E-Book, Deutsch, 264 Seiten
Gottschlich Bedrohte Humanität
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-17-042659-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Plädoyer für eine empathische Kommunikationskultur
E-Book, Deutsch, 264 Seiten
ISBN: 978-3-17-042659-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sympathy is a basic human need and provides the basis for coexistence. Without sympathy, social relationships atrophy, and if we lack sympathy we are not doing justice to our humanity. However, this existential capacity for sympathy is now increasingly being lost. Growing hatred, narcissistic egomania and a spreading attitude of global indifference are symptoms of a sick society that is increasingly suffering from a loss of sympathy. How can sympathy, and with it our humanity, be rescued in times of profound social and technological upheaval? Maximilian Gottschlich provides a clear answer: we need a new culture of empathetic communication & because sympathy develops primarily within language-mediated social relationships, in speech that takes an interest in the personality and existence of another person, in every word in which fellow human beings feel that they are being taken seriously and their concerns and needs are being understood. The ethical foundations on which this type of language of sympathy is based and its distinctive features are made clear in this committed and interdisciplinary plea for a new empathetic communication culture.
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Vorwort
Während ich diese Zeilen schreibe, im Zentrum Wiens, mit Blick über eine sich friedlich ausbreitende Dachlandschaft, aus der zum Greifen nahe die filigrane Eleganz des Stephansdoms in den Frühsommerhimmel ragt, fallen in nicht allzu weiter Entfernung russische Bomben und Raketen auf ukrainische Städte. Seit 100 Tagen führt Russlands Präsident Wladimir Putin einen Terrorkrieg gegen die Ukraine, die es seiner ideologischen Überzeugung nach als Nation nicht geben darf, und es ist nicht absehbar, wie lange dieser Krieg noch dauern und wie er enden wird. Derzeit konzentriert sich die russisch Armee auf die Eroberung der östlichen Region der Ukraine, den heißumkämpften Donbass, und betreibt mithilfe ihrer Artillerie und dem Bombardement durch die Luftwaffe eine Strategie der »Entvölkerung« und der »Auslöschung der Zivilisation«, wie es Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock formulierte. Seit dem denkwürdigen 24. Februar 2022 ist die Welt eine andere geworden. Was in den Jahrzehnten der Entspannung zwischen Ost und West unvorstellbar schien, ist plötzlich bittere Realität geworden: Krieg in Europa. Tagtäglich erschüttern Nachrichten und Bilder des Grauens Europa und die westliche Welt. Wohngebäude, Spitäler, Altenheime, Theater, Schulen, Kindergärten, ja selbst Geburtskliniken werden dem Erdboden gleich gemacht. Männer, Frauen und Kinder sterben im Granat- und Kugelhagel einer Invasionsarmee, die zwischen militärischen Anlagen und ziviler Infrastruktur, zwischen Soldaten und Zivilisten keinen Unterschied macht. Mittlerweile sind Millionen Menschen, vorwiegend Mütter mit ihren Kindern, auf der Flucht, während die wehrdienstfähigen Männer zurückbleiben, um ihr Land gegen die Usurpatoren zu verteidigen. Wer sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen kann, ist der Willkür und Barbarei der russischen Besatzer ausgesetzt, den Vergewaltigungen, Morden, Plünderungen und Verwüstungen. Dort, wo die russische Soldateska wütete, pflastern Leichen ziviler Opfer russischer Massaker die Straßen und Plätze. Immer mehr Massengräber ermordeter Zivilisten werden gefunden. Nach dem Rückzug russischer Einheiten dokumentieren Vertreter internationaler Organisationen, Forensiker und andere Experten die Gräueltaten der Besatzer. Bisher konnten an die 15.000 Kriegsverbrechen dokumentiert werden – und das ist erst der Anfang der Bilanz des Schreckens. Inzwischen werden gegen die für diese Verbrechen unmittelbar Verantwortlichen und auch gegen Putin sowie seinen engsten Beraterkreis vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag Anklagen wegen Kriegsverbrechen und Völkermordes vorbereitet. Europa und das westliche Verteidigungsbündnis, die Nato, befinden sich in anhaltendem Alarmzustand. Angesichts der durch den Ukrainekrieg veränderten geopolitischen Lage beginnt die EU, ihre Sicherheitsarchitektur neu zu entwerfen. In einem ersten Schritt wird die Nato-Ostflanke militärisch aufgerüstet, während die bis dahin bündnisfreien Staaten Finnland und Schweden vor ihrer Aufnahme in die Nato stehen. Von Tag zu Tag eskaliert die Situation. Die westliche Unterstützung der ukrainischen Armee mit modernen Waffensystemen, die eine effiziente Verteidigung möglich machen sollen, wird von der Sorge begleitet, ob die russische Invasionsarmee bei ihrem Eroberungsfeldzug nicht auch chemische, biologische oder gar atomare Waffen zum Einsatz bringen wird, um die Ukraine zur Kapitulation zu zwingen. In den EU-Staaten wächst die Angst vor einer atomaren Eskalation und einer Ausweitung des Krieges. Zugleich erhält das Bild europäischer Einheit und