E-Book, Deutsch, Band 4, 390 Seiten
Reihe: Mord in Bayern
Graf / Neuburger Steckerlfisch
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-98952-007-3
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Regionalkrimi - Mord in Bayern 4 | Eine Senioren-Residenz am Chiemsee wird von einer Mordserie erschüttert ...
E-Book, Deutsch, Band 4, 390 Seiten
Reihe: Mord in Bayern
ISBN: 978-3-98952-007-3
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Lisa Graf, geboren in Passau, studierte Romanistik und Völkerkunde und ist Reisebuch- und Krimi-Autorin. Mit ihrer historischen Romanreihe über das Feinkost-Haus Dallmayr erreichte sie Spitzenplatzierungen auf der Spiegel-Bestsellerliste. Die Autorin lebt im Berchtesgadener Land. Die Website der Autorin: www.lisagraf-autorin.de/ Die Autorin bei Facebook: www.facebook.com/lisa.grafriemann/ Die Autorin auf Instagram: www.instagram.com/lisa.grafriemann/ Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre »Mord in Bayern«-Krimireihe mit den Bänden »Eine schöne Leich«, »Donaugrab«, »Eisprinzessin« und »Steckerlfisch«, der in Co-Autorschaft mit Ottmar Neuburger entstand. »Eine schöne Leich« ist auch als Printausgabe erhältlich. Lisa Graf und Ottmar Neuburger veröffentlichten bei dotbooks außerdem gemeinsam den Thriller »Die Bitcoin-Morde«.
Autoren/Hrsg.
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Ingolstadt, Sonntag, 17. Mai 2015
Die Sonne scheint ins Zimmer, das heißt, sie versucht es. Das Fensterputzen würde sich hier lohnen. Der Vorher-Nachher-Effekt wäre so beflügelnd, dass man sich gleich die nächsten zehn Fenster vornehmen würde. Stefan Meißners erster Blick beim Aufwachen fällt auf die vor Staub und Dreck blinden Scheiben. Sein erster Gedanke: Das Kreuz tut mir weh. Der zweite Blick gilt dem Verursacher des Schmerzes, den mit orangefarbenem Frottee überzogenen Matratzen am Boden, auf denen er die Nacht verbracht hat. Ein Königreich für ein Bettgestell, ein möglichst hohes, und einen Lattenrost. Wie soll er jetzt aufstehen, ohne sich das Kreuz zu verrenken oder einen Nerv einzuklemmen? Jedenfalls ganz vorsichtig. Beim letzten Mal hat es drei Wochen gedauert, bis er wieder normal gehen konnte. Sechs Sitzungen bei der Physio, morgens und abends Übungen für Muskeln, von deren Existenz er bis dahin keine Ahnung gehabt hatte. Jetzt ganz vorsichtig, nur nicht ruckartig. Die Bewegung muss sanft sein, so geschmeidig, wie es eben geht.
Beim Aufwachen hat er einen kurzen Moment lang nicht gewusst, wo er ist. Erst der Blick neben sich auf die zweite Matratze hat ihm Klarheit gebracht. Der zerzauste dunkelblonde Haarschopf auf dem Kissen mit dem psychedelischen Retro-Kreismuster, von dem einem ganz schwindelig wird. Wo Marlu diese Sachen nur herhat? Sie waren ihm in ihrer alten Wohnung in der Sebastianstraße nie aufgefallen.
In das Knäuel neben ihm kommt Bewegung. Marlu hebt den Kopf, dreht das Gesicht zu ihm und starrt ihn ungläubig an, als würde sie ihn nicht erkennen, oder, noch schlimmer, sich fragen, wie um Himmels willen er auf die Matratze neben ihr gekommen ist. Er hält still, wegen seines Rückens. Dann kommt scheinbar ihre Erinnerung zurück.
»Ah, du bist es«, sagt sie, was er nicht besonders charmant findet.
»Hast du jemand anderen erwartet?«, fragt er.
»Es ist noch so ungewohnt«, sagt sie und kuschelt sich an ihn. Er nimmt sie in seine Arme, ganz vorsichtig, wegen des Rückens. »Fühlt sich an wie ein echtes Abenteuer, oder?«, fragt sie.
»Eigentlich würde ich das Abenteuer gern woandershin verlagern, in ein stabiles Bett zum Beispiel.«
»Ich meine nicht die Matratzen«, antwortet sie. »Wobei ich finde, dass die unbedingt dazugehören. Ich meine das Ganze, dass wir endlich zusammenziehen. Unsere erste gemeinsame Wohnung! Das ist das Abenteuer.«
»Und dann gleich ein ganzes Haus, ungefähr fünfhundert Jahre alt und in die Stadtmauer eingezwängt. Mit Rapunzelgarten.«
»Hättest du dir das je gedacht?«, fragt Marlu ganz verzückt.
