E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Gogol Nikolai Gogol - Die besten Geschichten
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-27650-8
Verlag: Anaconda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-641-27650-8
Verlag: Anaconda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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DER NEWSKI-PROSPEKT
Es gibt nichts schöneres als den Newski-Prospekt, wenigstens in Petersburg nicht: Für Petersburg bedeutet er alles. Welcher Glanz fehlt noch dieser schönsten Straße unserer Hauptstadt? Ich weiß, dass keiner von den blassen und beamteten Einwohnern Petersburgs diese Straße gegen alle Kostbarkeiten der Welt eintauschen würde. Nicht nur der Fünfundzwanzigjährige, der einen wundervollen Schnurrbart und einen prachtvoll genähten Rock besitzt, sondern auch der, auf dessen Kinn weiße Stoppeln sprießen und dessen Kopf so kahl ist wie ein silbernes Tablett, ist vom Newski-Prospekt entzückt. Und erst die Damen! Oh, den Damen ist der Newski-Prospekt noch angenehmer! Und wem ist er nicht angenehm? Kaum hat man den Newski-Prospekt betreten, so atmet man nichts als müßiges Herumschlendern. Wenn man sogar ein wichtiges, unaufschiebbares Geschäft vorhat, so vergisst man es, sobald man auf dem Newski ist. Dies ist der einzige Ort, wo die Menschen nicht von irgendeiner Notwendigkeit getrieben erscheinen, nicht vom Geschäftsinteresse, von dem das ganze Petersburg ergriffen ist. Der Mensch, dem man auf dem Newski-Prospekt begegnet, scheint weniger Egoist zu sein, als einer, den man in der Morskaja-, Gorochowaja-, Litejnaja-, Mjeschtschanskaja- und in jeder anderen Straße trifft, wo Gier und Habsucht auf allen Gesichtern ausgeprägt sind, die vorbeigehen und in Equipagen und in Droschken vorbeijagen. Der Newski-Prospekt ist die wichtigste Verkehrsader von ganz Petersburg. Ein Bewohner des Petersburger oder des Wyborger Stadtteils, der seinen Freund, welcher im Peski-Stadtteil oder am Moskauer Tor wohnt, schon seit mehreren Jahren nicht besucht hat, kann sicher darauf rechnen, dass er ihm auf dem Newski-Prospekt begegnet. Kein Adressbuch und keine Auskunftsstelle können so zuverlässige Nachrichten geben wie der Newski-Prospekt. Der Newski-Prospekt ist allmächtig! Er ist die einzige Zerstreuung für das an Spaziergängen so arme Petersburg! Wie sauber sind seine Bürgersteige gekehrt, und, mein Gott, wie viel Füße hinterlassen auf ihm ihre Spuren! Der plumpe schmutzige Stiefel des gedienten Soldaten, unter dem selbst das Granitpflaster zu bersten scheint, das winzige, wie Rauch leichte Schuhchen der jungen Dame, die ihr Köpfchen den glänzenden Schaufenstern zuwendet, wie die Sonnenblume der Sonne, der rasselnde Säbel des von Hoffnungen erfüllten Fähnrichs, der in ihn eine scharfe Spur kratzt – alles lässt ihn die Macht der Kraft und die Macht der Schwäche fühlen. Wie schnell wechseln hier die fantastischen Bilder im Laufe eines einzigen Tages ab! Wie viel Veränderungen muss er in vierundzwanzig Stunden erleiden! Fangen wir mit dem frühen Morgen an, wo ganz Petersburg nach heißen, frisch gebackenen Broten riecht und von alten Weibern in zerrissenen Kleidern und Mänteln wimmelt, die die Kirchen und die mitleidigen Passanten überfallen. Um diese Stunde ist der Newski-Prospekt leer: Die dicken Ladenbesitzer und ihre Kommis schlafen noch in ihren holländischen Hemden oder seifen sich ihre edlen Wangen ein oder trinken Kaffee; die Bettler versammeln sich vor den Türen der Konditorei, wo der verschlafene Ganymed, der gestern mit den Tassen Schokolade wie eine Fliege herumgeflogen ist, ohne Halsbinde, mit einem Besen in der Hand erscheint und ihnen ausgetrocknete Kuchen- und Speisereste hinwirft. Durch die Straßen zieht arbeitendes Volk; manchmal sieht man hier auch einfache russische Bauern, die in kalkbeschmierten Stiefeln, die selbst der Katharinenkanal, der wegen seiner Sauberkeit berühmt ist, nicht abwaschen könnte, zur Arbeit eilen. Um diese Stunde sollen sich Damen hier lieber nicht zeigen, denn das russische Volk wendet gern so kräftige Ausdrücke an, die sie wohl auch nicht im Theater zu hören bekommen. Manchmal sieht man hier auch einen verschlafenen Beamten mit einer Aktentasche unter dem Arm, den der Weg nach seinem Departement zufällig über den Newski führt. Man kann mit Bestimmtheit sagen, dass um diese Tageszeit, das heißt bis zur Mittagsstunde, der Newski-Prospekt für niemanden ein Ziel bildet; er ist für alle nur ein Mittel: Er füllt sich allmählich mit Menschen, die ihre Beschäftigungen, ihre Sorgen und ihren Ärger haben und an ihn gar nicht denken. Der russische Bauer spricht von zehn Kopeken oder von sieben Kupfergroschen, die alten Männer und Frauen schwingen die Arme oder sprechen mit sich selbst, manchmal mit recht ausdrucksvollen Gebärden, aber niemand hört ihnen zu und niemand lacht über sie, höchstens einige Jungen in bunten Hausröcken, die mit leeren Schnapsflaschen oder fertigen Stiefeln in den Händen wie der Blitz über den Newski-Prospekt schießen. Um diese Zeit darf man nach Belieben gekleidet sein – wenn man sogar statt eines Hutes eine Tellermütze aufhat, auch wenn der Kragen zu weit aus der Halsbinde hervorsteht – niemand wird es merken.
