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E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Grader Caspers Weltformel

Roman
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-25545-9
Verlag: Diederichs
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-641-25545-9
Verlag: Diederichs
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Liebe kann man nicht berechnen

»Ich habe eine Formel. Hab‘ es zwar noch nicht nachgerechnet, aber eigentlich müsste es funktionieren. Ich mach‘ einfach immer das Gegenteil von dem, was ich sonst machen würde. Verstehst du?«

Der Physik-Doktorand Casper aus Berlin hat eine Formel entwickelt, mit der er soziale Interaktionen berechnen kann. Mit Hilfe der Formel kann er all das, was ihm widerfährt, vorherbestimmen. Seine Lebensfreude geht in der Gleichförmigkeit verloren - bis er die erstbeste Gelegenheit am Schopfe packt, um auszubrechen: Eine Reihe von Zufällen verschlägt Casper nach Budapest, wo er auf Ilona trifft. Im Bemühen, die Dinge und Menschen vorherzusehen, kommt Casper bei ihr an seine Grenzen. Mit ihrer verträumten Lebensweise ist sie so ganz das Gegenteil von ihm. Doch gerade die Unterschiede sind es, die beiden helfen, einen neuen Blick auf das Leben zu gewinnen.
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CASPER

An diesem Sonntag im August ist es so heiß, dass sich selbst die Tauben ein schattiges Plätzchen suchen, um nicht unter der Sonne zu verbrennen. Casper schultert seine Reisetasche, in der anderen Hand schwebt die Aktenmappe über glühendem Asphalt.

Für die Bahnreise nach München wird ein ganzer Tag draufgehen. Was bleibt ihm auch anderes übrig? Er hat versprochen zu kommen, jetzt muss er sich daran halten.

Die Mutter wird sein Bett frisch beziehen, ein neues vegetarisches Rezept ausprobieren. Am Montag werden sie zu zweit eine Ausstellung besuchen, nach jedem Mittagessen spazieren gehen. Am Samstag wird er in einer Bar sitzen und belanglose Gespräche führen, nachts in die Tasten seines Laptops hacken, dann wieder nach Berlin fahren.

Morgens aufstehen, in die Uni radeln, irgendwas essen, zu Bett gehen und so weiter, bis er wieder nach München muss. Er seufzt, dann ist er an der Reihe am Ticketschalter.

»Unjünstiges Wetter, um lange Bahnreisen anzutreten«, näselt der Service-Mitarbeiter, als er das Ticket durch den Schlitz der Glaswand schiebt. Mit dem Ticket entweicht stickige Luft aus dem Schalterkabuff. Casper kann sie fast schmecken.

»Wahrscheinlich schon.«

Casper öffnet seine Aktentasche, legt das Ticket hinein und schließt sie wieder.

»Und der Hut? Mene Jüte, muss doch janz schön heiß unter dem Ding sein …!«

Casper zuckt mit den Schultern.

»Ihnen einen schönen Tag noch.« Er zieht den Hut zur Verabschiedung. Als er sich im Fortgehen noch mal umdreht, sieht er, dass der Mitarbeiter den Kopf schüttelt. Während er den Abriss faltet und den Locher ansetzt, murmelt er vor sich hin, offensichtlich leicht verstört.

Es ist nicht im Geringsten verwunderlich, dass ausgerechnet der Service-Mitarbeiter so auf den Hut reagiert: Hüte sind heutzutage nicht mehr allgegenwärtig. Casper zieht sein Notizbuch aus der Jackentasche und blättert, bis er die richtige Seite gefunden hat, macht ein Kreuz, schließt das Notizbuch und lässt es wieder in die Tasche gleiten.

Es ist der hundertzwölfte Service-Mitarbeiter, der seinen Hut anstarrt, der einundneunzigste, der einen Kommentar dazu abgibt. Casper dreht sich erneut um, der Schaltermensch sagt irgendwas zur Trennwand und nickt. Die Kabine neben ihm ist leer. Ein sauberer Schlag mit der flachen Hand auf den Locher, dann zieht er ein kariertes Tuch aus der Brusttasche und wischt sich die Schweißperlen von der Halbglatze, bevor er das Stück Papier abheftet.

