Goubran | Das letzte Journal | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Goubran Das letzte Journal


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-99200-134-7
Verlag: Braumüller Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-99200-134-7
Verlag: Braumüller Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Alles noch einmal in die Hand nehmen. Ein letztes, ein allerletztes Journal schreiben. Dann das Buch zuklappen und alles, was man darin aufgezeichnet hat, vergessen.' Wien, Herbst 2008. Nach 41 Jahren begegnet der Schriftsteller Aumeier seiner Jugendliebe Terése wieder und zieht auf ihr Anwesen, wo er beginnt, sein Journal zu schreiben. Er erfährt die Ursache für ihre gewaltsame Trennung und sieht sich in der Gestalt des alten Schwarzkoglers mit einem mächtigen Gegenspieler konfrontiert. Das letzte Journal ist ein in sich abgeschlossenes Buch. Es verweist jedoch auch auf Goubrans bisher erschienene Romane und wirft ein neues Licht auf die fragwürdigen Umstände von Aumeiers Tod (AUS.) und seine Beziehungen zum 'Schwarzen Schloß' (Durch die Zeit in meinem Zimmer).

Alfred Goubran Umfangreiche literarische Tätigkeit als Schriftsteller, Rezensent, Übersetzer ('Der parfümierte Garten', 'Die gelbe Tapete'), Herausgeber ('Staatspreis. Der Fall Bernhard') und Verleger (edition selene bis 2010). Seit 2010 betreibt er das Musikprojekt [goubran]. Von Alfred Goubran bei Braumüller erschienen: 'Ort', Erzählungen, Wien 2010 'AUS.', Roman, Wien 2010 'Kleine Landeskunde', Essai, Wien 2012 'Der gelernte Österreicher', Idiotikon, Wien 2013 'Durch die Zeit in meinem Zimmer', Roman, Wien 2014
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Als ich tags darauf – ungefähr zu der Zeit, als man in der Parallelwelt meiner Todesphantasie den leblosen Körper meines Doppelgängers in den Leichenwagen hob – auf meinem Weg zu Terése durch die Währinger Straße ging, an der vorbei und dem fünfstöckigen Zinshaus, das mein beherbergte, fand ich zu meiner Überraschung das an gewohnter Stelle und vollkommen unbeschädigt wieder. Mein Irrtum erklärte sich wie folgt: Das leere Geschäftslokal mit den chinesischen Schriftzeichen lag, vom Schottenring kommend, zwei Häuser der Buchhandlung, das zwei Häuser danach. Da ich die Währinger Straße stets auf Höhe der Buchhandlung querte, war mir das leerstehende Geschäftslokal nie aufgefallen, sonst hätte ich es erkannt und nicht mit dem verwechseln können. Ich mußte also damals, in völliger Gedankenlosigkeit, die Währinger Straße schon eher gequert haben, wahrscheinlich auf dem Zebrastreifen, auf Höhe der Berggasse. Daß sich mein Irrtum nicht eher aufgeklärt hatte, lag daran, daß das auf meinen Wegen vom Haus zur Buchhandlung gewissermaßen im toten Winkel liegt. Wenn ich in diese Richtung sehe, dann nach den buschigen Köpfen der Bäume vor dem .

Also gehe ich an jenem Vormittag, statt in die Mansarde hinaufzusteigen, um mich wie ein Schriftstelleruhrwerk aufzuziehen und mir irgendwelche Texte aus den Rippen zu schneiden, an den fünf Stockwerken, der Buchhandlung und dem vorbei, hinunter zur Nußdorfer Straße, weiter zum Gürtel und dann in den 18. Bezirk hinein, wo ich bald in den 19. abschwenke, nach Döbling, in Gassen, die mir vertraut sind, weil ich eine Zeitlang hier gelebt habe, nicht im Villenviertel, das ich jetzt passiere, doch habe ich auch an diese Gegend meine Erinnerungen, etwa an den Jungen, der sein philippinisches Kindermädchen mit einem abgebrochenen Goldrutenzweig wie ein Kalb die Gasse hinunterjagt. – Es ist kein Spiel. Sobald sie stehenbleibt, schlägt er ihr mit dem Zweig auf die nackten Waden, sodaß sie vor Schmerz aufschreit. Der Junge ist vielleicht zehn. Sein Glück, daß ich zu weit entfernt bin, um einzugreifen. Oder meines … Ich will gar nicht wissen, wer seine Eltern sind … .