Um zwölf Uhr wird der Newski-Prospekt von den Hofmeistern aller Nationen mit ihren Zöglingen in Batistkragen überfallen. Die englischen Johns und die französischen Coqs gehen Arm in Arm mit den ihrer väterlichen Obhut anvertrauten Zöglingen und erklären ihnen mit gebührender Würde, dass die Schilder über den Kaufläden zu dem Zweck angebracht seien, damit man erfahren könne, was in den Kaufläden selbst vorhanden sei. Die Gouvernanten, die blassen Misses und die rosigen Mademoiselles schreiten majestätisch hinter den leicht beschwingten, koketten kleinen Mädchen einher und befehlen ihnen, die linke Schulter etwas höher zu ziehen und sich besser zu halten; kurz, der Newski-Prospekt ist um diese Stunde ein pädagogischer Newski-Prospekt. Aber gegen zwei Uhr nimmt die Zahl der Gouvernanten, der Pädagogen und der Kinder ab; sie werden allmählich von den zärtlichen Vätern der Letzteren verdrängt, die Arm in Arm mit ihren bunt gekleideten, nervenschwachen Lebensgefährtinnen gehen. Allmählich gesellen sich zu ihnen alle, die mit ihren wichtigen häuslichen Angelegenheiten fertig geworden sind: Sie haben mit ihrem Hausarzt über das Wetter und über den kleinen Pickel gesprochen, der sich auf der Nase gebildet hat, haben sich nach dem Befinden ihrer Pferde und ihrer Kinder, die übrigens gute Fähigkeiten an den Tag legen, erkundigt, haben den Theaterzettel und eine wichtige Meldung in der Zeitung über die neu eingetroffenen und die abgereisten Personen gelesen und schließlich eine Tasse Kaffee oder Tee getrunken; zu ihnen gesellen sich diejenigen, denen das beneidenswerte Los zugefallen ist, den gesegneten Posten eines Beamten für besondere Aufträge zu bekleiden. Zu ihnen gesellen sich auch diejenigen, die im Auswärtigen Amt dienen und sich durch ihre vornehmen Beschäftigungen und Angewohnheiten auszeichnen. Mein Gott, was gibt es doch für schöne Ämter und Posten! Wie erheben und erquicken sie das Herz! Ich aber stehe leider nicht im Staatsdienst und bin des Vergnügens beraubt, die seine, edle Behandlung durch die Vorgesetzten zu fühlen. Alles, was Sie auf dem Newski-Prospekt sehen, ist von Wohlanständigkeit erfüllt: Die Herren tragen lange Röcke und halten die Hände in den rückwärtigen Taschen, die Damen – rosa, weiße und blassblaue Atlasmäntel und elegante Hüte. Hier können Sie Backenbärte sehen, die einzigen Backenbärte, die mit ungewöhnlicher und erstaunlicher Kunst hinter die Halsbinden gekämmt sind, samtweiche, atlassene Backenbärte, schwarz wie Zobel oder wie Kohle, die aber leider nur das Privileg des Auswärtigen Amtes allein bilden. Den Beamten der anderen Departements hat die Vorsehung die schwarzen Backenbärte versagt; sie müssen zu ihrem größten Ärger rötliche Backenbärte tragen. Hier sehen Sie Schnurrbärte, so herrlich, wie man sie mit keiner Feder beschreiben, mit keinem Pinsel darstellen kann; Schnurrbärte, denen die bessere Hälfte des Lebens geweiht ist, die den Gegenstand der größten Sorgfalt bei Tag und bei Nacht bilden; Schnurrbärte, mit den herrlichsten Parfüms begossen, mit den kostbarsten und seltensten Pomaden gesalbt; Schnurrbärte, die für die Nacht in das feinste Velinpapier gewickelt werden; Schnurrbärte, die von der rührendsten Anhänglichkeit ihrer Besitzer betraut werden und auf die alle Vorübergehenden neidisch sind. Tausende Sorten von bunten, leichten Hüten, Kleidern, Tüchern, an denen ihre Besitzerinnen zuweilen ganze zwei Tage lang hängen, blenden jeden, der durch den Newski-Prospekt geht. Es ist, als hätte sich eine ganze Wolke von Schmetterlingen plötzlich von den Blumenstängeln erhoben und schwärme über den schwarzen Käfern des männlichen Geschlechts. Hier kann man solchen Taillen begegnen, wie man sie nicht mal im Traum gesehen hat: Es sind feine, dünne Taillen, nicht stärker als ein Flaschenhals – wenn man ihnen begegnet, tritt man respektvoll auf die Seite, um sie nicht irgendwie unvorsichtig mit dem unhöflichen Ellenbogen anzustoßen; Angst und Scheu übermannen einen, dass man nicht mit einem unvorsichtigen Atemzug dieses herrliche Produkt der Natur und der Kunst zerbreche. Und was für Damenärmeln kann man auf dem Newski-Prospekt begegnen! Ach, diese Herrlichkeit! Sie haben einige Ähnlichkeit mit zwei Luftballons, sodass die Dame...