Geschlossenheit in der Ächtung des russischen Eroberungskriegs erste Risse. Die anfänglich nahezu überbordende Hilfsbereitschaft und empathische Solidarität weichen inzwischen wachsendem nationalem Eigeninteresse. Denn die umfänglichen Boykottmaßnahmen der EU gegen Russland bleiben auch für die europäischen Staaten nicht ohne spürbare Folgen: Rasant steigende Energiekosten treiben die Preise in die Höhe, für breite Kreise der Gesellschaft wird der gewohnte Lebensstandard immer weniger leistbar. Haushalte mit niedrigerem Einkommen sind davon besonders betroffen und lassen überall in der EU den Ruf nach staatlichen Unterstützungsmaßnahmen laut werden. Dass das Embargo des Westens zwar Putin und seiner Entourage schadet, aber auch Europa in wirtschaftliche, insbesondere energiepolitische Schwierigkeiten stürzt, wurde zwar vorhergesehen, macht sich aber erst jetzt schmerzlich bemerkbar. Solidarität ist ein hoher humanitärer und politischer Wert, sie hat aber auch ihren Preis, den immer weniger Menschen im Westen zu zahlen bereit sind, je länger der Krieg dauert und je ungewisser sein Ausgang ist. Und so stellt sich die Frage, wie lange dieses blau-gelbe Band der Solidarität Europas und der USA mit dem um seine Freiheit, Souveränität und territoriale Integrität kämpfenden ukrainischen Volk der Zerreißprobe standhalten wird, wenn die ökonomischen Belastungen und die Sorge vor einem Dritten Weltkrieg zunehmen? Ich habe dieses Buch knapp vor der russischen Invasion fertiggestellt. Und auch der gewählte Titel Bedrohte Humanität stand fest, noch bevor sich die Szenen eines »postapokalyptischen Schlachtfelds«1 in unser Bewusstsein einbrannten, noch bevor Butscha und Kramatorsk zum schrecklichen Symbol für das Monströse geworden sind, das Menschen anderen Menschen antun können. Schon wenige Wochen nach Kriegsbeginn machte der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, in einem Appell an die Führer der Weltreligionen deutlich, dass in diesem Vernichtungsfeldzug der Begriff der Humanität außer Kraft gesetzt werde. Kein Tag des Kriegs vergeht, an dem sich diese bittere Einsicht nicht auf immer neue, immer perversere Art bestätigte. Aber die Humanität wird nicht erst durch entfesselte kriegerischer Gewalt, durch Verbrechen gegen die Menschlichkeit und durch Völkermord außer Kraft gesetzt. Sie ist schon wesentlich niederschwelliger in Gefahr, verwässert, missachtet oder überhaupt zum Verlöschen gebracht zu werden. Die langsame Erosion der Humanität vollzieht sich in unseren alltäglichen sozialen Beziehungen – überall dort, wo die für unsere persönliche und soziale Entwicklung unverzichtbare Emotion des Mitgefühls unterdrückt, missachtet oder ganz zum Verschwinden gebracht wird. Wo es an Mitgefühl mangelt, dort ist die Unmenschlichkeit nicht weit. Unsere Humanität hängt nicht an unseren intellektuellen Fähigkeiten und Leistungen, nicht am wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt, sondern an unserer Fähigkeit zum Mitgefühl. Das Mitgefühl ist das Zentrum der Menschlichkeit. Sich auf einen anderen, seine Situation und sein Schicksal ganz einzulassen, ist ein kommunikativer Akt, der besondere Achtsamkeit für die Person und auch besondere Aufmerksamkeit für die Sprache erfordert. Sprache ist mehr als ein bloßes Instrument des Informationsaustausches oder der Verständigung. Sprache kann viel mehr. Sie kann Wunden schlagen, vermag aber auch, in Gestalt des mitfühlenden Wortes geschlagene Wunden zu heilen. Es ist gerade dieses Thema des heilstiftenden Potenzials der Sprache, das mich seit vielen Jahren beschäftigt. In meinen Publikationen zur Problematik defizitärer Arzt-Patienten-Beziehungen habe ich zu zeigen versucht, dass empathische Kommunikation in der Medizin nicht nur eine ethische Verpflichtung ist, sondern dass das mitfühlende ärztliche Wort unmittelbaren und empirisch nachweisbaren positiven Effekt auf das Heilungsgeschehen hat. Mitfühlende kommunikative Praxis ist also auch eine therapeutische Notwendigkeit. In diesem Buch nun lege ich eine breitere Perspektive an: Nicht nur die Medizin, sondern die Gesellschaft insgesamt bedarf einer neuen empathischen Kommunikationskultur, will sie nicht ihren humanitären Anspruch verlieren. Das ist eine Herausforderung, die nicht von heute auf morgen zu bewältigen ist, sondern die an die gesellschaftlichen Institutionen – allen voran Pädagogik, Bildung, Politik, Kunst und Kultur – ja, die primär an jeden von uns gerichtet ist. Mitgefühl kann nicht von oben herab verordnet werden, es kann nur als Prinzip unserer sprachlich vermittelten sozialen Beziehungen gelebt und solcherart eingeübt werden. Die Ausgangslage für eine solche empathische Kulturrevolution ist allerdings, das muss man nüchtern sehen, nicht gerade ermutigend. Denn das Mitgefühl hat mächtige Gegenspieler: allen voran die negativen und destruktiven Emotionen Hass, Narzissmus und Gleichgültigkeit. Sie sind Symptome eines gesellschaftlichen Entfremdungsprozesses, der unweigerlich in die Inhumanität führt. Es stellt sich daher die dringliche Frage, wie wir das Mitgefühl inmitten tiefgreifender gesellschaftlicher und technologischer Umbrüche als humane...