E-Book, Deutsch, 192 Seiten
González Was das Meer Ihnen vorschlug
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-86648-324-8
Verlag: mareverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-86648-324-8
Verlag: mareverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tomás González, 1950 in Medellín geboren, zählt zu den wichtigsten kolumbianischen Autoren der Gegenwart. Er studierte Philosophie in Bogotá und begann in den 80er-Jahren mit dem Schreiben von Erzählungen, Romanen und Gedichten, von denen viele ins Deutsche übertragen worden sind. Nachdem er 16 Jahre als Übersetzer und Journalist in New York tätig war, lebt er heute wieder in Kolumbien. Peter Schultze-Kraft, 1937 in Berlin geboren, setzt sich seit fünfzig Jahren als Übersetzer und Herausgeber für die latein-amerikanische Literatur im deutschsprachigen Raum ein. Seit 2003 überträgt er Tomás González' Werke ins Deutsche, zusammen mit seinem Bruder Rainer Schultze-Kraft, geboren 1941, ehemals Professor für tropische Landwirtschaft und Kolumbien ebenfalls eng verbunden.
Autoren/Hrsg.
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Samstag, 4 Uhr
Obwohl Mario eine Riesenwut im Bauch hatte, legte er die zwei Ruder sorgfältig ins Boot. Dann machte er sich auf den Weg zum Bungalow des Vaters, um die Benzinkanister zu holen. Javier hatte die Wasserflaschen und die zwei Kühlboxen, eine mit Eis, die andere ohne, schon gebracht und war jetzt wohl dabei, den Kaffee für die Thermosflaschen und die Eier für das Frühstück zu kochen. Mario war zwei Stunden nach Javier zur Welt gekommen und wünschte sich oft, nie geboren worden zu sein. Das Boot war himmelblau, zehn Meter lang und aus Glasfaser. Auf einer der Bänke brannte eine Coleman-Lampe. Trotz der nächtlichen Kälte trug Mario kein Hemd. Die Wut auf den Vater hielt ihn warm.
Wäre es ihm nicht gleichgültig gewesen, hätte er das Netz der Sterne am Himmel bewundert. Er schaute zwar nach oben, sah die Sterne aber nicht oder wollte sie nicht sehen. Javier kannte sich mit Großen und Kleinen Bären und Kreuzen des Südens aus; Mario konnte dafür mit verbundenen Augen einen Außenbordmotor auseinandernehmen und wieder zusammensetzen und fand sich auch ohne die Sterne sehr gut im Golf zurecht. Den Blitz, der seine Fangarme am Horizont ausstreckte, bemerkte er durchaus und auch, wie windstill es war, aber nicht weil ihn das als Naturschauspiel beeindruckte, sondern weil er alles, was mit Meer und Fischfang zusammenhing, instinktiv wahrnahm.
Der Gast, der im einzigen erleuchteten Bungalow die ganze Nacht getrunken hatte, stellte jetzt die Musik ab und löschte das Licht. Die Tangoklänge von Gardel und Olimpo Cárdenas und die in ihm kochende Wut hatten Mario kaum schlafen lassen. Der laute Bungalow war nicht weit von dem seinen entfernt, und auch wenn die Musik nicht mit voller Lautstärke lief, war sie unüberhörbar. Doch Marios Groll richtete sich nicht gegen diesen Mann; die Unsitten der Feriengäste zu ertragen, gehörte zu seinem Job: Sie zahlten dafür, sich am Meer zu betrinken, und davon lebte er, davon lebten sie alle.
Das Benzin stand im Hof hinter dem Bungalow des Vaters, der in diesem Moment zwei Kilometer weit weg, im seichten Wasser vor dem Flugplatz, mit dem Wurfnetz Köder zum Angeln fing. Mario nahm zwei rote Benzinkanister und verstaute sie im Heck. Dann ging er die beiden anderen Kanister holen. Die Insekten kreisten um die Coleman-Lampe, prallten gegen ihren Schirm. Die Wellen liefen fast lautlos im Sand aus. Um die Bungalows, zwischen den Kokospalmen und Seemandelbäumen, flogen Fledermäuse, die weder Mario noch sonst jemand sah. Vielleicht sah Gott sie, aber für Mario gab es keinen Gott.
Sie wollten zum Fischen rausfahren, in ein zwei Stunden entferntes Gebiet, in dem der Golf ins offene Meer übergeht. Sie hatten vor, einen Tag und eine Nacht auf See zu bleiben und drei- bis vierhundert Kilo Spitzmaulbrassen, Stachelmakrelen, Seebarsche, Stöcker, Sábalos, Schnapper und Grunzer zu angeln, die ihre von der Seeluft und vom Kater immer hungrigen Gäste mit gebratenen Bananen, Kokosreis und Tomatensalat essen wollten, wie jedes Jahr in der Hochsaison am Jahresende.
Mario verstaute das zweite Paar Kanister im Boot und holte die Mangrovenstange, mit der sie sich vom sandigen Grund abstoßen mussten. Neben seinem Bungalow stand die Cabaña Nummer 2, in der seine Mutter seit Jahren Selbstgespräche führte. Insgesamt waren es fünfzehn Cabañas, die Nummern über den Türen waren weiß auf rohe Holztafeln gepinselt. Seine Cabaña hatte die Nummer 3, Javiers die 9, die des Vaters hatte keine Nummer. Die Mutter redete in Wirklichkeit nicht mit sich selbst, sondern mit einer ganzen Schar von Leuten, mal leise, mal lauter, richtig laut wurde sie fast nie. Nora hatte zwar »eine Schraube locker« – wie die Zwillingsbrüder ihre Krankheit respektlos-liebevoll nannten –, aber sie hatte noch genug Verstand, um zu begreifen, dass ihr Mann jederzeit kommen und sie zum Schweigen bringen konnte.