»Nein, ich hab immer gedacht, ich schaffe irgendwann den Absprung aus Ingolstadt. Ich wäre immer gern in den Süden gegangen.«
»Nach Rosenheim vielleicht?« Marlu grinst.
»Haha. Ich meinte schon eher südlich des Alpenhauptkammes. Zumindest auf der Höhe Gardasee oder so.«
»Ist doch langweilig da. Immer Sonne, leckeres Essen, dolce vita, schöne Frauen, leichtes Bier.«
»Und kein CSU-Ministerpräsident, der gleich im nächsten Dorf wohnt.«
»Pffft«, macht Marlu.
»Na ja, eine schöne Frau hab ich ja schon. Und dann nehme ich an, es ist die Sonne, die die Scheiben blind macht, nicht der Schmutz. Und wenn ich jetzt auch noch ohne große Verletzungen von dieser Matratze hochkomme, dann kann ich auch für unser leibliches Wohl sorgen und fürs Frühstück einkaufen gehen.« Er küsst sie vorsichtig. »Ich finde, wir sollten den ersten Tag in unserer ersten gemeinsamen Wohnung nicht mit Brot von gestern beginnen. Deine umfassenden Renovierungspläne bedürfen einer soliden Grundlage.«
»In vier Wochen sind wir durch. Vielleicht auch ein bisschen früher, dann sind sogar noch ein paar Tage Gardasee drin. Im Juni ist es dort schon warm, oder?«
»Ich würde sogar sagen, der Juni ist dort die schönste Zeit. Alles blüht ...«
»Wie bei uns im Garten.«
»Also, ich kann meinen Hals recken, wie ich will, ich seh eigentlich nur Löwenzahn, Gänseblümchen und ziemlich viel Gestrüpp.«
»Ist doch auch schön«, sagt Marlu und küsst ihn so, dass er daran denkt, den Einkauf noch ein wenig zu verschieben. Aber bei der nächsten falschen Bewegung schreit er auf und kauert sich zu einem kleinen Paket zusammen. So wie die Physiotherapeutin es ihm für den Notfall gezeigt hat. Anschließend versucht er einen vorsichtigen Katzenbuckel.
»Das neue Bett wird erst nächste Woche geliefert«, sagt Marlu. »Kann ich solange irgendwas für dich tun? Massieren oder so?«
»Nicht anfassen!«, schreit Stefan und macht wieder ein kleines Paket.
»Das fängt ja gut an«, mault Marlu. »Ich weiß nicht, ob ich das bis nächste Woche aushalte.«
»Dann musst du dir halt was einfallen lassen«, nuschelt er. »Was Rückenfreundliches.«
Nach ungefähr zehn Minuten verlässt er langsam das Bett, um heiß zu duschen. Sein Magen knurrt. Mit einer Ibu 800 wird es schon gehen, aber davor muss er etwas essen, sonst schlägt ihm die nur auf den Magen. Vier Wochen, um das alte Haus zu renovieren. Vier Wochen Urlaub für beide. Czerny hat sich mit seiner Großzügigkeit selbst übertroffen. Bei der Bewilligung des Urlaubs hat er ihm alles Gute gewünscht und ihm zugezwinkert. Als hätte er geahnt, dass Stefan sich gleich am ersten Tag, noch bevor er einen Farbeimer oder Malerspachtel in die Hand genommen hätte, das Kreuz verreißen würde.
Die heiße Dusche tut ihm gut. Vorsichtig zieht er sich an. Gut, dass seine Schuhe keine Schuhbänder haben. Beim Hinausgehen klingelt sein Handy. Die Ouvertüre zu Tannhäuser, schon lange nicht mehr gehört. Sein Vater. Nein, das geht jetzt nicht. Er muss sich jetzt um sich selbst kümmern. Erst zur Bäckerei, dann zur Apotheke mit Notdienst für die Ibus. Das ist jetzt wichtiger. Erst nach dem Frühstück sein Vater. Und dann vielleicht noch das nachholen, was er heute Morgen auf der Matratze verpasst hat. Er nimmt die Schlüssel vom Haken und lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen.
