Goll | Sodom und Berlin | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Goll Sodom und Berlin

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-641-27658-4
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Exklusive Manesse-Entdeckung: Eine bilderreiche Hauptstadtbesichtigung in der turbulentesten Epoche Berlins
Berlin, 1918 ff. Lebenskünstler, Tagediebe, Kriegsheimkehrer, Vergnügungssüchtige, Schieber und andere Halbweltexistenzen drängen sich in der deutschen Nachkriegsmetropole. Das liebe Leben, das so schnell an sein Ende kommen kann, will schließlich gelebt werden. Immer mit dabei: Dr. Odemar Müller, der Wandelbare: »naiver Student, mittelalterlicher Mystiker, überzeugter Krieger, wilder Revolutionär, Inflationsgewinnler, Romantiker auf der Suche nach der blauen Blume, Stammgast in Spielhöllen und Betrüger«, einer von Abertausenden zugezogener Provinzteutonen, erst Salonbolschewist, dann Spekulant, prinzipienlos aus Prinzip, Hauptsache, der Weltgeist schreitet voran ... Mit großer Lust an der satirischen Überzeichnung komponiert, gelang dem deutsch-französischen Grenzgänger Yvan Goll mit seinem Berlin-Roman eine groteske Zeit- und Stadtbesichtigung, ein unterhaltsames Panorama deutscher Absurditäten und Phantasmagorien.
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An einem Novemberabend des Jahres 1918 stand Odemar Müller am Potsdamer Platz vor einer Litfaßsäule, oder vielmehr ging er um sie herum, als spielte er mit jemandem Verstecken oder suchte gierig nach einem Theaterprogramm. Dabei versuchte er ganz einfach den Kugeln auszuweichen, die ein Maschinengewehrkommando in Richtung Bahnhof sandte, wo sich Spartakisten verschanzt hatten. Es war ein November der Sintflut und der Revolution. Ein stählerner Regen fegte herüber, gegen den die seidenen Regenschirme der hübschen Frauen nichts mehr nützten. Kugeln schlugen in die Rosen, die sie auf der linken Brust trugen, und wortlos legten die Schönen sich hin, wie auf Geheiß eines unsichtbaren Liebhabers. Am Potsdamer Platz war es fast so gefährlich wie an vorderster Front in der Champagne. Ein öder Himmel lag über der Stadt wie ein Sargdeckel. Die weißblauen Matrosen aus Kiel brachten jedoch eine fröhliche Note in das tödliche Grau. Und die roten Soldaten mit den eckigen Bewegungen wie auf einem expressionistischen Gemälde schwenkten die Standarten einer jähen Dämmerung. Die Stadt indes gab vor, die Revolution zu ignorieren. Seit zahllosen Tagen kam es an Straßenecken zu Auseinandersetzungen: stoßweises Knattern, Rufe verwundeter Männer. Die Menge floss links und rechts daran vorbei, wie durch Korridore hindurch, dann ging plötzlich wieder alles seinen gewohnten Gang, und die Straßenbahnen fuhren wieder langsam dahin wie Schnecken nach einem Regenschauer und bahnten sich zwischen zerbrochenen Gehstöcken oder steifen Leichen ihren Weg. Odemar Müller kam von der Front zurück. Der Zug der Niederlage hatte ihn hier abgesetzt, nach langer, schmerzlicher Fahrt durch ein in Angst und Elend erstarrtes Land. Er war nach Berlin gekommen, zum fiebrigen Kopf des großen, kranken, ausgehungerten und mit Pusteln übersäten Leibes, der Deutschland damals war, nach vier Jahren Heldentum, vier Jahren Verzweiflung, in denen ein großes europäisches, am Gipfel der Zivilisation stehendes Volk elender gelebt hatte als eine Steinzeithorde, sich von Rüben ernährt hatte, mit Blattwerk gekleidet, ohne Möglichkeit, sich zu wärmen, ohne Kontakt zur Außenwelt. Da kam die Revolution gerade recht! Vielleicht würde man aufatmen können, etwas klarer sehen? Ja, Klarheit um jeden Preis! Rot, endlich mal rot, nach all den grauen Jahren! Mitten auf der Straße richtig durchatmen, nachdem man sich so lange im Schlamm verkrochen hatte. Zu Tausenden strömten entwaffnete Soldaten und Offiziere nach Berlin. Auf eine Parole hin – woher sie auch kommen mochte – die letzte Parole für lange Zeit – hatten sie sich die