

E-Book, Deutsch, 512 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-8437-0864-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Kraftvoll, ehrlich und mit schonungsloser Offenheit schildert Oskar Maria Graf seine Erlebnisse von der Kindheit bis zum Ausgang des Ersten Weltkriegs und der Zeit der Münchner Räterepublik. Eine ebenso packende wie berührende Autobiographie und ein Zeitdokument erster Güte - Oskar Maria Graf wurde mit diesem Werk schlagartig berühmt. Bis heute ist es eines seiner wichtigsten Bücher.

Oskar Maria Graf wurde 1894 in Berg am Starnberger See geboren. Von 1911 an lebte er als Schriftsteller in München. Von Wien aus, seiner ersten Exilstation, protestierte er 1933 mit seinem berühmten »Verbrennt mich!«-Aufruf gegen die Bücherverbrennung. Ab 1938 lebte er in New York, wo er am 28. Juni 1967 starb.
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I
Verändertes Leben

An jenem Mainachmittag, da der Lehrer plötzlich zur Türe hereinkam, auf mich und meine Schwester Anna zuging und uns sagte, wir dürften heimgehen, weil unser Vater sehr krank sei, empfand ich gar nichts. Auf der Straße redeten wir wenig und machten ernste Gesichter. Im Grunde waren wir froh, daß wir den langweiligen Rechenunterricht hinter uns hatten. Wir lernten gut und gingen gern in die Schule, aber das Rechnen mochte ich nicht. Es überraschte nicht, es lief immer klar und glatt ab.

Der Tag war wunderbar sonnig und weit, die Wiesen rundum standen in saftigem Grün und waren blumengesprenkelt, die Apfelbäume links und rechts von der Straße blühten.

Am Dorfanfang traf uns eine Bäuerin und sagte stehenbleibend: »Geht heim, euer Vater ist schwer krank. Arg ist er dran.« Wir beeilten uns. Zu Hause war es irgendwie still. Wir kamen in die Küche, die zugleich als Wohnzimmer diente, und sahen die Mutter am Herd mit Flaschen hantieren. Sie sagte bloß: »Geht hinauf zum Vater« und brach in ein Weinen aus. Wir legten unsere Schulranzen hin und gingen hinauf. Als wir eintraten, begannen wir zu weinen. Warum wußten wir nicht. Ich empfand keinen Schmerz, nur ein leises Grauen. Im Zimmer roch es sehr stark nach Medikamenten und Schweiß. Vor dem Bett saß in Uniform mein Bruder Eugen und sah den Vater unablässig an. Hinter ihm standen Theres und Emma. Beide weinten ganz leise. Max, mein ältester Bruder, stand an der Wand und starrte uns an. Maurus lehnte am Fenster, und Lorenz lispelte uns zu: »Geht hin.« Sein Gesicht war ganz verweint.

Wir traten etwas zögernd ans Bett und sagten zugleich: »Vater!« Der Kranke lag regungslos und röchelte schon. Sein Gesicht war unheimlich gelb und eingefallen. Meine jüngere Schwester schmiegte sich ans Bett und wimmerte nochmal: »Vater!« Da bewegte er den Kopf ein wenig und starrte sie schweigend an. Alle sahen auf ihn und begannen jetzt laut zu weinen. Eugen wollte den Arm unter Vaters Nacken legen, um ihm aufzuhelfen. In diesem Augenblick aber stieß der Sterbende einen hüstelnden Laut heraus, der Körper streckte sich, das Gesicht zuckte und das Weiße der Augen trat ungeheuer stark hervor. Der Tod war eingetreten. Lorenz rannte zur Tür und schrie, sie öffnend: »Mutter!« Wir alle standen schluchzend am Bett und falteten die Hände. Nur Max bewahrte seine Ruhe. Unsere Mutter kam herein und trat ans Bett, bekreuzigte sich, warf einen schmerzhaften Blick gen Himmel, faltete die Hände und wisperte leise ein Gebet. Dabei rannen ihr die Tränen über die verfalteten Wangen. Nach einer Weile bekreuzigte sie sich wieder, beugte sich über den Toten und drückte ihm die Augen zu. Unterdessen zündeten Emma und Theres die beiden Kerzen an, die noch von der letzten Ölung dastanden, holten Weihwasser und besprengten den Toten. Mit schwerer Stimme fing meine Mutter das Vaterunser zu beten an, und wir alle fielen nacheinander ein. Darauf verließen wir das Zimmer und gingen schweigend in die Küche hinunter. Das Begräbnis wurde besprochen, die Leichenfrau bestellt und der Geistliche zur Aussegnung. Um sechs Uhr abends schon stand der Leichenwagen vor dem Haus, und unter lautem Wehgeklage wurde der Sarg aufgeladen und zum Pfarrort gefahren. Hinterdrein schritten wir und viele Dorfleute gebeugten Hauptes und beteten einen Rosenkranz. Als der Sarg im Leichenhaus lag, kamen die Leute zur Mutter und zu den ältesten Geschwistern und reichten ihnen die Hände. Uns Kinder sahen sie mitleidig an und sagten: »Arme Kinder« oder so was. –

