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E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: Dragonfly
Goldewijk 1000 und ich. Zweifle nicht, zögere nicht, hinterfrage nicht.
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7488-0279-2
Verlag: Dragonfly
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Preisgekrönter Autor | Jugendbuch ab 12 | Dystopie über Identität, Individualität und Freundschaft
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: Dragonfly
ISBN: 978-3-7488-0279-2
Verlag: Dragonfly
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Für 8 ist jeder Tag gleich. Jeden Tag lebt sie nach einer strengen Lehre, die sie auf ein sinnvolles Leben im Ausland vorbereitet. Jeden Tag fügt sie sich unter tausende andere Mädchen, die genauso aussehen wie sie.
Aber 8 fühlt anders. Sie fühlt sich besonders und das ist ein Problem. Denn jemand zu sein ist verboten und kann sie in große Gefahr bringen. Doch dann sieht sie die eine unter den anderen und für 8 gibt es kein Zurück mehr. Sie wird fliehen müssen. Zusammen mit ihr.
Schöne neue Welt: ein Text der Fragen aufwirft, konfrontiert, berührt und bewegt
Autoren-Talent Yorick Goldewijk, ausgezeichnet mit dem 'Goldenen Griffel'? (Niederlande)
Yorick Goldewijk wurde 1979 in den Niederlanden geboren. Er wollte immer Schriftsteller, Künstler und Musiker werden. Das Zeichnen hat im Laufe der Jahre ein wenig nachgelassen, aber er hat nie aufgehört zu schreiben. Neben Kinder- und Jugendbüchern schreibt er Musik für Werbespots, Filme und sogar für Spiele. Mit seinem Kinderbuch »Cato und die Dinge, die niemand sieht« gewann er 2022 den Goldenen Griffel, den wichtigsten Kinder- und Jugendbuchpreis in den Niederlanden.
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Kalibrierung
Jeden Morgen, wenn der Zug am Großen Platz vor dem Terminal zum Stehen kommt und ich mit den anderen aussteige, spähe ich zur Spitze des Gebäudes hinauf. Während die anderen fest geradeaus schauen, wandert mein Blick für einen Moment zum Himmel, wo der Terminal wie ein gigantisch aufragender weißer Steinblock die Luft in zwei Teile spaltet. Aber nach oben hin scheint der Bau unendlich zu sein. Es ist schlicht keine Spitze zu sehen. Auch hier hallen die Prinzipien über uns hinweg. Noch viel auffälliger ist aber das Surren der Seher.
»Bleib ruhig, 8«, flüstere ich mir selber zu. Ich bin viel zu wach, viel zu lebendig. Und die Seher merken alles. Es ist gar nicht lange her, dass auf dem Großen Platz eine der anderen beendet wurde. Soweit ich weiß, geschieht es immer dort, wo jede andere es mitbekommt. Eine öffentliche Hinrichtung, die mit sicherer Regelmäßigkeit wiederholt wird, als Mahnung für uns alle. Beim letzten Mal war ich gerade aus dem Zug gestiegen. Der Große Platz war voll und plötzlich – mitten in den Prinzipien – schwiegen die Lautsprecher. Evis Stimme sprach auf einmal direkt zu uns:
Die Seher sammelten sich am Rande des Großen Platzes. Wir alle traten lautlos einen Schritt zurück und bildeten einen großen Kreis. Eine von uns blieb in der Mitte zurück, wie erstarrt. Sie saß zusammengesunken da und streckte den Sehern die Hände entgegen, als ob sie sich schützen wollte. In diesem Moment wurde ich von einer großen Traurigkeit überspült, gegen die ich nicht ankam. Natürlich wollte ich das nicht, denn Trauer zu spüren, ist ein großes Übel. Schon allein deshalb hätte ich an ihrer Stelle stehen müssen. Und außerdem war sie eine Abtrünnige und verdiente ihre Beendigung. Trotzdem spürte ich diese Traurigkeit in mir aufsteigen. Zum Glück hat es mir niemand angemerkt. Mit trockenen Augen starrte ich auf die Abtrünnige, so wie es sich gehört. Ich wandte den Blick nicht noch einmal ab, ich bekam alles ganz genau mit.