Mario legte die Mangrovenstange behutsam im Boot ab und ging zur Hotelküche. Sie wollten einen Topf Bohnen mitnehmen, die der Vater eigenhändig zubereitet hatte, und einen mit Reis. »Die Leute hier an der Küste können keine Bohnen kochen«, sagte der Vater immer. »Wer einen anständigen Teller Bohnen haben will, muss ihn selber machen.« Während Mario die Töpfe an sich nahm, murmelte er: »Hält sich wirklich für das fetteste Schwein im Stall, der Alte. Jeder Trottel kann Bohnen kochen. Ist doch keine Kunst.« Die Wut wärmte ihn zwar an der Oberfläche, sein Herz aber blieb eiskalt.
Hotel Playamar hieß die Bungalowanlage.
Er packte die Töpfe in Plastiktüten, trug sie zum Boot und stellte sie in die Kühlbox ohne Eis, in die sie genau hineinpassten. »Die Arepas!«, dachte er und lief zurück. »Wenn ich die liegen lasse, bringt er mich um, der alte Sack.« Außer den Arepas und den Coca-Cola-Flaschen nahm er noch das große Messer mit, das die Köchin zum Tranchieren der Fische benutzte. Die Tüte mit den Arepas legte er in den Behälter mit den Bohnen und die Cola-Flaschen in die Kühlbox mit Eis, in die sie später die ausgenommenen Fische geben wollten. Da er nicht wusste, wohin mit dem Messer, steckte er es zu den Flaschen. Dort fand es später der Vater, als er auf See die Box aufmachte, um sich eine Cola zu nehmen.
»Und was soll das?«
»Für alle Fälle.«
»Für welche Fälle?«
Ihr seid einfach zu nichts zu gebrauchen – dieser Vorwurf schwang immer mit, wenn der Vater etwas zu den Söhnen sagte.
Mario wollte noch den Flaschenöffner und seine Angelruten von zu Hause holen, doch vorher schaute er bei der Mutter vorbei. Nora hatte das Klimagerät ausgeschaltet und schlief, jedenfalls sprach sie mit niemandem, obwohl die Leute spürbar da waren. Die Schar war immer da, einerlei, ob seine Mutter wach war oder schlief. Mario war leise. Er wollte sie nicht aufwecken, und sie sollte ihn auch nicht bemerken, falls sie wach war. Sie würde mit ihm reden wollen, und er musste doch gleich los. Er dachte nicht, »Die Arme!« oder »Was für ein trauriges Leben sie hat!«. Die Zwillingsbrüder dachten oder sprachen nie so über ihre Mutter. Sie waren einfach immer für sie da gewesen und hatten, so gut es ging, dafür gesorgt, dass sie nicht mehr Leid ertragen musste als das, was Gott, der nicht existierte, für sie vorgesehen hatte. Und wenn ein naiver Gast glaubte, sich einmischen oder teilnahmsvoll zeigen zu müssen, und zu ihnen sagte: »Eure Mutter hat es wirklich schwer getroffen«, dann antworteten sie: »Ach ja?«, und blieben von da an von weiteren Kommentaren verschont.
Der Vater tauchte aus der Dunkelheit auf, weiß behaarte Brust, muskulöse Beine mit hervortretenden Adern, das Wurfnetz über der Schulter und einen Beutel voller Sardinen und Garnelen in der Hand. Er ging zum Boot und verwahrte die Köder in der Kühlbox mit Eis. Für einen Außenstehenden, der weder den rot lodernden Hass im Herzen des Sohns noch die grünliche Flamme der Verachtung in dem des Vaters sehen konnte, wäre der Moment untergegangen im Fluss der Zeit.
Der Vater sah, dass alles in bester Ordnung war, und sagte nichts. Mario war erleichtert, dann stieg die Wut wieder hoch.
»Und Javier?«, fragte der Vater.
»Ich hole ihn.«
Wie erwartet lag sein Bruder, in gelben Shorts und mit roter Nylonregenjacke, im Wohnzimmer seines Bungalows in der Hängematte und las im Schein der nackten Glühbirne in einem Buch. Javier hatte die gleichen durchdringend schwarzen Augen wie der Vater. Er war etwas kurzsichtig und trug eine kleine, robuste Brille, die auf See beschlug und die er mit einem Handtuch putzte, das er sich immer um den Hals legte, wenn er mit dem Boot ausfuhr. Überall im Bungalow waren Bücher: im Wohnzimmer, in den anderen drei Räumen, selbst in der Küche und im Bad; sie standen nicht in Regalen, sondern stapelten sich auf dem Boden, wie in einer Abstellkammer oder einem Lagerraum.
Auf dem Fußboden neben der Hängematte lagen Javiers Angelruten, der Plastikeimer mit den Angelrollen und sein Arhuaco-Beutel, in dem immer ein Buch, Zigaretten, das Taschenmesser und kleinere Angelutensilien steckten: Haken, Blei und andere Dinge. Auch das Glas mit Marihuana und Pfeife war darin. Wenn er auf dem Boot kiffte, setzte er sich so hin, dass der Rauch nicht zum Vater zog, weil der sonst wieder sagte, er solle aufhören mit diesem Scheiß. Neben dem Beutel standen die vier großen Thermosflaschen, die sie immer mitnahmen, gefüllt mit starkem, süßem Kaffee, und eine Plastiktüte mit zehn ungeschälten hart gekochten Eiern.
»Seid ihr so weit?«, fragte Javier.
Mario steuerte das Boot. Obwohl der Vater in den Bergen aufgewachsen war, hielt er sich für einen besseren Seemann als seine Söhne; seit einiger Zeit...