E-Book, Deutsch, 253 Seiten
Gottlieb Best Boy
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-406-68340-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 253 Seiten
ISBN: 978-3-406-68340-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Todd Aaron ist Autist, Mitte 40 und Spezialist in Sachen Fastfood, Flugzeuge und Neil Young. Mit seinem Heimleben in Payton hat er sich gut arrangiert. Er ist immer pünktlich zur Stelle, schluckt an jedem Tag die richtige Pille und verhält sich auch sonst unauffällig ein richtiger Best Boy eben, bis sein Leben mit einem Mal aus den Fugen gerät. Auslöser hierfür sind vor allem die obskuren Ereignisse rund um einen neuen Pfleger, der bei Todd grenzenloses Misstrauen auslöst. Und dann ist da noch Martine, die mit allen Mitteln der Kunst versucht, ihn zur Rebellion zu verführen. Schließlich begibt sich Todd auf eine wagemutige Reise, an deren Ende eine zutiefst berührende letzte Botschaft seiner Mutter auf ihn wartet. Mit hoher Sensibilität und außergewöhnlichem Einfühlungsvermögen schildert Best Boy das Innenleben eines autistischen Mannes ein warmherziges, authentisches und in seiner sprachlichen Klarheit brillantes Porträt und eine ergreifende Erzählung darüber, was es bedeutet, eine Familie zu sein.
Weitere Infos & Material
VIER
Am Morgen, nachdem Jeff Parker seine elektrische Attacke auf mich versucht hatte, wachte ich auf und nahm meine Pillen wie immer. Ich nehme jeden Tag Risperdal, damit ich ruhig werde, Lipitor, damit ich gesund werde, Paxil, damit ich glücklich werde, Lunesta zur Nacht, damit ich schlafe, Fischöl, um meinen Stuhl weicher zu machen, und ein Babyaspirin für mein Herz. Das kriege ich alles in einem Glasröhrchen, hübsch angeordnet. Im Innern des Röhrchens sind abschnittweise Uhrzeit und Datum markiert, damit ich weiß, wo ich den speziellen Abschnitt mit allen notwendigen Medikamenten für den jeweiligen Teil des Tages rausziehen muss. Durch die Pillen bin ich immer ein bisschen müde, aber es ist wichtig, sie zu nehmen, denn wenn ich es nicht tue, könnten sie Dr.Strong rufen. «Notruf an Dr.Strong», heißt es über die öffentliche Sprechanlage, wenn ein Dorfbewohner einen Koller zu kriegen droht und vom Personal ruhiggestellt werden muss. «Dr.Strong, doppelte Dosis», heißt es. Ich goss mir ein großes Glas warmes Wasser ein und schluckte die Pillen auf einmal. Weil es ein Sonntagmorgen war und ich viel Freie Zeit vor mir hatte, setzte ich mich hin und tat, was ich jetzt schon seit einigen Tagen getan hatte. Ich dachte über den Stock nach. Stamm. Stängel. Stiel. Der Stock war einer mit Spitze und gehörte Mr Deresiwicz, dem Hausmeister von Payton. Er benutzte ihn, um das Papier von den Wegen und vom Rasen aufzuspießen. Wenn ich nachmittags auf gleicher Höhe mit ihm in der Rasenmannschaft arbeitete, war ich mir sicher: Hätte ich den Stock und müsste nicht ständig stehen bleiben, um mich zu bücken, sondern könnte das Zeugs einfach vom Boden aufpicken und in einen Sack tun, den ich wie er über der Schulter tragen würde, dann wäre ich schon beinahe jemand, der auf dem Weg aus Payton raus wäre und eines Tages vielleicht allein leben und sogar ein Auto fahren würde. Also sah ich mir diesen Stock genau an. Es war eine einfache Stange mit einer Spitze. Am Nachmittag, als die Freie Zeit vorbei war und jeder in der Aula bei einer Talentshow sein sollte, ging ich über den leeren Campus in die Holzwerkstatt. Dort fand ich in einem Holzhaufen einen alten Besenstiel. Ich nahm die Säge mit dem extra dünnen Blatt, ihre Spitze beugte sich wie ein Mann, der betet, und ich schnitt das Ende ab. Dann sägte ich den Kopf eines Nagels ab, sehr leise, schlug den Nagel in den Stiel und feilte ihn da, wo er durch den Hammer stumpf geworden war, wieder scharf. Das war ein wunderbares Werkzeug, um Abfall aufzuspießen, und ich war zufrieden mit mir und pfiff vor mich hin, als ich die Werkstatt sauber machte. Als ich fertig war, versteckte ich den Stock draußen im Gebüsch und ging rüber zur Talentshow. Nur dass es gar keine Talentshow war, sondern ein Mitsing-Abend. Einen Mitsing-Abend in der Aula gibt es immer, wenn wir einen neuen Mitarbeiter begrüßen. Das Problem war nur, dass ich mich sofort unwohl fühlte, als ich an diesem Abend die Aula betrat und sah, wer der neue Mitarbeiter war. Er saß mitten in der Menge in der Aula, und sie hatten gerade mit dem Willkommenslied angefangen. Es geht nach der Melodie von Twinkle, Twinkle, Little Star und hört sich so an: Payton Living flies on high Touch the earth and touch the sky Walking tall and feeling joy In the hearts of girls and boys And today we welcome a new staff Who will help us out to laugh Dann