Graf | Ernst Troeltsch | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 671 Seiten

Graf Ernst Troeltsch

Theologe im Welthorizont
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-406-79015-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Theologe im Welthorizont

E-Book, Deutsch, 671 Seiten

ISBN: 978-3-406-79015-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ernst Troeltsch (1865 - 1923) ist einer jener Riesen, auf deren Schultern so viele Gelehrte stehen, dass ihr eigenes Bild unscharf wird. Der renommierte Theologe, Historiker und Troeltsch-Experte Friedrich Wilhelm Graf verleiht in seiner meisterhaft geschriebenen Biographie einem Theologen, Soziologen, liberalen Politiker und Zeitdiagnostiker scharfe Konturen, den die Frage umtrieb, wie sich Religion und Moderne – trotz aller Widerstände von beiden Seiten – in ein zeitgemäßes Verhältnis zueinander setzen lassen. Weit über Leben und Werk Ernst Troeltschs hinaus ist seine Biographie ein bestechend klarer Beitrag zu einem bis heute virulenten Problem.

Als Religionssoziologe und Historiker steht Ernst Troeltsch im Schatten seines Heidelberger Freundes und Kollegen Max Weber. Konnte er als Theologe überhaupt ein «wertneutraler» Sozialwissenschaftler sein? Oder war er gar kein richtiger Theologe? Beides zusammenzubringen irritiert bis heute und war doch, wie Friedrich Wilhelm Graf zeigt, Troeltschs ureigenes Anliegen, das für ihn politische Bedeutung hatte. Troeltsch erforschte die Kulturbedeutung der Religion, um den Protestantismus aus traditionellen kirchlichen und dogmatischen Bindungen zu befreien. Nach dem Ersten Weltkrieg trat er als liberaler Politiker für die Weimarer Republik ein und rückte in seinen berühmten zeitdiagnostischen Kommentaren die Probleme der Gegenwart in einen «Welthorizont». Graf rekonstruiert die lebens- und werkgeschichtlichen Konstellationen, die den liberalen Protestanten prägten, und erhärtet damit auf brillante Weise Ernst Troeltschs Überzeugung, dass sich die eigentliche Bedeutung einer Person oder Sache erst in ihrer konsequenten Historisierung erschließt.