Zuerst wirkte sie ein bisschen unscharf, so als ob ich morgens aus dem Tiefschlaf erwachen und als Allererstes sie sehen würde. Aber schon nach wenigen Sekunden hatte sich alles, was sie ausmachte, zu einer abstrakten grauen Fläche verwaschen. Dann war dort nur noch die leere Straße, und meine Trauer verwandelte sich in Angst. Angst vor dem, was in mir vorging. Vor dem sinnlosen Tagtraum, den ich immer häufiger zuließ. Vor falschen Gedanken, die sich in meinem Kopf breitgemacht hatten.
Mir ist bewusst, dass die Seher auch jetzt da sind, sie kreisen über dem Großen Platz, und mir ist, als ob sie kurz über mir verharren, als ob sie spüren, dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist. Ich bringe alle Gedanken in meinem Kopf zum Schweigen und laufe, so sittsam ich kann, zwischen den anderen zum Eingang des Terminals.
Oft denke ich an Evis Worte auf dem Großen Platz: . Ich versuche dann, mir genau das vorzustellen. Die Beseelten ähneln uns, soviel weiß ich. Sie leben in Städten, die wie Surdus aussehen. Ich weiß auch, dass sie miteinander reden und sich ansehen. Dass sie lachen und weinen und streiten. Dass sie sich durch Gefühle leiten lassen. Dass dies ihre Kraft, aber auch ihre Schwäche ist. Dass Evi versucht, uns genau das abzugewöhnen. Und dass ich das nicht wirklich schaffe, das weiß ich auch.
Immer wenn ich den Terminal betrete, wird mir schwindelig. Die Wände sind so perfekt gleichmäßig weiß, dass ich nicht erkennen kann, wie groß er wirklich ist. Jedes Gefühl für Raum scheint zu schwinden. Ich schwanke kurz, wie so oft. Soweit ich weiß, schwanken die anderen nie, sondern laufen ungerührt weiter. Wenn ich den Blick nach oben richte, ist es, als würde ich in die Unendlichkeit schauen. Die Wände scheinen endlos weiterzugehen, bis sie sich irgendwo im Weiß verlieren. Sobald ich hier drinnen bin, fühle ich mich unbehaglich und nackt. Als ob sich irgendwo dort oben etwas versteckt hält, das mich anschaut. Das mich beobachtet und beurteilt und versucht, in mich einzudringen. Und ich weiß, dass es gleich noch schlimmer werden wird, viel schlimmer.
Wie immer versuche ich, mich über mein Unbehagen hinwegzusetzen und mich, ohne groß nachzudenken, vom Strom der anderen mitziehen zu lassen. Vor mir, mitten im Terminal, liegt das Labyrinth der tausend Kammern, in denen irgendwo der Rest des Tages auf mich wartet.
Den Weg zu meiner Kammer finde ich natürlich problemlos. An ihrer Tür steht in dicker schwarzer Tinte mein Name: 8. Ich gehe hinein und nehme auf meinem Hocker Platz. Die weißen Wände um mich herum sind dünn und reichen mir etwa bis zur Stirn, über mir ist das unendliche Weiß des Terminals und vor mir der Bildschirm.
Der vierte Schlag ertönt. Auf dem Bildschirm erscheint ein schwarzes Viereck. Darunter die Frage: ? Ich tippe auf . Aus den Kammern um mich herum höre ich das Geräusch von Tausenden von Fingern, die auf Bildschirme tippen. Der Tag hat begonnen.
Das nächste Bild ist eine Flasche. Die Frage: Ich tippe auf .
Ein Kreis: Kreis.
Wie viele dieser Fragen wohl an einem einzigen Tag an mir vorüberziehen? Tausende, vielleicht sogar Zehntausende. Viereck. Vier.