klatschen alle so verrückt, als wäre es das Beste und Komischste, was sie je gehört haben. Aber normalerweise bewege ich zu diesen Liedern nur die Lippen, weil ich ganz fest an den Getränkeautomaten in der Nische um die Ecke denke, der gerammelt voll ist mit Dosen von kühlem Mountain Dew und Sprite und Malzbier. Manchmal nach solchen Ereignissen lässt mich Raykene eine davon trinken. Der neue Mitarbeiter stand auf. Sein Haar war hinten lang und vorne kurz. Er trug einen Bart, der auf beiden Seiten nach unten zeigte wie bei den Bildern von Bürgerkriegsgenerälen in irgendwelchen Magazinen. Er wartete, bis das Lied zu Ende war, und sagte dann: «Hmmh... jetzt sollte ich ein bisschen was sagen, nicht? Okay, ich heiße Mike Hinton und komme praktisch direkt von nebenan, aus Gatesboro. In Kurzform: Ich war erst auf der Highschool und dann als ziemlicher Versager auf dem College. Als Nächstes kam der Militärdienst: zwei Mal Irak im 2.Bataillon bei der 21.Kavallerieeinheit. Das war bisher das Härteste in diesem Leben und reicht vielleicht auch noch fürs nächste. Zumindest brachte es mir das Verwundetenabzeichen und den Bronze Star für herausragende Leistungen im Kampf-einsatz ein. Egal, als mein Dienst zu Ende und ich wieder zu Hause war und dachte, damit bin ich durch, da fragte ich mich, mein Gott, was soll ich jetzt machen?» Die Leute nickten. «Also belegte ich Pädagogikkurse», sagte Mike, «und die haben mir die Augen geöffnet, jawohl! Aber ziemlich bald wollte ich viel lieber etwas tun in der Welt, statt Bücher über sie zu lesen. Freunde, ich wollte Erfahrungen sammeln und mir die Hände schmutzig machen.» Er sah in die Runde und machte dabei eine langsam kauende Bewegung, so als würde er gerade ein Stück Ernst des Lebens essen. «Fazit», sagte er, «für mich ist es wirklich wichtig, hier in dieser Gemeinschaft wunderbarer Menschen zu sein, die etwas bewegen wollen. Und danke für euer Vertrauen, dass ihr mich aufgenommen habt.» Er lächelte. «Taa daa! Das war’s.» Die Leute klatschten Beifall, als Mike Hinton sich langsam im Saal umsah und versuchte, jedem einzelnen Gesicht in der Menge einen durchdringenden Blick zuzuwerfen. Doch als er bei mir ankam, wurde das ungute Gefühl in meinen Eingeweiden auf der Stelle stärker, wie in der Achterbahn, wenn sie so steil und schnell nach oben schießt, dass der Magen immer noch ganz unten hängt. Hinter seinem Schnurrbart waren die gelben Zähne und die Augen meines Vaters zu sehen, und ich fing an zu wimmern und konnte die schlimmen Erinnerungen nicht aufhalten. Mein Vater war tot, aber er war als sprechende Person zurückgekommen und sah mich aus dem Gesicht eines anderen an. Mein Wimmern wurde lauter und wuchs bald zu einem unkontrollierbaren Heulen an. Ein paar Mitarbeiter gingen auf mich zu, aber das Gesicht von Mike Hinton erfasste mich von der Mitte des Saals wie ein Suchscheinwerfer. Er sah aus, als wüsste er genau, was ich dächte, und sei darüber sehr zornig. Er sah aus, als hätte ich die strahlend weiße Weste seines heldenhaften Lebens beschmutzt. Raykene fasste mich sanft am Arm und führte mich aus dem Saal zurück in mein Apartement. «Todd, beruhige dich», sagte sie. «Du weißt doch, wie du auf neue männliche Mitarbeiter reagierst und wie es am Anfang mit Roy und Lebron war. Aber du wirst Mike gernhaben, mein Prinz, wirklich. Ich habe mich mit ihm unterhalten, und er ist wirklich einer von den Guten, so wie du auch.» Sie ließ mich Zähne putzen und mein Gesicht waschen, während sie in der Tür des Badezimmers stand und mir zusah. Danach kam sie zu mir und beugte sich über mich, und die Wärme, die ihr Körper ausstrahlte, hüllte mich ein, während sie mir einen Gutenachtkuss gab. Ich legte mich hin und schaltete das Radio neben dem Bett an. Die Senderskala leuchtete. «Unchained Melody» von den Everly Brothers lief. Ich kann mich an jedes Lied erinnern, das ich jemals gehört habe. Ich kann mich genau daran erinnern, wo ich war und was ich tat, wenn ich eines zum ersten Mal hörte. Mama war Klavierlehrerin, und ich habe unendlich viele Stunden damit verbracht, dabeizusitzen und zuzuhören, wenn ihre Hände über die Tastatur glitten und Musik in die Luft aufstieg und nach und nach mein Inneres erfüllte. «Gute Nacht, kleiner Prinz», sagte Raykene sanft und machte die Tür zu. Es war sehr früh, um ins Bett zu gehen, aber die Betreuer schicken uns immer ins Bett, wenn sie glauben, wir bekämen eine Krise. Vorschlafen nennen sie das. Ich dachte beim Vorschlafen oft daran, dass die Art und Weise, wie meine Eltern starben, zwar nicht so war, wie wenn ein Lichtschalter an der Wand Licht im Raum verbreitet, aber dass es durchaus etwas von Zauberei an sich hatte. Es war...