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Einleitung: Der Vielspältige
Reden am Sarg
Berlin-Wilmersdorf, Samstag, der 3. Februar 1923, mittags um 12.00 Uhr. Die große Haupthalle des erst neun Monate zuvor, am 11. Mai 1922, eröffneten Krematoriums ist überfüllt. Bedeutende Gelehrte und Künstler, einflussreiche Politiker und Journalisten, junge Wissenschaftler und zahlreiche Studierende sitzen und stehen dicht gedrängt auf engem Raum, um von Ernst Troeltsch Abschied zu nehmen – einem der damals bekanntesten, heute nur noch von wenigen erinnerten deutschen Intellektuellen. Seine Frau Marta, sein neunjähriger Sohn Ernst Eberhard und sein Bruder Rudolf sind im Wagen Paul von Hindenburgs, des einstigen Generalfeldmarschalls und künftigen Reichspräsidenten, zum Krematorium gefahren worden. Sie müssen durch die dicht gedrängte Menge der im Giebelbau der Vorhalle und auf dem Vorplatz Wartenden gehen, die keinen Einlass mehr finden können und der durch Lautsprecher übertragenen Trauerfeier draußen unter tief hängenden grauen Wolken folgen. Sie frösteln bei knapp acht Grad, starken Windböen und mehreren heftigen Regenschauern. Aber in der Halle ist es kaum wärmer. Viele der Trauernden sind tief bewegt. «Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, dass kein Tod seit Jahren das geistige Deutschland mehr erschüttert hat als der von Ernst Troeltsch, dies geistige Deutschland, das doch immer noch der Kern Deutschlands ist und die Hoffnung künftiger Erneuerung», wird der konservative Politikwissenschaftler und Publizist Adolf Grabowsky im Märzheft der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Das neue Deutschland schreiben.[1] In der Presse ist von einer «vielhundertköpfigen Trauerversammlung»[2] zu lesen. Troeltschs plötzlicher Tod am frühen Morgen des 1. Februar hat selbst nahe Freunde völlig überrascht und auch manche seiner akademischen Kontrahenten und politischen Gegner stark bewegt. Sichtlich schockiert ist auch der um 1920 weltweit bekannteste deutsche Geisteswissenschaftler Adolf von Harnack. Nicht als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Direktor der Preußischen Staatsbibliothek und Ordinarius für Kirchengeschichte an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, sondern im schwarzen Talar mit Beffchen des evangelischen Pfarrers hält er seine Rede am Sarge Ernst Troeltschs weithin frei, gestützt nur auf ein Stichwortmanuskript von vier Seiten. Die meisten Anwesenden empfinden sie als ergreifend, berührend, überaus einfühlsam. «Bei der Beisetzung im Krematorium hielt Harnack die Leichenrede, und er, dem man so oft eine kühle Zurückhaltung nachsagte, fand Worte, die tief ins Herz griffen»,[3] erinnerte sich viele Jahre später der Kunsthistoriker Werner Weisbach, ein Freund Troeltschs, der Mitte der 1890er Jahre vom Judentum zum Protestantismus konvertiert war. Nachdem als Präludium «O Ewigkeit, du Donnerwort» von Johann Sebastian Bach auf der Orgel erklungen ist, hält Harnack seine Gedenkrede auf den vierzehn Jahre jüngeren Freund. Er beginnt seine Ansprache mit dem Kanzelgruß «Der Friede des Herrn sei mit uns!» und liest zunächst den Predigttext aus Jesaja 40,1–2a und 6–8 vor, den die Gemeinde mit einem Amen bekräftigt. Dann spricht er die Trauergemeinde an: «Andächtig Leidtragende!» Seine Aussagen unterstreicht er, indem er seine Predigt mit dem Zitat eines Chorals Gerhard Teerstegens abschließt. Danach betet er mit der Gemeinde das Vaterunser. Darauf folgt erneut ein Orgelstück. Harnack ist bemüht, den von ihm gestalteten gottesdienstlichen Teil der Trauerfeier klar von den folgenden akademischen und politischen Gedenkreden abzusetzen. Die von Harnack ausgewählten Texte lassen eine intime Vertrautheit mit Troeltschs Theologie und Herzensglauben erkennen. «O Ewigkeit, du Donnerwort» ist ein Kirchenlied von Johann Rist, das 1642 im vierten Teil seiner Himmlischen Lieder als «Ernstliche Betrachtung der unendlichen Ewigkeit» publiziert wurde. Die Trauergemeinde muss es als eine Anspielung auf die Lebensarbeit des Toten gehört haben, denn Rists Lied stellt eine Bearbeitung der 50. Meditation von Johann Gerhards 1606 erschienenen Meditationes sacrae dar, die den Titel «De poenarum infernalium aeternitate. Tormenta aeterna malorum» trägt. Johann Gerhard, der führende Dogmatiker der altlutherischen Orthodoxie um 1700, nahm hier zentrale Motive aus Dantes «Inferno» auf. Mit der Lesung der ersten Strophe von Rists Lied spielte Harnack also nicht nur auf Johann Gerhard an, über den Troeltsch seine Dissertation geschrieben hatte, sondern zugleich auf Dante. Viele Teilnehmer der Trauerfeier dürften daran gedacht haben, dass Harnack gemeinsam mit Troeltsch am 3. Juli 1921 die große Deutsche Dante-Feier gestaltet hatte; Troeltsch hatte damals nach Harnack über den Berg der Läuterung gesprochen.