schwarz-weiß-rote Kokarde von der Mütze und die Schulterstücke vom Mantel gerissen. Ohne Rang, ohne Unterschied vollzogen die geschlagenen Helden ihre Rückkehr ins Vaterland. Kein Grund zu Traurigkeit. Über ihre brennendheißen Schläfen strich zart ein Wind aus dem Osten, der Wind der Freiheit. Auf dem Potsdamer Platz war der Bleischauer – die letzte Ladung der Kriegswolken – endlich vorbei. Nach zwanzig Minuten konnte die Menge weiterziehen. Nun aber, als der Weg frei und der Mensch, im Krieg zum Automaten geworden, wieder Herr über seine Entscheidungen und seine Wünsche war und nach rechts oder links gehen konnte, wie es ihm gerade beliebte, wurde Odemar von der Angst gepackt. Wohin sollte er gehen? Was tun? Wen umarmen? Von seiner Heimat hatte er nichts mehr zu erhoffen. Sein Vater, der alte, aber noch rüstige Oberförster Müller war als Hauptmann der Reserve vor Ypern gefallen, und seine Mutter hatte all den Schmerz, die Entbehrungen und die Einsamkeit nicht überlebt. Was sollte er also in seinem lieblichen Thüringen? So blieb er in Berlin, völlig mittellos, mit nichts in der Tasche als dem Eisernen Kreuz und ein paar Blutsternen, Orden dies, die er beim ersten Anzeichen der Niederlage von seiner ruhmreichen Brust entfernt hatte. Dabei war er ein guter Soldat gewesen, so wie zuvor schon ein guter Student und ein guter Schüler. Seit jenem denkwürdigen Morgen, als die Trompeten der Husaren den romantischen Traum an den Gefilden des Rheins hatten platzen lassen, war er wieder ein Deutscher. Der geheimnisvolle Einfluss Wilhelm Wanders hatte sich verflüchtigt wie Opiumrauch. Was aus dem grimmigen Verneiner wohl geworden war? War er in den ersten Tagen niedergemäht worden, wie so viele Kameraden? Hatte er es in ein neutrales Land geschafft, wie er dies schon immer vorgehabt hatte? Jeglicher Kontakt zwischen den beiden jungen Leuten war abgerissen. Odemar kam im Krieg zu Beförderungen, zu Orden, zu Ruhm. Dann wurde er schwer verwundet und lag monatelang in einem Lazarett. Dort sah er das tagtägliche Elend der geopferten Helden an sich vorbeiziehen – ein solches Heer anonymer Opfer, dass selbst die Walhalla nicht alle hätte aufnehmen können. Nach und nach begann er an seinem schönen Ideal wieder zu zweifeln. Über die Siegesmeldungen legte sich immer öfter das beunruhigende Lächeln Wanders. Odemars Bettnachbar war ein gewisser Zimmermann, Redakteur des Vorwärts und glühender Revolutionär, der in seinen Fieberanfällen nach Danton und Jaurès rief. Jene Namen klangen an solchem Ort reichlich seltsam. Glücklich, einander gefunden zu haben, freundeten die beiden Intellektuellen sich an. Beim Spaziergang im Gemüsegarten hinter dem Lazarett brachte der Sozialist, ungeduldig wie ein Rennpferd, Odemar eine neue Mystik bei, nämlich die der Gerechtigkeit, der menschlichen Freiheit, der Revolution. Wenn schon Mystik, dann tat, angesichts der Zeitläufte, diese es mindestens ebenso gut wie die Wanders. Das rote Gift sickerte ja auch schon in die gesamte deutsche Armee ein. Durch diverse Schriften, die Zimmermann unter Odemars Kopfkissen schob, wurde jener vollends überzeugt. Und als sie sich trennten, ließ sich der Redakteur von seinem noch etwas schüchternen, doch wohl aufrichtigen Anhänger das Versprechen abnehmen, ihn besuchen zu kommen, sobald er nur in Berlin eintreffe, wobei Zimmermann nicht zu hoffen gewagt hätte, dass dies so kurz danach schon geschehen werde! Und nun stand Odemar in der Leipziger Straße. Sollte das der berühmte Boulevard sein, der vor Licht und schönen Frauen nur so funkelte, dieser lange graue Tunnel hier, in dem die Menge sich ausdehnte wie eine Schicht Presskaviar? Vom Hörensagen und von Fotos kannte er die berühmte Siegesallee, die Kaiser Wilhelm I. zum Ruhme seiner Vorfahren hatte erbauen lassen: Alle zwanzig Meter steht auf einem Sockel aus Kandiszucker in kitschiger, gestelzter Pose ein preußischer König oder Fürst und grinst die Geschichte