E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Goodall Das Problem mit Wandel
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-96267-628-5
Verlag: REDLINE
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Warum Veränderung nicht immer Verbesserung bedeutet und die menschliche Natur überfordert. Warum der Mensch nicht für schnelle Veränderungen gemacht ist
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-96267-628-5
Verlag: REDLINE
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ashley Goodall ist Führungsexperte, Berater und Autor. Er arbeitet als Senior Vizepräsident für Führung und Teamintelligenz bei Cisco und war davor 14 Jahre bei Deloitte tätig, wo er für Führungskräfteentwicklung und Leistungsmanagement verantwortlich war. Von ihm ist außerdem das Managementbuch »Neun Lügen über die Arbeit« im Redline Verlag erschienen.
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II. DER KULT UMS AUFMISCHEN
Im Wirtschaftsleben genießt das Aufmischen (disruption) geradezu Kultstatus.
Der Prophet des Aufmischens, der verstorbene Clayton Christensen, behauptete 1997 in seinem Buch The Innovator‘s Dilemma: Warum etablierte Unternehmen den Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren, es sei das unentrinnbare Schicksal großer, etablierter Firmen, von kleinen Start-ups zum Frühstück verspeist zu werden. Weil kleine Unternehmen sich nicht um die Bedürfnisse einer etablierten Kundschaft kümmern müssen, so Christensen, und weil sie nicht an denselben Profitabilitätsmaßstäben wie die eingeführten Mitbewerber gemessen werden, haben sie größere Freiheit für Innovationen, für neue Wege, neue Kunden zu gewinnen, und sich dann wie zappelnde Lachse ihren Weg stromaufwärts zu bahnen, bis sie die bisherigen Marktführer verdrängt haben. So kommt es zum Dilemma im Titel des Buchs: Das Management großer, etablierter Unternehmen bereitet dadurch, dass es die Erwartungen erfüllt und im Interesse der Kunden und des Gewinns agiert, unvermeidlich seinen eigenen Untergang vor.
Der Weg zur Erlösung, den Christensen den Managern anbot, bestand darin, selbst Umwälzungen in Gang zu setzen, bevor es jemand für sie übernahm (und sie die Folgen tragen mussten). Sie sollten kleine Firmen mit der Möglichkeit zur Innovation gründen, sie vom Rest des Unternehmens abschirmen und sie damit von dessen Zwängen befreien und dann die neuen Produkte und Märkte, die daraus hervorgingen, ausbauen. Sie sollten die Kräfte des Aufmischens für sich einsetzen, anstatt unter ihren Folgen zu leiden.
Christensen hatte also ein Muster in den Branchen erkannt, die er untersucht hatte, und eine Reaktion darauf gefunden, die in einer Anzahl der betroffenen Fälle geholfen hatte. Das war völlig legitim; seine Daten hätten ebenso akzeptiert oder angezweifelt werden können wie sein Rezept. Aber was danach folgte, führte zu Problemen, weil das Muster und das Rezept dagegen zu einem Slogan wurden: Disrupt yourself – mische dich selbst auf.
Wie es so oft passiert, machte die Prägung eines griffigen Schlagworts diese Vorstellung sehr verführerisch. Sie konnte nicht nur auf eine lange geistige Ahnenreihe verweisen – schon 1942 hatte der Wirtschaftswissenschaftler Joseph Schumpeter geschrieben, der grundlegende Mechanismus des Kapitalismus sei Tod und Ablösung des Alten und Erschöpften durch das Neue, ein Vorgang, den er »schöpferische Zerstörung« nannte, und Charles Darwin hatte bereits lange vorher gezeigt, dass der grundlegende Mechanismus des Lebens überhaupt in der Ausrottung schlecht angepasster Spezies durch besser angepasste besteht –, sondern bot Managern die Möglichkeit, etwas, das sie bisher als Bedrohung wahrgenommen hatten, als Vorteil gegenüber der Konkurrenz aufzufassen. Wer sich am besten selbst aufmischte, so schien es, würde am Ende als Sieger hervorgehen. Es dauerte nicht lange, bis aus einer spezifischen Beobachtung über neue Mitbewerber in etablierten Märkten ein angebliches Allheilmittel für große Bereiche der Wirtschaft überhaupt wurde, aus dem noch einige ähnliche Ideen abgeleitet wurden – dass zum Beispiel schneller immer gleich besser ist oder dass das erste Unternehmen auf einem Markt, das seinen Umsatz maximiert, sich immer durchsetzt und man an die Gewinne später noch denken kann –, die zusammen eine neue Orthodoxie der Betriebswirtschaft bilden. Wandel ist unvermeidlich; man kann ihn entweder selbst anstoßen oder fällt ihm zum Opfer; und wenn man ihn selbst anstößt, ist man ziemlich automatisch auf der Siegerstraße.