Als Stefan Meißner mit einer Tüte Buttercroissants, frischen Brezen, Semmeln und den Tabletten zurückkommt, ist auch Marlu aufgestanden. Sie riecht frisch geduscht, hat das Haar zu einem kunstvoll verwuschelten Dutt hochgesteckt, aus dem ein paar einzelne Strähnen heraushängen. Dazu trägt sie eines seiner Hemden. Ihre Füße stecken in gestrickten Wollsocken.
»Von meiner Oma«, sagt sie, als er sie von oben bis unten mustert und sein Blick etwas länger an ihren Füßen hängen bleibt.
»Das auch?«, fragt er und deutet auf das Porzellan mit dem Rosenmuster, mit dem der Tapeziertisch gedeckt ist, der einstweilen die Möbel ersetzt.
»Wildrose«, antwortet Marlu. »Von Villeroy & Boch. Und ja, auch von meiner Oma. Ich hab’s einfach aufheben müssen. Gefällt es dir nicht?«
»Wir müssen es ja nicht jeden Tag benutzen«, meint er.
Omas Küche hat hingegen nicht überlebt, so weit geht Marlus Nostalgie dann doch nicht. Sie hat bereits den Sperrmüllcontainer bis oben hin gefüllt. Bis die neuen Küchenmöbel geliefert werden, steht ihnen ein Kühlschrank zur Verfügung, darauf ein Wasserkocher für Marlus Tee und seine Saeco. Das ist alles, was Stefan Meißner aus seiner alten Wohnung mitgebracht hat: Reisetasche, Kühlschrank und die Saeco, die regelmäßig gewartet, gesäubert und entkalkt und nur von ihm bedient wird. Meißner trinkt Kaffee von morgens bis Mitternacht, und selbst danach schmeckt er ihm immer noch und hindert ihn auch nicht am Einschlafen. Vor allem mit dieser unvergleichlichen Crema, die nur seine Saeco mit ihrer Fünfzehn-Bar-Pumpe zustande bringt.
Während Marlu beim Auspacken der feinen Sachen aus der Bäckertüte »Mhm!« und »Ah!« und »Boah!« macht, bedient Stefan seinen Kaffeevollautomaten. Das Mahlwerk springt an, Wasser wird erhitzt und der Brühvorgang eingeleitet. Stefans Lieblingsgeräusch, zusammen mit einigen anderen, die nicht von der Saeco, sondern von Marlu stammen. Nenn es Abenteuer, sagt er sich, nicht Wagnis. Das Aufgeben ihrer beiden Single-Wohnungen und das Zusammenziehen. Davor diese vier Wochen Auszeit. Eine Galgenfrist, während der man im schlimmsten Fall die Kündigung noch einmal rückgängig machen kann. Das ist aber nur sein Gedanke. Marlu hat sich diesen Monat zum gemeinsamen Renovieren und vielleicht auch zum Sich-Beschnuppern im Alltag ausgedacht, und Czerny hat ihn abgesegnet. Das hätte Stefan sich nie träumen lassen. Bis zuletzt hatte er heimlich gehofft, sein Chef würde dem Heimwerkereinsatz die rote Karte zeigen. Marlu muss irgendetwas gegen ihn in der Hand haben. Hätte Czerny ihnen beiden sonst vier Wochen Urlaub zur selben Zeit bewilligt? Freiwillig? Niemals! Also muss es eine dunkle Vorgeschichte geben, die so dunkel ist, dass er nie etwas von ihr erfahren hat. Vielleicht irgendeine alte Mauschelei, ein großer Gefallen, den er ihr schuldig war, oder Schlimmeres. Czerny wie Marlu äußerten sich auf sein Nachfragen beide nicht dazu. Stattdessen taten sie so, als bildete er sich alles nur ein.
Der Tapeziertisch biegt sich unter der Last des ersten Frühstücks in der neuen Wohnung, und das ist bei der dünnen Platte und seinen Spinnenbeinen keine Metapher.
»Vorsichtig hinsetzen«, warnt Marlu. »Der Tisch ist für Tapeten ausgelegt.«
»Ist mir bekannt«, murmelt Stefan, dessen Nase fast in der festen Crema in seiner Wildrosentasse steckt. »Wahrscheinlich wirst sowieso du diejenige sein, die hochrumpelt und den Tisch mitsamt dem Rosengarten abräumt.«
Marlu beißt in ihr Croissant und nuschelt mit vollem Mund: »Deim Pater hat angehufen«, und beim f segeln die Teigbrösel lustig über den Tisch. »Hast du das nicht gehört?«
»Doch, aber ich hab gedacht, der...