an. Aber hör mal, war das hier nicht eher die Allee der Niederlage? Alle zwanzig Meter saß in einer Toreinfahrt oder vor dem Eingang eines prächtigen Ladens ein bettelnder Kriegsversehrter und bat inständig darum, für sein Heldentum bezahlt zu werden. O nein, eine Marmorstatue verlangte er nicht, sondern einen Groschen; jener aber ist oft schwerer zu erlangen als diese. Es waren Heldenschatten, Menschenwracks, Soldatenkarikaturen, die makabre Kriegsmelodien spielten, auf Querpfeifen oder Trommeln der Armee, Klarinetten oder anderen Behelfsinstrumenten. Ein paar Privilegierte drehten die Kurbel eines Leierkastens. Es war eine Galerie des Grauens: Ein Mädchen mit strohblonden Haaren schob in einem alten Kinderwagen, in dem es vor nicht allzu langer Zeit wohl selbst gewiegt worden war, einen arm- und beinlosen Leib vor sich her. Etwas weiter wackelte auf einem langen Körper ein Kopf, der nur mehr eine Kugel aus rosafarbenem Fleisch war, mit einem Loch in der Mitte, das Mund und Nase ersetzte. Ein anderer Mann hatte einen nervösen Tic, der ihn zwang, ständig auf einem Bein zu tanzen. Man spürte, dass er tot umfallen würde, sobald er damit aufhörte! Odemar fragte sich, ob er sich nicht in diese triste Parade einreihen sollte. Hoffnungs- und willenlos ließ er sich von seinem Schicksal treiben. Was sollte er tun? Wovon leben? Da lief ihm ein Zeitungsjunge vor die Füße, der rief: «Der Vorwärts! Der Vorwärts! Die neue Revolutionsregierung!» Odemar fiel wieder ein, dass er in dieser Stadt einen Freund hatte, dem er etwas versprochen hatte. Glücklich, ein Ziel zu haben, fragte er einen Passanten nach der Adresse des Vorwärts. «Da kommen Sie jetzt nicht hin», erwiderte der. «Vor dem Gebäude wird übrigens geschossen. Es wird seit heute Morgen von Konterrevolutionären belagert.» «Das kommt mir gerade recht!», dachte Odemar. Er spürte, wie sich nach den langen Tagen der Erschöpfung und der völligen Aufgabe in ihm wieder etwas regte. Als er in der Lindenstraße ankam, stieß er tatsächlich auf einen Kordon von Soldaten, die mit aufgepflanztem Bajonett und Handgranaten am Koppel die Straße etwa hundert Meter vor dem Gebäude sperrten, in dem sich in jenen makabren Tagen das Schicksal des deutschen Volkes entschied. In einer Nebenstraße knatterte eine Salve, worauf Schreie des Schreckens und des Todes ertönten. Odemar aber kämpfte sich unerschrocken vor bis zu dem Unteroffizier, der das Kommando befehligte. Er ließ den hellroten Schmiss schimmern, den er dem Fürsten von Thurn und Taxis verdankte, und sprach mit der Stimme eines ehemaligen Arminiers: «Ich überbringe ein Schreiben des Platzkommandanten an Herrn Zimmermann, Redakteur beim Vorwärts.» Der Soldat war es gewohnt, solchem Ton zu gehorchen, und ließ ihn durch. Ganz allein auf der leblosen, gar luftlosen Straße, zwischen furchterstarrten Häusern, ging Odemar in seiner verwaschenen, heruntergekommenen Uniform dahin und hörte dabei in der Hosentasche das Eiserne Kreuz gegen Knöpfe und...


Zischler, Hanns
Hanns Zischler arbeitet als Schauspieler und Publizist in Berlin und anderswo. Neben seiner Mitwirkung im Fernsehen und in internationalen Filmen gründete er 2006 den Alpheus Verlag wieder. 1996 erschien »Kafka geht ins Kino«, 2008 (mit Sara Danius) »Nase für Neuigkeiten - Vermischte Nachrichten von James Joyce«; 2010, zusammen mit Hanna Zeckau: »Der Schmetterlingskoffer«, und ebenfalls 2010 zusammen mit Friederike Gross der Comic »Aus der Nachwelt«. 2009 erhielt er den Heinrich-Mann-Preis (für Essayistik) der Akademie der Künste, Berlin, 2010 den Deutschen Hörbuchpreis.

Meier, Gerhard
Gerhard Meier, geboren 1957, lebt seit 1986 in Lyon und übersetzt literarische Werke aus dem Türkischen und Französischen, unter anderem von Orhan Pamuk, Zülfü Livaneli, Amin Maalouf, Henri Troyat und Sait Faik. 2014 erhielt er für sein Gesamtwerk den Paul-Celan-Preis.


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