[4] Auch die Wahl des Predigttextes verdient Beachtung. Mit Jesaja 40,1–2a.6–8 wählte Harnack einen Prophetentext des Alten Testaments, der in der protestantischen Funeralkultur hohen Rang gewonnen hatte. «Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich […] Es spricht eine Stimme: Predige!, und ich sprach: Was soll ich predigen? Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des HERRN Odem bläst darein. Ja, Gras ist das Volk! Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.» Die Zitation des «Redet zu Jerusalem freundlich» mag als Versuch zu lesen sein, die vielen anwesenden Juden anzusprechen. Entscheidender dürften die über den Text sich erschließenden Chancen sein, mit der unaufhebbaren Spannung von Zeit und Ewigkeit ein zentrales Lebensthema Troeltschs ins Zentrum der religiösen Reflexion zu rücken. Auch bot der Text Harnack die Möglichkeit, die eigene Rolle zu thematisieren: «Was soll ich predigen?» Mit dem unvergänglichen, ewiglich bleibenden Wort Gottes war zudem der identitätskonstitutive Topos protestantischer Überlieferung bezeichnet, so dass Harnack auch das philosophische Werk des Freundes in seiner implizit protestantisch-theologischen Struktur transparent machen konnte. Außerdem enthielt der Text das für jede Trauerfeier grundlegende Motiv des Trostes. So griff der Prediger die klassischen Elemente christlicher Funeralrhetorik auf: laudatio (Lob), lamentatio (Klage) und consolatio (Trost). Wohl allen Anwesenden war bewusst, dass der Prediger und der Verstorbene einander in enger Freundschaft verbunden gewesen waren. Harnack meisterte das in dieser biographischen Nähe liegende Problem, indem er zunächst souverän in professionsspezifischer Rollendistanz verharrte. Erst im Schlussteil seiner Predigt kam er auf viele Gespräche mit Troeltsch zu sprechen. Nach dem ausführlichen Zitat der Schlusssätze des Historismus-Bandes, die er zum «wissenschaftlichen Testament» des Freundes stilisierte, ließ er ihn gesprächsweise zu Wort kommen, bevor er dessen schwierige, schnell verletzende und leicht verletzliche «Persönlichkeit» charakterisierte. Folgt man dem letzten Absatz der im Berliner Tageblatt veröffentlichten Ansprache, dürfte sich der Prediger daraufhin dem Sarg zugewandt haben; Harnack sprach den Toten nun direkt als «Lieber, teurer Freund» an, um erneut zu klagen: «Wir werden dich nicht mehr sehen und deine Stimme nicht mehr hören; o, wie bitter ist das, und wie schwer fällt es, Herr zu werden über die Gefühle der Natur.»[5] Mit dieser direkten Anrede des Toten – die sich im Entwurf seiner Predigt nicht findet! – verstieß Harnack gegen elementare Grundregeln protestantischer Homiletik oder Predigtlehre. In der evangelischen Tradition galt es seit den Wittenberger Reformatoren als ausgemacht, dass die Leichenpredigt keiner fiktionalen Kommunikation mit dem Verstorbenen Vorschub leisten darf – er kann ja nicht mehr hören. Die Predigt am Sarg oder Grab hat strikt der religiösen Repräsentation der nun definitiv abgeschlossenen individuellen Lebensgeschichte des Toten vor der klagenden, trauernden Gemeinde zu dienen, um ihre Verzweiflung sprachfähig zu machen und Trost zu vermitteln. So kann Harnacks rhetorische Strategie, den Freund vor der repräsentativen Öffentlichkeit der Trauernden (oder zumindest: vor den Feuilleton-Lesern des Berliner Tageblatts) direkt anzusprechen, nur überraschen. Wollte Harnack der Trauergemeinde deutlich machen, wie sehr ihn Troeltschs Tod persönlich, als engen Freund, getroffen hatte? Oder diente die direkte Anrede des Toten primär als ein Mittel, um dem trostvollen Evangelium vom «Gott der Lebendigen» Geltung zu verschaffen?...


Friedrich Wilhelm Graf ist Professor em. für Systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Er war Vorsitzender der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft und ist geschäftsführender Herausgeber der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Ernst Troeltschs. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. "Kirchendämmerung" (2013), "Götter global" (2014) sowie "Der Protestantismus" (2017).



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