Jeden Tag sitzt er da, wahrscheinlich acht Stunden lang und atmet die stickige Luft. Druckt Fahrscheine aus und heftet Quittungen ab. Wenn er sich umdreht, sieht er eine graue Wand. Wenn er sich nach links dreht, sieht er eine graue Wand. Wenn er sich nach rechts dreht, sieht er eine graue Wand. Er schiebt Papier durch die Luke in der Glaswand und fragt Leute, warum sie bei heißen Temperaturen Hüte tragen.

Wo er wohl abends hingeht, wenn er sein Kabuff absperrt? Kippt er noch ein Pils in seiner Stammkneipe hinter dem Hauptbahnhof? Oder wandert er direkt nach Hause, in seine Schuhschachtel-Wohnung? Setzt sich vor den Fernseher, wie ein Hamster ins Laufrad?

Casper seufzt. Irgendwie ist es auch egal, wo der Mann hinter dem Schalter hingeht. Casper selbst ist nämlich genau so ein Schaltertyp, im übertragenen Sinn.

Caspers Kabuff ist ein bisschen größer. Sein Büro in der Uni hat richtige Wände, die etwas mehr Raum einschließen, und ein Fenster gibt es auch – aber alles in allem ist es ein fader, farbloser Raum.

Er druckt Matrizen anstatt Fahrscheine, heftet Berichte anstatt Quittungen ab. Manchmal geht er in die Stammkneipe hinter der Uni und gönnt sich ein Bier nach der Arbeit. Kein Pils, sondern ein Helles, trinkt es schweigend und langsam. Manchmal fährt er direkt in seine Schuhschachtel zurück.

Der Laptop ist sein Laufrad. Außerdem ist da noch Berlin. Eine feine Ablenkung vom Abheften im Alltag – aber eben nichts Echtes.

Casper ist eingefroren, steht stumm zwischen all der Bewegung, zwischen den hetzenden Reisenden, den rollenden Trolleys, starrt auf den Schaltermenschen in seinem grauen Kabuff, der ihn schon längst nicht mehr sieht, der nicht ahnt, welche Beklemmung seine Existenz bei dem jungen Herren mit Hut auslöst.

Wie kommt man da raus? Wie zum Teufel kommt man da raus?, denkt Casper, während er sich endlich wieder in Bewegung setzt und auf die Fernzüge zusteuert.

Casper nimmt einen Schluck aus der Wasserflasche, bevor er sich die letzte Zigarette anzündet.

Diese eine noch und dann nie wieder, denkt er. Diesmal wird er es schaffen. Aus München zurückkommen und Nichtraucher sein. Andächtig inhaliert er. Der heiße Rauch trocknet seinen Mund aus, er schüttet sich lauwarmes Wasser aus der fast leeren Flasche hinterher. Es schmeckt nach Zigarette. Zwischen den letzten Zügen trinkt er den Rest und schlendert zum Mülleimer auf dem Bahngleis.

Nachdem er seine ausgedrückte Zigarette weggeschmissen hat, sieht er ihr bedauernd dabei zu, wie sie zwischen Bananenschalen, Flaschendeckeln und Papiertüten rutscht. Soll das die eine letzte gewesen sein?

Casper seufzt wieder.

Die allerletzte Zigarette muss man zelebrieren und mit einem feierlichen Gefühl im Bahnhofsaschenbecher versenken, bis der Filter ganz mit Sand bedeckt ist. Darauf hat er sich gefreut. Das muss sein, damit er abschließen kann.

Schon steht er vor einem Tabakladen und steuert auf den Eingang zu. Kurz vor der Ladenschwelle rempelt ihn ein hustender, nach Rauch riechender Typ an, der aus dem Geschäft kommt.

Ekelhaft. Casper zögert. So will er nicht werden.

Er muss weg, egal wohin. Hauptsache nicht Zigaretten kaufen. Er zwingt sich umzudrehen und weiterzugehen, genau in die entgegengesetzte Richtung.

Dann sieht er es. Stolpernd bleibt er stehen, starrt auf die riesige Werbetafel, die sich fast bis zur Decke der Bahnhofshalle erstreckt.

»Wann fühlen Sie sich wirklich lebendig?«, steht da in riesigen Lettern vor einem Bergpanorama mit Sonnenaufgang. Casper schluckt.

»Wann fühlen Sie sich wirklich lebendig?«

Die Frage ist ganz allein an ihn gerichtet. Hier in diesem Bahnhof, zwischen all den anderen, die pünktlich in ihre Züge steigen, abfahren, ankommen und weitermachen.

