E-Book, Deutsch, Englisch, 192 Seiten
Goldsworthy Maestro
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-552-06375-4
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Englisch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-552-06375-4
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Peter Goldsworthy, geboren 1951 in Minlaton (Australien), studierte Medizin und lebt heute als Schriftsteller und Arzt in Adelaide. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Lyrik und Erzählungen; mehrere seiner Romane wurden für die Bühne adaptiert oder verfilmt. Peter Goldsworthy gehört zu den renommiertesten Autoren Australiens. Bei Deuticke erschien 2007 der Roman Maestro, 2009 Nacht für drei Hunde und 2011 Ernster als Liebe.
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»Von Mum.«
»Und die?«
»Dad.«
Er stand jammernd in der Tür des Musikzimmers, auf Krücken gelehnt, sein Knöchel in der üblichen glatten weißen Masse, seine Brille so sehr poliert, dass sie — wie immer — aussah, als bestünde sie aus einer leeren Fassung ohne Gläser. Ich fühlte mehr und mehr den Drang, das zu überprüfen, meine Finger durchzustecken …
*
Erst als der letzte Regentropfen aus dem letzten Wolkenfetzen dieser Regenzeit gewrungen war, wurde mir erlaubt, Keller vorzuspielen: Das achte oder neunte Mal war ich in sein dunkles Zimmer im Swan hinaufgeklettert. Die frischeren, klareren Morgen hatten sein Herz erweicht — aber nur ein bisschen.
»Chopin?«, bettelte ich.
»Wir müssen Bach spielen, bevor wir Chopin spielen.«
»Welchen Bach?«
»Alles von Bach.«
Ich zog das Italienische Konzert aus meiner Schultertasche und stellte es auf das Klavier, doch er lachte. Er kramte ein paar Augenblicke lang in seinen eigenen Noten und kam schließlich mit einer Ausgabe von Bach für Kinder daher.
»Das habe ich vor Jahren schon gespielt«, protestierte ich.
»Bist du zu stolz, das noch einmal zu spielen?«
»Es ist leicht.«
Er schaffte es, mit seinen feuchten roten Augen streng zu blicken: »Bach ist nie leicht.«
Mein Vater, der immer noch manchmal an den Stunden teilnahm, saß still schreibend in seinem Lehnsessel. Bach ist nie leicht. Keller stellte den Bach auf sein Klavier und begann zu spielen. Er spielte das gesamte Buch durch — ungefähr eine halbe Stunde lang — und gab es mir dann zurück.
»Niemand kann zu stolz sein für das. Du wirst jede einzelne Note bis nächste Woche lernen. Dann werde ich dir beibringen, sie zusammenzustellen. Ich werde dir die Musik beibringen.«
»Es ist etwas passiert«, informierte ich meine Mutter beim Abendessen.
»Ja?«
»Ich bin wieder in den Kindergarten eingeschrieben worden.«
Mein Vater lachte. Nichts schien ihm in letzter Zeit die Laune verderben zu können. Nach dem Abendessen förderte er seine eigene Ausgabe von Bach für Kinder zu Tage und begann zu spielen — langsam, mit unendlicher Mühe, wobei er die einfachsten Phrasen immer und immer wieder wiederholte.
»Die Sachen, die er macht«, hörte ich ihn sagen. »Hör dir das an, Nancy. Und das. Die Stimmen. Die Nuancen.«
»Glaubst du nicht, dass das etwas zu leicht ist?«
Ich lächelte über seine Antwort: »Bach ist nie leicht.«
»Natürlich. Aber technisch …«
»Er hat diese Fähigkeit — er findet etwas Neues in den gewöhnlichsten Passagen. Es ist erstaunlich. Du solltest zu den Stunden mitkommen.«
»Mich würde der Hitzschlag treffen, wenn ich nur noch eine Minute in diesem Zimmer zubringen würde.«
»Ich hab mir gedacht, ich könnte einige dieser Stücke der Gruppe am Freitagabend vorspielen. Was meinst du?«
»Ich denke, sie erwarten sich wahrscheinlich etwas Schwierigeres.«
»Du meinst etwas … Spektakuläreres.«
Meine Eltern hatten sich langsam in das Gesellschaftsleben der Stadt eingefügt. Als die Trockenzeit kam — sieben Monate klare, blitzblaue Tage — ging das schneller. Jedes Wochenende brachte Grillparties, Tennisnachmittage, Zusammenkünfte, bei denen miteinander getrunken, gesprochen, musiziert wurde …
Am Freitagabend fand die »Soirée« statt. Ein Kreis von Amateurmusikern, die meisten Bekannte aus der Kirche, Chormitglieder, versammelten sich in unserem Haus und wechselten sich dabei ab, irgendein Stück für Klavier oder Flöte oder die Stimmbänder einzustudieren und aufzuführen.
Keller nahm nie teil. Mein Vater drängte ihn nach jeder Stunde dazu, und am Anfang bemühte sich der Maestro, verschiedene mehr oder weniger plausible Entschuldigungen vorzubringen. Später grunzte er nur mehr. Noch später, als berufliche Verpflichtungen meinen Vater daran hinderten, an den Stunden teilzunehmen, wurde ich es leid, Keller einzuladen. Wenn ich zu Hause gefragt wurde, ob er kommen würde, lehnte ich für ihn ab.