Noch nie musste ich über eine Frage nachdenken. Jede Antwort ist so eindeutig, dass es unmöglich ist, sich zu irren. Darüber habe ich mich schon manches Mal gewundert. Eine Zeit lang habe ich erwartet, dass die Fragen langsam, aber sicher schwieriger würden, dass ich konzentriert bleiben muss, dass dies ein Test meiner Fähigkeiten ist. Aber es ist kein Test. Die Antworten bleiben immer gleich eindeutig, jeden Tag aufs Neue. Ich glaube, inzwischen weiß ich auch, warum. Natürlich sind die Antworten eindeutig. Natürlich dient das Antippen der richtigen Antwort keinem bestimmten Zweck. Aber es jeden Tag wieder gehorsam aufs Neue anzugehen – das ist der Test. Das ist der richtige Weg.
Die Prinzipien zu hören, ist eine Sache, aber sie zu leben eine andere.
Also haste ich eifrig durch die Fragen und hoffe, dass mein Eifer auch auffällt. Jedes richtige Tippen bringt mich näher zur Überfahrt, da bin ich sicher. Zu einem sinnerfüllten Dasein auf der anderen Seite des Meeres, hinter dem Wall. Jede Zelle meines Körpers ist auf dieses Ziel hin ausgerichtet. Und ohne meine störenden Tagträume wäre ich schon längst bereit dafür.
Unwillkürlich wandert mein Blick vom Bildschirm nach oben, ins Weiß. Es kommt mir von Tag zu Tag schlimmer vor, jeden Tag scheint irgendetwas von dort oben tiefer in mich einzudringen. Etwas, was nicht zu mir gehört, das einfach in meinen Kopf hineinkriecht, während ich Bildschirm für Bildschirm auf die richtigen Antworten tippe. Mir ist klar, dass ich mich beugen sollte, dass es falsch ist, mich zu wehren, aber es macht mich krank. Ich spüre, wie es meine Poren durchdringt, von innen an meinem Kopf entlangreibt, mir ins Herz und in die Knochen sticht. Etwas, das brennt und reinigt.
Etwas, das zuhört.
»Ich bin nichts«, flüstere ich, in der Hoffnung, diesem Etwas damit zu gefallen, während ich verzweifelt weiter die richtigen Antworten antippe und versuche, mein Unbehagen wegzudrücken. »Ich will nichts und finde nichts.«
Ich lasse alles in mir geschehen. Ich tippe und tippe und tippe, während das endlose Weiß des Terminals jede Zelle meines Körpers durchdringt, bis nichts mehr von mir übrig bleibt als mein Finger auf dem Bildschirm, meine korrekten, schnellen Antworten, bis ich nichts mehr fühle als Hingabe.
Ich bin auf dem richtigen Weg. Jedenfalls in diesem Moment.
Als würde jemand eine Glasglocke von der Welt abheben, füllt sie sich plötzlich wieder mit Raum und Luft. Aus der Ferne ertönt der fünfte Schlag, und um mich herum höre ich tausendfaches Seufzen, gefolgt vom Scharren von Tausenden von Füßen. Der Tag ist um. Ich bin so müde, dass ich mich am liebsten an Ort und Stelle auf den Boden legen würde, aber trotzdem stehe ich auf, verlasse meine Kammer und schlurfe zum Ausgang, hinaus aus dem Terminal und auf den Großen Platz, wo es inzwischen dämmerig geworden ist.
Als ich im Zug sitze und spüre, wie er sich in Bewegung setzt, starre ich fest auf meine Knie. Aber meine Hingabe scheint mit jedem Atemzug mehr zu verdunsten. Ich bin nicht nichts – noch immer nicht, erkenne ich. Und ich will nicht nichts und ich finde nicht nichts. Und ich zweifle schon wieder an allem, sosehr ich auch dagegen ankämpfe. Ich seufze meine Lunge über die Köpfe der anderen hinweg leer, während mein Blick schon wieder...