Graf | Das Leben meiner Mutter | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 576 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Graf Das Leben meiner Mutter


11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8437-0192-1
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 576 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-8437-0192-1
Verlag: Ullstein HC
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»Wenn all meine Bücher vergehn - des Buch bleibt«, sagte Oskar Maria Graf über seinen 1940 erschienenen Roman. Er sollte Recht behalten: Das liebevolle, eindringliche Porträt seiner Mutter, die mit ruhiger Kraft ihre Familie zusammenhielt, gilt heute als sein Meisterwerk. Geboren 1857, gestorben 1934. Ludwig II., Bismarck, Hitler, der Krieg 1870/71 und der 1. Weltkrieg, die industrielle Revolution und die Weimarer Republik - Resl Heimrath verbrachte ihr Leben in einer Zeit voller Umbrüche. Von Kindheit an war ihr Alltag harte Arbeit und Mühe. Das änderte sich nicht, als sie den Bauernhof ihrer Familie verließ und den Bäckermeister Max Graf heiratete. Sie bekam elf Kinder, von denen acht erwachsen wurden, und blieb trotz aller Ängste, die sie in Kriegs- und Gefahrenzeiten ausstand, der ruhende Pol des  Bäckerhauses am Starnberger See. Oskar Maria Graf hat mit diesem Porträt seiner Mutter nicht nur eine Chronik dörflichen Lebens in Oberbayern geschaffen, sondern auch einen sozial- und zeitkritischen Roman von großer poetischer Kraft.

Oskar Maria Graf wurde 1894 in Berg am Starnberger See geboren. Von 1911 an lebte er als Schriftsteller in München. Von Wien aus, seiner ersten Exilstation, protestierte er 1933 mit seinem berühmten »Verbrennt mich!«-Aufruf gegen die Bücherverbrennung. Ab 1938 lebte er in New York, wo er am 28. Juni 1967 starb.
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Verwickelte Fäden


Sie hieß Theres Heimrath oder vielmehr Resl, wie man sie in gewohntem Dialekt nannte, und war die vierte von neun Geschwistern. Zwei davon waren, kaum halbjährig, gestorben, bevor sie zur Welt gekommen war, und wiederum zwei, darunter der einzige Sohn, starben, als sie noch nicht zur Schule ging. Man schrieb den 1. November 1857. Am Nachmittag dieses Allerheiligentages, da die Leute nach altem Brauch im Gottesacker des nahen Pfarrdorfes Aufkirchen die Gräber ihrer Verstorbenen aufsuchten, erblickte sie das Licht des Tages. Ihre Mutter soll, so wird erzählt, schon in den Wehen gelegen haben, als der Bauer und die Dienstboten das Haus verließen. Die religiöse Pflicht erschien ihnen wichtiger als bedrängte Mutterschaft und Kindsgeburt. Niemand war in der Ehekammer als die einjährige Genovev, die plappernd auf dem Boden herumkroch, manchmal ans Bett der Mutter kam, deren heiße, verkrampfte Hände betastete, verwundert aufschaute, erschreckt von den wimmernden Wehlauten der Gebärenden, zu weinen anfing und wieder wegtappte. Zwischen Tod und Leben schwebend, betete die Heimrathin in ihrem Schmerz und überstand alles. Erst beim Hereinbruch der Dunkelheit kamen die Ihrigen zurück und fanden neben der erschöpften Mutter das neugeborene, schreiende Kind. Die kleine Genovev hatte sich unter einer Bettstatt verkrochen.

Vielleicht war die Nachwirkung all dieser Umstände der Grund, weshalb der Tod im Leben der Resl, wie im Leben aller durchaus gesunden Menschen, eine so beherrschende Rolle spielte. Sie fürchtete ihn als Kind ebenso wie als Greisin, und sie empfand ihn, wenn er nicht sie und die Ihren bedrohte, stets als den großen gerechten Ausgleicher, der den Armen auslöscht und auch nicht halt macht vor Glanz und Reichtum, vor Macht und Größe.

Nachdem mit der Zeit die Gesichtszüge des Kindes deutlicher geworden waren und insbesondere die breiten, stark hervortretenden Backenknochen mit den tief dahinterliegenden kleinen graugrünen Augen das Eigentümliche des Geschlechtes mehr und mehr sichtbar machten, meinte sein Vater mitunter, die Resl sei durch und durch eine echte Heimrathische. Er sagte es sicherlich nicht aus irgendeiner besonderen Hinneigung, denn mit den Kindern machte man beim Heimrath kein großes Aufheben. Jedes Jahr wurde eins geboren. Starb es, so war es schade darum, blieb es am Leben, war es gut. Wahrscheinlich erinnerte das Gesicht der Resl den Bauern an seine Väter und Urväter und heimelte ihn an.