Ein paar Straßen weiter die Villa des „Privatgelehrten“ und Schriftstellers Röhrle, ein Bürgermeistersohn aus Mürzzuschlag, der, nachdem er in Wien das Künstlerleben für sich entdeckt hatte, so gerne, wie die Mehrzahl der österreichischen Schriftsteller seines Jahrganges, jüdische Vorfahren gehabt hätte und in den letzten Jahren vor allem als Tugendwächter und Sprachpolizist von sich reden gemacht hatte. Über sein literarisches Tätigsein weiß ich nur, daß sein letzter Roman, vom Feuilleton als „literarische Sensation“ ausgelobt, mit dem Satz „der Schnee fiel lotrecht aus dem Himmel“ endet. – Das muß genügen.

In der persönlichen Begegnung ist Röhrle beflissen, beinahe liebdienerisch, kann einem nicht in die Augen sehen, der Händedruck ist lau. Alles in allem ist er eine sehr alltägliche, biedere Erscheinung bar jeden Charismas. Einmal war ich bei ihm zu Gast gewesen – ich weiß nicht, aus welchem Mißverständnis heraus, doch früher hatte ich noch manchmal solche Einladungen erhalten, vielleicht weil man meine Verträglichkeit prüfen wollte – oder sollte es doch besser heißen: meine Verdaulichkeit? – Der war auch da und in seiner Rolle als Paradeintellektueller verkündete er – man weiß nicht, in welchem Auftrag – mit jesuitischem Eifer die baldige Aufhebung jeder Souveränität und die Auflösung der Nationalstaaten in Europa. So war das also. Man saß im Schatten, unter hohen Bäumen. Eine Holzveranda, eine grün-weiß gestreifte Markise. Es gab Apfelstrudel, selbstgemachte Sachertorte und mit der Hand geschlagenes Schlagobers. Immerhin hatte es Röhrle geschafft, in eine halbjüdische Familie einzuheiraten und so an einiges Kapital und in den Besitz dieser Villa zu kommen. Die Eltern seiner Braut waren noch vor dem „Anschluß“ in die Schweiz geflohen. Wenige Monate später kamen sie bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die Tochter war bei zwei Großtanten aufgewachsen, die im völlig abgedunkelten zweiten Stockwerk des Hauses vor sich hin dämmerten, bettlägerig, siech, ohne Pflegerin, nur von der „Dame des Hauses“ und einem Arzt betreut, der auch an jenem Nachmittag anwesend war und sich die Kuchenstücke hineinschob, als gäbe es kein Morgen.

Röhrle, vielleicht weil er die Suada schon zu oft gehört hatte, unterbrach den , indem er ihm grundsätzlich zustimmte, denn die Souveränität, so Röhrle, sei ja ein altes, längst überkommenes patriarchalisches Prinzip – dabei warf er der anwesenden Lyrikerin einen bedeutungsvollen Blick zu – für das in einer pluralistischen, modernen Gesellschaft wie der unseren kein Platz mehr sei.

„Wie Gott“, entfuhr es mir.

„Bitte?“

Ich hatte ganz vergessen, daß Röhrle zum mosaischen Glauben konvertiert war, und stopfte mir schnell ein Stück Apfelstrudel in den Mund. Der sah mich böse an.