Am andern Tag weckten uns feierliche Glocken, die den ganzen Vormittag läuteten. Ins Grab senkte man dreimal die Fahne des Veteranenvereins, und Böller wurden in der Nähe abgeschossen, denn mein Vater war Kriegsteilnehmer von 1870/71.

Mittags aßen wir in der Wirtschaft, und alle Verwandten und Basen nahmen an dem Mahl teil. Es wurden allerhand Geschichten vom Vater erzählt und was er zu dieser und jener Zeit noch gesagt hatte. Nachmittags ging die ganze Familie mit der Verwandtschaft an den See hinunter und trank gemeinsam im Restaurant Kaffee. Das alles kam uns vor wie ein Sonntag und gefiel uns Kindern eigentlich ganz gut – nur eben kamen uns ab und zu die Gedanken an den Vater dazwischen und wir wurden flüchtig traurig. –

Von da ab änderte sich alles im Hause. Wir hatten eine gutgehende Bäckerei, dazu eine Spezereiwarenhandlung und eine Konditorei, zirka zwanzig Tagwerk Wiesenland, etwas Wald, vier Kühe, ein Pferd und meistens vier bis fünf Schweine im Stall. Meine Mutter kam aus einem großen Bauernhof, und mein Vater war Bäcker gewesen. Als sie heirateten, war das Haus sehr klein, jetzt – durch Vaters Lust am Bauen – war ein stattlicher Koloß daraus geworden.

Mein Großvater selig, der Rechenmacher Lorenz Graf, träumte sein Leben lang von einem solchen Haus. Da er aber mit der kärglichen Arbeit nie weiterkam, fing er an, sich auf das jähe Glück zu verlassen. Mit größter Leidenschaft spielte er in einer damaligen Lotterie und verwandte zum Schaden der kinderreichen Familie oft noch die letzten Spargroschen dafür. Aber er wurde nur immer ärmer, und als er starb, war das Anwesen verschuldet und baufällig. –

In seinen letzten Lebensjahren kränkelte mein Vater, und Max übernahm nach seiner Militärentlassung gewissermaßen den Befehl. Seine Art zu kommandieren war kurz, grob und barsch und rief bei Lebzeiten meines Vaters wütende Streite hervor. Der alte Mann griff einmal sogar zum Messer und wollte fluchend auf den Jüngeren losgehen. Meine Mutter warf sich dazwischen.

Seitdem redeten sich die beiden nicht mehr an, und Vater ergab sich dem Trunke. Er bestellte sich Affenthaler Faßwein, saß den ganzen Tag murrend im Kanapee und goß langsam Glas um Glas hinunter. Er aß allein in der Stube, um Max nicht sehen zu müssen. Die beiden wichen einander aus, wo es ging, und wenn sie sprechen mußten, gab es sogleich wieder verbissenen Streit, daß wir Kinder immer laut aufheulten und davonliefen. Nach solchen Auftritten trafen wir meistens unsere Mutter verweint und gebrochen. Der Vater verließ das Haus, betrank sich in irgendeinem Wirtshaus und kam spät in der Nacht heim.