Die Heimraths lebten seit Jahrhunderten auf dem einsamen Bauernhof in Aufhausen. Es gab dort nur noch das weit kleinere Lechnerhaus, und erst in den letzten Jahren nach dem Weltkrieg ist ein gräfliches Gut dazugekommen. Die alte, breite Fahrstraße, die vom hochgelegenen, weithin sichtbaren Aufkirchen in südöstlicher Richtung talabwärts läuft, führt am Hof vorbei, rinnt kurz darauf in einen weit ausgedehnten Fichtenwald und erreicht schließlich nach langen Windungen durch eine triste Moorgegend, in welcher nur wenige niedere, winklige Häuser armer Torfstecher stehen, den ansehnlichen Marktflecken Wolfratshausen. Aufhausen liegt in einer tellerflachen Mulde, die linkerseite sich aufschließt und schräg abfällt. Weite grüne Wiesen, fruchtbare Äcker und friedliche Wälder, die die fernen, leicht gewellten Hügel verdunkeln, breiten sich rundherum aus. Auf der einzigen Straße ächzen schwere Fuhrwerke dahin. Wandernde Zigeuner ziehen am Hof vorüber und kampieren mitunter einige Tage am Waldrand. Fremde städtische Menschen tauchen ganz selten auf. Gleichgültig schauen sie die paar Häuser an und gehen weiter. Es mag vorkommen, daß einmal ein Hausierer nach langem Gerede in Aufhausen etwas von seiner Ware absetzt. Hin und wieder kommt der Pfarrer, oder ein Bettelmönch tritt in die verrußte, geräumige Kuchl. Sie werden ehrfürchtig empfangen und in die nebenanliegende, helle, selten benützte gute Stube geführt.

Gleich und gleich blieben Zeit und Leben für Aufhausen. Deshalb sind auch die Überlieferungen der Heimraths ziemlich spärlich. Für sie muß es nie etwas anderes gegeben haben als Geborenwerden, Aufwachsen, unermüdliche Arbeit, demütige Gottesgläubigkeit und Sterben.

Während des Dreißigjährigen Krieges, in den Jahren 1632 und 34, verwüsteten die Schweden zweimal die Dörfer und Höfe der katholischen Pfarrei Aufkirchen. Die Wiesen waren erstmalig gemäht, die noch grünen Getreideäcker standen prall da und versprachen eine reiche Ernte. Die Bauern verließen Haus und Feld und flohen in die dichten Wälder. Der Pfarrer Georg Colonus irrte von einem Haufen Flüchtender ab und wurde von feindlichen Reitern ergriffen. Sie hieben erbarmungslos auf ihn ein, banden seinen blutig zerschundenen Körper an einen Strick, befestigten diesen am Sattelknopf und schleiften den unglücklichen Geistlichen so lange mit, bis er sich nicht mehr rührte. Kurz vor Aufhausen ließen sie ihn liegen. Er erwachte nach einiger Zeit, kroch mühsam weiter und fand schließlich die Seinigen im Wald. Wie durch ein Wunder blieb er am Leben und wurde wieder gesund. Nach dem ersten Abzug der Schweden zeichnete er gewissenhaft die Namen der 23 Bauern auf, die von den feindlichen Soldaten ermordet worden waren. Darunter befand sich auch der Lechner von Aufhausen. Die Heimraths waren davongekommen.

Zwei Jahre darauf, anno 34, ergriff Colonus beim Wiedereindringen der schwedischen Scharen in den Aufkirchner Gau die Flucht und blieb neun Wochen fort. Nach seiner Rückkehr legte er abermals eine genaue Liste der getöteten Pfarrangehörigen an. In diesen Aufzeichnungen sind auch alle Verwüstungen durch den Feind der Reihe nach angegeben. Das nahe Schloß in Bachhausen, das dem kaiserlich-bayrischen Generalkriegskommissar Graf von Rüpp gehörte, die meisten Dörfer und Einzelhöfe wurden schonungslos niedergebrannt. Die Heimraths mußten auch diese schreckliche Zeit ohne sonderlichen Schaden überlebt haben. Merkwürdig, ihr Hof – alleinstehend, ansehnlich, kaum eine Viertelstunde vom Pfarrdorf entfernt, an der Fahrstraße liegend – konnte den rachsüchtigen, beutegierigen Feinden doch nicht entgangen sein! Er war doch unmöglich zu übersehen!