„Göttlich“, nuschelte ich mit halbvollem Mund und deutete auf den Apfelstrudel, und wirklich entspannte sich Röhrle, der schon mit einer Attacke gerechnet hatte, augenblicklich, denn er hatte den Apfelstrudel selbst gemacht, wie er mir gleich versicherte, und in der nächsten Stunde waren, zum Leidwesen der lyrischen Suffragette und des , weder Faschismus noch Souveränität noch Demokratieverlust ein Thema, sondern es ging nur noch um Mehlspeisen, Kuchen, Torten, Knödel, Marmeladen, Backwerk und Zutaten aller Art. Die Rezepte, die „Küchengeheimnisse“ und „Tricks“ purzelten nur so aus Röhrles Mund, ein ganzes Kochbuch, und wenn er nachließ und in seinem Redefluß zu ermatten drohte, ermunterte ich ihn mit Zwischenfragen, stachelte ihn auf, mehr und mehr von seinem Wissen preiszugeben. Seine Begeisterung war echt, seine Aufgeregtheit, seine Leidenschaft und Liebe zum Detail unverstellt. Das machte ihn mir sympathisch. Ich sah ihn mit der Schürze in der Küche stehen, ein kleiner, dicklicher Bub vom Land, ein , das den Kochlöffel schwang und vielleicht gerne Konditor geworden wäre – so ein runder, zufriedener Mensch, wie man sie in diesem Berufsstand noch manchmal antrifft. Nicht diese wichtigtuerische Beflissenheitskröte, die sich, vom bürgermeisterlichen Geltungswahn getrieben und der Schuld, die man in sie hineingeredet hatte, auf das Gebiet der Literarisiererei verirrt und zum dozierenden Privatgelehrten verunstaltet hatte.

Natürlich wußte ich, daß Röhrle mein Feind war. Er hatte, unter Pseudonym, als Redaktionskürzel, in mehreren Zeitschriften Verrisse meiner Bücher und bei mehreren Gelegenheiten gehässige Kommentare gegen mich verfaßt, außerdem des öfteren in Jurys massiv gegen eine Preisvergabe an mich interveniert. Die Feindschaft traf also auch existentiell, war schon ein Vernichtungswille, das muß man gar nicht schönreden. Es war unsere erste – und einzige – persönliche Begegnung, und ich hatte die Einladung nicht angenommen, um mit ihm abzurechnen. Freilich, hätte er sich die geringste Invektive geleistet, wäre sie nicht unbeantwortet geblieben. Doch wie immer bei solchen „persönlichen Begegnungen“ mit Feinden von mir, abseits der Bühnen, blieb jeder nett und alles im harmlosen Rahmen. – Dort also ging ich vorbei. Schaute zu den Fenstern im zweiten Stock hinauf. Dachte an die zwei Alten und daran, was sonst noch in diesen Villen so vor sich gehen mochte, bei den Oberärzten und Edelpsychologen, die sich hier niedergelassen hatten. Döbling eben – nicht meine Gegend.

Ich mußte die Karte zur Hand nehmen, denn nun kamen Gassen, von denen ich noch nie gehört hatte. Unbekanntes Terrain. Die Häuser traten zurück, versteckten sich hinter Büschen und Bäumen. Endlose Gartenzäune. Bald sah man überhaupt keine Häuser mehr, auch kaum Autos, Menschen schon gar nicht. Manche Grundstücke waren von hohen Mauern umgeben, Kameras an den Toren. Eine Gartentür ohne Hausnummer zwischen zwei abgezäunten Grundstücken, am Postkasten kein Name, dahinter ein Feldweg – das mußte es sein. Ich läute. Nach einiger Zeit erscheint Terése am Ende des Feldweges, läuft winkend auf mich zu. „Es ist offen, es ist offen“, ruft sie, aber ich rühre mich nicht vom Fleck, stehe wie angewachsen, sprachlos, dann ist sie bei mir, und wir umarmen uns, über das Gartentor hinweg, halten uns fest, ich drücke sie an mich, rieche ihr Haar, schaue blicklos auf den Weg, den sie gekommen ist, dann gibt etwas nach in mir...


Alfred Goubran

Umfangreiche literarische Tätigkeit als Schriftsteller, Rezensent, Übersetzer ("Der parfümierte Garten", "Die gelbe Tapete"), Herausgeber ("Staatspreis. Der Fall Bernhard") und Verleger (edition selene bis 2010).

Seit 2010 betreibt er das Musikprojekt [goubran].

Von Alfred Goubran bei Braumüller erschienen:
"Ort", Erzählungen, Wien 2010
"AUS.", Roman, Wien 2010
"Kleine Landeskunde", Essai, Wien 2012
"Der gelernte Österreicher", Idiotikon, Wien 2013
"Durch die Zeit in meinem Zimmer", Roman, Wien 2014



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