Goga Das Leonardo-Papier
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-641-03958-5
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 512 Seiten
Reihe: Diana Taschenbücher
ISBN: 978-3-641-03958-5
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
England 1821: Georgina Fielding ist im besten heiratsfähigen Alter, interessiert sich aber mehr für Geologie als für potenzielle Ehemänner. Als sie eine wertvolle Fossiliensammlung und ein rätselhaftes Notizbuch erbt, ist ihre Neugier geweckt. Mithilfe des Reiseschriftstellers Justus von Arnau begibt sie sich auf die Spurensuche. Rätsel gibt ihnen insbesondere eine einzelne Manuskriptseite auf. Sie ist in Spiegelschrift geschrieben wie die Werke Leonardo da Vincis – und hat einen brisanten Inhalt…
Susanne Goga lässt uns an den Anfängen jener revolutionären Wissenschaft teilhaben, die im frühen 19. Jahrhundert an den Grundfesten des Glaubens rüttelte: der Geologie. Zugleich aber ist »Das Leonardo-Papier« die packende Geschichte einer jungen Frau, die sich über Konventionen hinweg setzt und ihren guten Ruf riskiert, um das Geheimnis ihrer Herkunft zu lösen – und ihr persönliches Glück zu erobern.
Ein fesselnder historischer Roman, in dem Leonardo da Vincis »Codex Leicester«, das teuerste Buch der Welt, eine entscheidende Rolle spielt.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
KAPITEL I
Sie genießt es, niemanden zu fürchten und stets zu sagen, was ihr gefällt.
Anna Maria Pinney Über Mary Anning
Lyme Regis, 1812
»Sieh mal, Tante Aga, das ist ein Schlangenstein.« Das Mädchen streckte die Hand aus. Darin lag ein spiralförmiger Stein, der in einem Schlangenkopf endete. Die ältere Dame trug ein streng geschnittenes dunkelgrünes Kleid und eine Haube mit passendem Band.
»Der Kopf ist aber nicht echt. Eigentlich sehen sie anders aus, wenn man sie findet. Schau, so.« Das Mädchen zog einen weiteren Stein aus der Tasche, noch größer und mit einem deutlichen Rippenmuster versehen, der keinen künstlich gemeißelten Schlangenkopf aufwies. »Den hier finde ich noch schöner, weil Mary ihn so in den Klippen gefunden hat.«
»Mary?«, fragte Lady Agatha Langthorne, die mitten auf der Wiese oberhalb der Klippen saß, eine Decke unter sich ausgebreitet, ein wenig abwesend, da sie ein aufgeschlagenes Buch in der Hand hielt. Das milde Wetter erlaubte es ihnen, hier oben auf dem Gipfel der Welt zu sitzen – so jedenfalls kam es ihr vor – , und sie genoss es, die überfüllten Straßen von Lyme hinter sich zu lassen und sich auf die grünen Wiesen mit den vielen Wildblumen zu flüchten, von denen sie einen wunderbaren Blick auf das blau glitzernde Diamantarmband des Kanals hatten.
»Ja, Mary«, wiederholte ihre Großnichte Georgina, »Mary Anning. Meine neue Freundin. Sie hat mir erzählt, dass man diese Steine eigentlich Ammoniten nennt, nach den Hörnern des Gottes Ammon.« Die Zehnjährige strich sich die rotbraunen Strähnen aus dem Gesicht, die aus ihren langen Zöpfen gerutscht waren. Ihr blaugrünes Kleid, unter dessen Saum eine spitzenbesetzte Hose hervorlugte, passte wunderbar zur Farbe ihrer Augen. Manchmal fand sie ihre Nase ein bisschen zu groß, doch sie war gerade und schön gewachsen.