Dabei war Christensens Rezept durchaus kritisiert worden. Jill Lepore zum Beispiel hatte schon 2014 im New Yorker geschrieben, Innovation durch Aufmischen sei »historisch überholt, eine zeitgebundene Idee … das Ergebnis eines unruhigen, ungewissen Moments, der schlecht für Prophezeiungen taugt«, und beschrieb, wie weitverbreitet und tief verwurzelt die wahre Lehre des Aufmischens inzwischen dennoch sei.2Die wenigen warnenden Stimmen scheinen jedoch kaum etwas bewegt zu haben – ebenso wenig wie die zahlreichen Erkenntnisse der Sozialwissenschaft zu den schädlichen Wirkungen allgegenwärtiger und dauernder Instabilität auf den Menschen, wie wir noch sehen werden. Ob Christensen jetzt mit seinen Ansichten über Tod und Leben von Großkonzernen recht hatte oder nicht – seine Thesen erzeugen weiterhin eine enorme Flut des Aufmischens, die schon lange über den Bereich seiner ursprünglichen Untersuchung hinausgeht und inzwischen als Rechtfertigung für jede abrupte Veränderung oder Transformation oder Neuerfindung im Geschäftsleben gilt. Das ist alles unvermeidlich, hören wir. An den Wirtschaftsfakultäten der Universitäten Stanford, Cornell, Columbia oder Harvard, um nur einige zu nennen3, kann man inzwischen Seminare im Aufmischen belegen, und es ist eine nette Meta-Ironie, dass diese Institutionen selbst jetzt kräftig aufgemischt werden (und sich zweifelsohne redlich mühen, sich selbst aufzumischen)4. Auf der Titelseite der Harvard Business Review liest man, wie wichtig es sei, die Frage zu stellen: »Wie gut kann sich Ihr Unternehmen verändern? Sie können Ihre Anpassungsfähigkeit verbessern!«, oder wie man »Ein Führungsteam für die Transformation« aufbaut, denn »Die Zukunft Ihres Unternehmens hängt davon ab«. Und wenn Sie einen Katechismus des Chaos brauchen, können Sie inspirierende Plakate kaufen und die Wahlsprüche skandieren: Fail fast (»Schnell scheitern«); disrupt or be disrupted (»Mische auf, oder du wirst aufgemischt«), move fast and break things (»Handele schnell und ohne Rücksicht auf Verluste«). Man kann sich kaum noch an Zeiten erinnern, in denen Unternehmen nicht nach diesem Grundsatz geführt wurden.
Während wir alle damit beschäftigt waren, uns eifrig selbst aufzumischen, haben wir allerdings aus den Augen verloren, dass Veränderung etwas anderes als Verbesserung ist. Bevor Aufmischen zum Dogma wurde, dachten Unternehmer gewöhnlich: Wir müssen dieses Problem beheben, also müssen wir uns verändern. Inzwischen wird umgekehrt argumentiert: Wir müssen uns verändern, weil dann alle Probleme von selbst verschwinden. Bevor Aufmischen zum Dogma wurde, bestand die Aufgabe eines Managers darin, Probleme zu erkennen und zu beheben, und alles, was in Ordnung war, einfach laufen zu lassen. Inzwischen besteht die Aufgabe eines Managers darin, alles immerfort zu verändern, denn wenn wir nichts verändern, wird jemand anders alles verändern, und dann geschehen alle möglichen bösen Dinge. Es geht nur noch darum, alles in Bewegung zu halten. Die Einführung des Dogmas vom Aufmischen hat damit auch zu einer schleichenden Bedeutungserweiterung geführt: Unbemerkt, direkt vor unserer Nase, erhielt das ganze Wortfeld »Veränderung« – Innovation, Aufmischen, Verändern, Erneuern, Transformieren, Aktualisieren, Neuerfinden, Neudenken, Auffrischen – eine einzige, gemeinsame, nicht infrage zu stellende Konnotation: besser!
In der Realität ist das nicht ganz so einfach. Nehmen wir Fusionen und Aufkäufe als Beispiel. Seit Langem ist nachgewiesen, dass die meisten Fusionen und Aufkäufe zu einer Wertminderung führen: Eine Studie ergab, dass in 60 Prozent der Fälle die Anteile an Wert verlieren5, eine andere Schätzung setzte diese Zahl irgendwo zwischen 70 und 90 Prozent an6. Oder denken Sie an Massenentlassungen. Jeffrey Pfeffer, Professor an der Stanford University, hat ausführlich und überzeugend über ihre Auswirkungen und ihren Sinn geschrieben, nicht nur in menschlicher Hinsicht (wo sie, wie er deutlich an Beispielen zeigt, kaum zu rechtfertigen sind), sondern auch in pflichtbewusst-kapitalistisch-anteilseigner-wertsteigernder Hinsicht (wo sie doch eigentlich leicht zu rechtfertigen sein sollten). Zu dieser zweiten Frage des wirtschaftlichen Werts von Entlassungswellen meint Pfeffer: »Entlassungen führen oft nicht zu Kostensenkungen … Entlassungen steigern nicht die Produktivität. Entlassungen lösen nicht das oft zugrunde liegende Problem, das häufig in einer ineffizienten Strategie, einem Verlust von Marktanteilen oder ungenügendem Umsatz besteht.«7
Aber selbst wenn das nicht immer zutrifft – selbst wenn es Fälle einer gut durchgeführten Reorganisation oder Unternehmenstransformation gibt, die wirklichen Nutzen bringen –, bleibt offensichtlich, dass eine verstärkte Berücksichtigung der menschlichen Kosten infrage stellen würde, inwieweit eine Veränderung ein Unternehmen wirklich besser dastehen lassen und uns zu einem genaueren Verständnis führen würde. Wie wir gerade gesehen haben, erkennen die Betroffenen, mit denen ich sprach, die Notwendigkeit von Verbesserungen in der Welt an und wissen, dass Verbesserungen eine Veränderung bedingen, aber sie sind auch klug genug, um zu verstehen, dass Veränderungen nicht automatisch eine Verbesserung bedeuten – dass die Kurve danach nicht automatisch steigt. Sie können sich also nach Verbesserung sehnen und gleichzeitig die (oft negativen) Auswirkungen von Veränderungen beklagen. Aber diese...