»Wann fühlen Sie sich wirklich lebendig?«, liest er noch mal und formt dann mit den Lippen den einen Satz, der all seine Zweifel auf den Punkt bringt.

»Lebendig fühle ich mich nicht.«

Casper kann seinen Blick nicht von den Wolken lösen, die wie Milchschaum um den höchsten Gipfel wabern.

Was ist das überhaupt für eine Frage?

Wer fühlt sich denn lebendig, morgens in den Öffentlichen, auf dem Weg zur Arbeit? Wahrscheinlich die Wenigsten.

Sich lebendig fühlen kann nur das Gegenteil davon sein.

Das Gegenteil von Vorhersehbarkeit.

Und Casper? Wann fühlt er sich wirklich lebendig?

Eigentlich immer dann, wenn er sein Leben verlieren könnte.

Eben wie früher, auf einer Bergtour. Damals war Lebendigsein wertvoll. Das Kochen auf dem Feuer, das Einkuscheln in den warmen Schlafsack, das Laufen, Klettern, Festhalten.

Der Geruch von Harz, Tannen, Kräutern und irgendwann dann Schnee. Sternenklare Nächte, die beißende Kälte im Zelt, umgeben von Eis und Wind. Tagelang ging es nur ums Überleben und die unvergleichliche Müdigkeit danach. Ums Aufpassen, Nicht-Abrutschen. Um die richtige Einteilung der Ration, das Trotzdem-satt-Werden. Ums Improvisieren, wenn einem das letzte Sturmfeuerzeug kaputtgeht.

Während er jeden Zentimeter des Bergpanoramas sehnsüchtig aufsaugt, fällt ihm plötzlich der untere Rand des Plakats ins Auge. »Fotografiere die Freiheit, halte sie fest!«, steht da kleiner, neben dem Bild einer sicher viel zu teuren Profi-Outdoor-Kamera.

Erschreckt von seinem eigenen lauten Auflachen wird ihm bewusst, dass er wie versteinert auf eine Werbetafel inmitten der Bahnhofshalle starrt und wirres Zeug vor sich hin murmelt. Und, dass die Zeit dabei nicht stehen geblieben ist. Hektisch fängt er an, seine Hosentaschen nach dem Handy abzuklopfen. »Entschuldigen Sie, wie viel Uhr ist es?«, fragt er einen Westenträger neben sich, der nur mit den Schultern zuckt. Er stürmt zurück in die Haupthalle, bis er vor der großen Uhr bei den Fernzügen steht.

Sein Zug ist bereits vor drei Minuten abgefahren.

Einen Moment braucht Casper, um zu begreifen, was gerade passiert ist. Dann zuckt er mit den Schultern, geht geradewegs in den Tabakladen, kauft sich zwei Packungen Rattray’s Pfeifentabak, Öko-Zigarettenpapier und abbaubare Filter. Fotografiere die Freiheit? Na warte.

Er kramt sein Smartphone aus der Aktentasche, macht ein unscharfes Foto von sich selbst vor der Abfahrtstafel und nickt. Schön. Mit dem Pfeifentabak dreht er sich eine Zigarette und analysiert das Foto, während er tief inhaliert. Es ist leicht verschwommen, aber doch ausdrucksstark. Er stellt sich vor, dass es irgendwann mal in einer Galerie hängt. Blasser Typ mit Hut, der seinen Zug verpasst hat. Ein toller Titel. Das Foto macht diesen Moment zwar nicht besser, aber nach der Zigarette sieht er plötzlich klar. Er hat tatsächlich gerade die Freiheit fotografiert. Einen Zug zu verpassen, heißt nämlich immer, dass man einen anderen nehmen kann. Einen, der woanders hinfährt. Er beginnt zu grinsen. Der Zug nach München ist weg. Und Casper ist ganz zufrieden mit der Welt.

Er setzt sich auf die Bank gegenüber des Fahrkartenschalters und denkt darüber nach, was er jetzt wirklich tun...


Grader, Victoria
Victoria Grader (Jg. 1992) hat in München und Venedig Praktische Philosophie studiert. Sie promoviert im Bereich der Technikphilosophie und lehrt Ethik für Naturwissenschaftler. Die Autoren der Münchner Autorengruppe Prosathek sagen von ihr: »Victoria erzählt vom Surrealen im Sinnesmeer.«



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