»Ist er beschäftigt?«
»Er fühlt sich nicht gut«, improvisierte ich. »Er würde sehr gern kommen, aber sein Magengeschwür …«
»Er hat ein Magengeschwür?«
»Ich glaube, das hat er gesagt. Es ist schwer zu sagen. Der Akzent …«
Ich trat bei diesen Zusammenkünften am Freitagabend selbst ein oder zwei Mal auf und genoss das Getue und das Lob dieser Lehrer und Doktoren und Beamten, ich sonnte mich in der Akzeptanz der Älteren, der Erwachsenen, was die Ablehnung durch meine eigene Altersgruppe eigentlich leicht hätte kompensieren sollen.
Doch dem war nicht so.
In den Diskussionen an den Freitagen kam man oft auf das Thema Keller zu sprechen. Das Erste Gesetz des Klatsches nannte das meine Mutter immer: Sprich immer über die Abwesenden. Verschiedene Theorien, Halbwahrheiten und Unterstellungen wurden breitgetreten, die oft völlig widersprüchlich waren und in jedem Fall extrem. Meine eigene frühere Theorie wurde auch von anderen vertreten: Er war ein Kriegsverbrecher, der sich versteckt hielt. Öfter war er ein Jude, ein Überlebender von Auschwitz. Oder ein Russe, ein Trotzkist. Manchmal hatte er eine kriminelle Vergangenheit: Schwarzmarkt nach dem Krieg, gefälschte deutsche Mark. Oder er hatte als Perlenfischer gearbeitet, ein Vermögen gemacht und durch seine Nieren gefiltert …
»Wie lange ist er schon da?« Mein Vater war immer neugierig.
»Mindestens zehn Jahre.«
»Eher fünfzehn. Ach ja, ich erinnere mich …«
Solche ungefähren Angaben fügten dem inoffiziellen Dossier, das meine Eltern anlegen konnten, wenig hinzu. Sein Ruhm in Europa vor dem Krieg — nun ein Glaubenssatz meines Vaters — überraschte jeden: Keiner der Einheimischen hatte ihn je öffentlich spielen hören.
Mein Vater verteidigte ihn. »Er war ein Schüler von Leschetizky«, erklärte er ehrfürchtig.
Da das keine Ahas auslöste, fühlte er sich gezwungen, es näher auszuführen: »Der natürlich ein Schüler von Liszt war.«
Doch auch das verlieh Keller keine Immunität.
»Es gibt Schüler und Schüler«, sagte meine Mutter leise.
Alle Gespräche hörten auf. Ich habe mich immer schon über diese Macht von ihr gewundert: Sie konnte immer die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, indem sie die Stimme senkte.
»Erinnere dich doch an die Geschichte von Mascagni«, sagte sie zu meinem Vater, und wandte sich dann der übrigen Gesellschaft zu. »Der italienische Komponist?«
»Du meinst Mascanji?« Die Organistin der Kirche, eine gnadenlose Besserwisserin, korrigierte ihre Aussprache. »Der Komponist von Cavalleria Rusticana?«
»Wahrscheinlich«, lächelte meine Mutter, ungerührt. »Wer auch immer. Der Komponist kam auf der Straße an einem Drehorgelmann vorbei, der eine Melodie aus seiner neuen Oper spielte. Er blieb kurz stehen, um dem Mann zu erklären, dass sie schneller gespielt werden sollte.«
Sie machte eine Pause, um den Käsedip herumzureichen, und hielt so die Spannung aufrecht.
»Das nächste Mal, als er dort vorbeikam, hing ein Schild auf dem Orgelkasten: Schüler von Mascagni.«
Sogar mein Vater lachte, bevor er klarstellte:
»Keller ist kein Drehorgelmann.«
Die Kirchenorganistin — ich erinnere mich, dass sie das immer Organistinne aussprach — gab zu, vor ein paar Jahren kurz beim Maestro Stunden genommen zu haben; aber nur vier Wochen lang.
»Er hat mir überhaupt nichts beigebracht.«
Da ich sie jeden Sonntag in der Kirche spielen hörte, vermutete ich, dass Keller genau dasselbe gesagt hätte, allerdings mit einer etwas anderen Betonung.
*
Die Trockenzeit nahm ihren anscheinend endlosen Lauf: ein permanenter Frühling mit perfektem Wetter, jeder Tag hoch, blau, durchsichtig; jede Nacht wolkenlos und kühl und dazwischen nur eine ganz kurze Spanne der Dämmerung — die Sonne stand gerade noch hoch am Himmel, in der nächsten Minute war sie verschwunden, plötzlich, still aufgesogen unter dem Horizont.
Unsere Abendmahlzeiten wurden nach draußen auf den Balkon verlagert: ein nächtliches Ritual zur Abkühlung, bevor wir wieder in das wärmere Haus zurückgingen, um zu musizieren und Hausarbeiten zu machen.
Keller hatte sich auch nach draußen verlagert. An jedem Dienstag traf ich ihn im Biergarten unten sitzend an, so, als hätte ihn die Trockenzeit irgendwie geselliger, demokratischer gemacht. Sein weißer Anzug und sein...