Allem Anschein nach aber ist er verschont geblieben, denn Colonus berichtet nichts Gegenteiliges, ja, er erwähnt die Heimraths nicht einmal mit einem einzigen Wort. Wenngleich dies nun durch nichts belegt werden kann, bei einiger Verwegenheit der Vorstellung könnte man fast annehmen, der Aufhauser Bauer habe zur Rettung seines Hab und Gutes einen anderen Weg als die kopflose Flucht in die Wälder eingeschlagen. Vielleicht sagte er sich in stumpfer Gelassenheit: »Krieg ist eben Krieg, und alles hängt vom Zufall ab. Was hab’ ich schon davon, wenn ich davonlaufe und beim Zurückkommen statt meines schönen Hofes einen Aschenhaufen finde! Lieber gleich als Heimrathbauer sterben, bevor ich ein Leben lang als Bettler im ungewissen herumlaufe. Bleiben wir und schauen wir, was wird! Besser ist’s, einiges einzubüßen, als alles sinnlos zugrunde gehen zu lassen.«

Vielleicht ließ er Tür und Tor offen und empfing die rauhen Kriegsleute unerschrocken wie ein biederer Wirt, bot ihnen bereitwillig Speis und Trank an und ließ sie kaltblütig gewähren. Eine so abgebrühte, breit lachende, bezwingend-schlaue Bauernfreundlichkeit, die ein Heimrath dem anderen von Generation zu Generation vererbte, mag vielleicht auf die hitzigen Schweden derart verblüffend gewirkt haben, daß sie nach all dem wilden Fliehen und hilflos bittenden Jammern, das ihnen bis jetzt überall begegnet war, eine solche Einkehr als angenehme Abwechslung empfanden und schließlich abzogen. Demütig und gar nicht eitel darüber, daß sein kluger Einfall sie vor dem Schlimmsten bewahrt hatte, aber doch tief zufrieden, wird der Heimrath mit den Seinen dem Allmächtigen gedankt haben. Denn nichts vermochte der Mensch, alles stand in »Gottes Hand«.

Gewiß sind das nur Mutmaßungen, dennoch ist eine so kühne Schlußfolgerung, wenn man alles scharf überdenkt, nicht ganz von der Hand zu weisen.

In den darauffolgenden zwei Jahren raffte die Pest, die mit dem unseligen Krieg in die Gaue gekommen war, zahlreiche Familien dahin. Das pfarramtliche Totenregister enthält keinen Namen Heimrath. Zum ersten Male wird einer von ihnen im Zusammenhang mit einer Aufzeichnung aus dem Jahre 1645 im sogenannten Mirakelbuch der Aufkirchner Pfarrchronik namentlich erwähnt. Es heißt da, einer seiner Knechte habe sich in der Christnacht noch einmal im Stall bei den Pferden zu schaffen gemacht und dabei durch ein Guckloch in den dunklen, rauhreifüberzogenen Obstgarten geschaut. Da sei »ein rotfeuriger böser Geist« durch dieses Loch gefahren, habe den Knecht gewaltmäßig gepackt, ihn hin und her geworfen, in den Garten hinausgezerrt und in den Brunnen werfen wollen. In seiner Not habe sich der Knecht der gnadenspendenden Gottesmutter von Aufkirchen »versprochen« und daraufhin sei der endlich vom Bösen losgelassen worden. Den Bauern aber – so dichteten fromme Leute dazu – wahrscheinlich, weil er zugelassen hatte, daß der Knecht in der hochheiligen Nacht noch etwas arbeiten wollte, soll später der Teufel geholt haben. Es ist anzunehmen, daß dieser Heimrath kein anderer gewesen ist als jener, der seinerzeit den letzten Schwedeneinfall unbetroffen überstanden hatte. Was aber nun die abträgliche Hinzufügung der Leute anlangt, die einer förmlichen Verfemung des Hofes gleichkam, so überzeugt sie auch dann noch nicht, wenn man den fanatisch übersteigerten katholischen Glaubenseifer, der die Aufkirchener Pfarrkinder in jener unduldsamen Kriegszeit ergriffen hatte, bei der Begründung zu Hilfe nimmt. Viel eher scheint einzuleuchten, daß böser Neid dabei eine bestimmte Rolle gespielt haben mag. Erst zwölf Jahre waren seit dem...


Graf, Oskar Maria
Oskar Maria Graf wurde 1894 in Berg am Starnberger See geboren. Von 1911 an lebte er als Schriftsteller in München. Von Wien aus, seiner ersten Exilstation, protestierte er 1933 mit seinem berühmten 'Verbrennt mich!'-Aufruf gegen die Bücherverbrennung. Ab 1938 lebte er in New York, wo er am 28. Juni 1967 starb.

Oskar Maria Graf wurde 1894 in Berg am Starnberger See geboren. Von 1911 an lebte er als Schriftsteller in München. Von Wien aus, seiner ersten Exilstation, protestierte er 1933 mit seinem berühmten »Verbrennt mich!«-Aufruf gegen die Bücherverbrennung. Ab 1938 lebte er in New York, wo er am 28. Juni 1967 starb.

Weitere Informationen zu Oskar Maria Graf finden Sie auf  http://www.oskarmariagraf.de



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