»Meinst du die Kleine, die im Ort Steine verkauft?«, fragte Lady Agatha und schluckte die Sorge angesichts dieser wenig standesgemäßen Bekanntschaft hinunter. Sie waren dem Mädchen kürzlich auf der Straße begegnet, und es hieß, es verdiene mit dem Sammeln von Versteinerungen den Lebensunterhalt für den Bruder und die verwitwete Mutter. Dabei konnte die Kleine nicht älter als zwölf oder dreizehn Jahre alt sein. Zudem hatte Agatha erfahren, dass die Familie nicht der Kirche von England angehörte, sondern einer abtrünnigen Glaubensgemeinschaft, die es nicht einmal verdammte, wenn jemand am heiligen Karfreitag in den Klippen umherkletterte und Steine suchte. Doch Agatha Langthorne war eine lebenskluge Frau und hatte oft genug erfahren, dass die interessantesten Menschen nicht unbedingt jene sein mussten, die einem an Stand, Herkunft und Glauben ebenbürtig waren. Daher streckte sie nun die Hand aus. »Zeig sie mir bitte, Georgina.«
Stolz reichte ihr das Mädchen die beiden Ammoniten. »Und, welcher gefällt dir besser?«
Lady Agatha tat, als müsste sie eine Weile überlegen, und sagte dann mit Bedacht: »Du hast recht, das Natürliche ist schöner als das von Menschenhand Veränderte. Also nicht der mit dem Schlangenkopf. Hat Mary Anning sie dir geschenkt?«
Georgina wurde ein wenig rot und schaute zu Boden, wobei sich weitere Haare aus den Zöpfen lösten und im Wind flatterten.
Ihre Großtante legte einen Finger unter ihr Kinn, hob ihr Gesicht an und sah ihr in die Augen. »Nun?«
»Ich … ich habe sie mir ausgeliehen. Aber ich dachte, wir könnten sie … vielleicht kaufen. Jedenfalls den einen. Marys Familie lebt davon.«
»Wie viel verlangt sie denn dafür?«
»Das weiß ich nicht. Ich wollte dich erst um Erlaubnis bitten, bevor ich Ja sage.« Georgina hob den Kopf.
»Na schön, dann werden wir heute Abend bei den Annings vorbeischauen und uns nach dem Preis erkundigen.« Lady Agatha stand auf und strich ihr Kleid glatt. »So, jetzt könnte ich eine Tasse Tee vertragen. Sollen wir in den Ort hinuntergehen und uns etwas Gutes gönnen?«
Georgina klatschte in die Hände. »Ja, das machen wir. Ich bin so froh, dass wir hergekommen sind. Es ist so schön hier.« Ihr Herz wollte schier überquellen. Sie machte einen zaghaften Schritt auf ihre Großtante zu und legte den Kopf an deren Brust. Agatha Langthorne war eigentlich kein Mensch, der zu körperlichen Zärtlichkeiten neigte, strich ihr aber kurz übers Haar und schaute dabei nachdenklich aufs Meer hinaus.
Während die meisten Damen ihrer Bekanntschaft ins vornehme Gewühl von Bath reisten, hatte Lady Agatha Langthorne es vorgezogen, in diesem Jahr den südlicher gelegenen Kurort Lyme Regis mit seiner reizvollen Küstenlandschaft aufzusuchen. Zwar kamen viele Tagesausflügler von Bath herunter und verstopften mit ihren eleganten Kutschen die engen Straßen, doch wenn man ihnen nicht begegnen wollte, unternahm man einfach einen Spaziergang über die Klippen, bis sie wieder abgefahren waren.
Mit ihrer Großnichte hatte sie schon einige herrliche Wanderungen unternommen, wenn es ihr im Ort zu geschäftig wurde. Außerdem bot Lyme noch ein besonderes Vergnügen, das ganz nach Agatha Langthornes Geschmack war.
Am Strand gab es nämlich fünf hölzerne Badekarren, die von Pferden ins Meer hinausgezogen wurden. Um den Anstand zu wahren, wurden sie von Frauen aus dem Ort begleitet, die die wagemutigen Damen vor neugierigen Blicken schützten. Agatha Langthorne hatte sich schon zweimal im Inneren des Karrens umgezogen und war, nur mit einem einfachen Flanellkleid angetan, ins Meerwasser getaucht, was sie als ausgesprochen wohltuend empfunden hatte. Die Zeiten, in denen man die Berührung mit Wasser als ungesund betrachtete, schienen Gott sei Dank vorüber.
Georgina hatte sich bisher nicht getraut, es ihr gleichzutun, doch Lady Agatha hoffte, das Mädchen noch zu diesem Erlebnis überreden zu können. Nur gut, dass ihr Bruder nicht mitgereist war, denn er hätte gewiss alles darangesetzt, Schwester und Enkelin von diesen neumodischen Torheiten abzuhalten.