Wir alle haßten Max. Mit ihm war irgend etwas Fremdes ins Haus gekommen. Er trieb uns mit schneidend-scharfen Worten an. Kannte keine Milde, schlug sofort zu. Mit der Hand, mit einem Teigspachtel, mit allem, was gerade nah war. Eugen, der einzige, der ihm an Kraft gleichstand, war damals beim Militär. Lorenz, der Lenz, arbeitete nachts mit den Gesellen, Maurus lernte in Karlsruhe das Konditorhandwerk und Emma in München die Damenschneiderei. Theres, die im Alter gleich nach Max kam, stand eigentlich ganz für sich. Sie fuhr vormittags mit dem Pferd das Brot aus und arbeitete untertags sonstig im Hause. Ihr redete Max nichts drein, denn sie wußte zu antworten. Die beiden kümmerten sich nicht umeinander, waren aber harte Feinde. –

Nach Vaters Tod schlossen wir jüngsten Geschwister uns mehr und mehr zusammen. Lenz las sehr viel Karl-May-Bücher, bestellte heimlich Teschings und schoß während des vormittägigen Brotaustragens Fasanen, Hasen und Eichhörnchen, stecke sie in den Brotkorb und briet sie nachts unter Beihilfe der Gesellen. Anfangs wurde ich nicht in dieses Geheimnis eingeweiht. Erst als ich einmal mit Lenz mitgehen mußte, zog er mich in den Wald, holte seinen Stutzen aus einem Felsloch und sagte mir alles. Ich war begeistert. Sofort wurde für mich ein neues Tesching in Solingen bestellt. Solche Sachen kamen stets per Nachnahme zum Schuster unseres Dorfes. Der bekam als Schweigegeld Brot.

Mit der Zeit genügte uns dieses einzelne Wildern nicht mehr. Es wurden alle Altersgenossen des Dorfes eingeweiht, und sonntags pirschten wir die Wälder ab. Alles, was uns in den Weg lief, wurde niedergeknallt. Wer auf den ersten Schuß ein Wild zur Strecke brachte, bekam den ›Jägerpreis‹, das hieß, daß das gemeinsam gekaufte Tesching sein alleiniges Eigentum wurde. Die Sache wurde allmählich ruchbar. Der Gendarm kam ins Haus. Wir logen zwar grundsätzlich, aber es gab eine furchtbare Rauferei zwischen Lenz und Max, die damit endete, daß Lenz in die Stadt fuhr, sich eine Stelle als Gehilfe suchte und nie mehr etwas hören ließ. Später, nach einem echt romantischen Walzen durch Deutschland, schiffte er sich in Hamburg nach Amerika ein.

Um diese Zeit kam ich aus der Werktagsschule. Ich mußte nunmehr auch nachts mithelfen. Max sah mir scharf auf die Finger. Sehr eingeschüchtert, unternahm ich lange nichts. Sonntags jedoch zerstörten wir die neuen Bänke des eben gegründeten Verschönerungsvereins, dessen Vorstand Max war, rissen junge Pflanzbäume aus oder zündeten einen Heuhaufen an. Es war irgend etwas in uns, das uns dazu drängte. Wir sahen das förmlich als unsere Aufgabe an und konnten nicht ruhig sein. »Lenz muß gerächt werden«, sagte ich stets. Es mußte etwas geschehen. Wir haßten die Dörfler. Damals lasen wir das Indianerbuch ›Der Untergang der Seminolen‹. Schön, unsäglich schön war der Schluß: ›Der letzte Seminole beugt sich über den toten Häuptling, schlitzt ihm die Ader auf und trinkt das Blut, das nach Rache schreit. Dann geht er zu den Sioux und zieht gegen die Weißen …‹

Wir waren zu dritt; Martin, ein Schulfreund von mir, Anna, meine Schwester, und ich. Vor dem Dorf, tief im Kornfeld, trafen wir uns eines Tages. Ich entwarf den Racheplan, die beiden anderen knieten nieder, erhoben feierlich den Arm und sagten: »Ich schwöre!« Wir hatten ausgemacht, daß demjenigen, der etwas verrate, das Schlimmste geschehen müsse. Dann kamen die Wirkungen. Der Müller hatte seinen eisernen Pflug mitten im Acker stehen gelassen. Er wurde...


Graf, Oskar Maria
Oskar Maria Graf wurde 1894 in Berg am Starnberger See geboren. Von 1911 an lebte er als Schriftsteller in München. Von Wien aus, seiner ersten Exilstation, protestierte er 1933 mit seinem berühmten 'Verbrennt mich!'-Aufruf gegen die Bücherverbrennung. Ab 1938 lebte er in New York, wo er am 28. Juni 1967 starb.



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