Manchmal fragte sich Lady Agatha, ob es ihrer Großnichte nicht schadete, zwischen dem strengen Regiment im Haus des Großvaters und den ungezwungenen Wochen, die sie bei ihr verbringen durfte, hin und her zu pendeln. Eigentlich war das düstere Londoner Stadthaus kein Ort für ein elternloses Kind. Das Mädchen erhielt dort wenig geistige Anregung und kaum Zuneigung vonseiten des Großvaters. Georgina sprach selten über ihre Gefühle, doch die grenzenlose Freude, die sie bei jedem Besuch an den Tag legte, verriet mehr über ihre Einsamkeit als alle Worte. Das und die Fragen, mit denen sie bisweilen herausrückte, wenn sie Lady Agatha in besonders guter Stimmung wähnte. »Wie hat meine Mama ausgesehen? War sie eine schöne Frau? Konnte Papa reiten? Ist er auf die Jagd gegangen, oder hat er lieber über seinen Büchern gesessen? Wie haben sich die beiden kennengelernt?«
In solchen Augenblicken war Lady Agatha froh, wenn sie das wissbegierige Kind rasch ablenken konnte. Sie beschäftigte sich seit Jahren mit Chemie, was schon ihren verstorbenen Mann befremdet hatte – die Ehe war von kurzer Dauer gewesen und kinderlos geblieben – und bei ihrem Bruder auf offene Missbilligung stieß. Doch das hatte sie nie daran gehindert, ihren Interessen nachzugehen, und sie besaß eine beachtliche Sammlung chemischer Lehrbücher. Die ungefährlicheren Experimente führte sie Georgina gern vor, die das Labor als Wunderzimmer bezeichnete, und das Mädchen schaute mit aufgerissenen Augen zu, wenn aus Kolben und Reagenzgläsern blubbernde Blasen aufstiegen oder farbige Dämpfe wallten. Darüber vergaß Georgina auch die drängendsten Fragen.
An der Wand des Salons hing ein kolorierter Stich, der einen Herrn mit weiß gepudertem Haar und Kniehose zeigte, mit einer Hand auf einen Tisch gestützt, auf dem Papier, Tintenglas und eine Flasche zu sehen waren. Um ihn herum auf dem Boden lagen Bücher und seltsam geformte Glaskolben.
»Das ist Lavoisier, der große Chemiker«, hatte Tante Agatha gesagt, als Georgina sie zum ersten Mal nach dem Herrn gefragt hatte. »Zugegeben, ein Genie, selbst wenn er Franzose war.« Dann fügte sie nachdenklich hinzu: »Er hat mit seiner Frau zusammengearbeitet. So stelle ich mir eine ideale Ehe vor. Gemeinsam an wissenschaftlichen Experimenten arbeiten, statt über sparsame Haushaltsführung und Kindererziehung zu streiten. Sie hat auch viele seiner Bücher illustriert.«
»Das würde ich auch gern machen. Ich könnte Schneckenhäuser malen und hübsche Steine«, sagte Georgina spontan. »Musste die Frau nie putzen und kochen?«
»Dafür hatten sie wohl Dienstboten«, meinte Lady Agatha.
Nach und nach hatte Tante Aga mehr über den Herrn in der Kniehose und seine kluge Frau erzählt, doch so gern Georgina ihr zuhörte und die geheimnisvollen Laborutensilien betrachtete, hatte sie sich nie wirklich mit der Chemie anfreunden können. Die Vorstellung, irgendwann einmal mit einem Mann zusammen bedeutende Forschungen anzustellen, ging ihr jedoch noch lange im Kopf herum.
Sie hatten in der Teestube Platz genommen und warteten mit knurrendem Magen auf ihre Scones mit Rahm und Erdbeermarmelade. Einige Gäste, die ebenfalls im Ort residierten, nickten ihnen grüßend zu. Lady Agatha hielt sich zurück, weil sie all jene Menschen als langweilig erachtete, die sich selbst als interessanten Gesprächsgegenstand betrachteten, eine Gruppe, die ihrer Ansicht nach fast die gesamte britische Bevölkerung umfasste. Sie unterhielt sich lieber mit einem verständigen Kind als mit einem albernen Gentleman, der sie...