Götting | Alles Azzurro | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Reihe: Ullstein-Bücher, Allgemeine Reihe

Götting Alles Azzurro

Unter deutschen Campern in Italien
12001. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8437-0263-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Unter deutschen Campern in Italien

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Reihe: Ullstein-Bücher, Allgemeine Reihe

ISBN: 978-3-8437-0263-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Kaum hat Markus in eine Familie von Camping-Fans eingeheiratet, sitzt er auch schon im Auto zu seinem ersten Wohnwagenurlaub in Italien -beladen mit Sonnencreme, Dosenbier und noch mehr Vorurteilen. Am Strand trifft er sie alle: notorische Nackensteak-Griller und Gartenzaun-Aufsteller, die in ihren Wohnmobilen Lindenstraße gucken.Wie kann ein Mann das alles für seine Liebe ertragen? Die Geschichte einer unglaublichen Integrationsleistung.

Markus Götting, Jahrgang 1971, lebt in München. Nach Stationen bei der Süddeutschen Zeitung, dem SZ-Magazin und dem stern ist er seit 2014 Textchef beim Focus. Seine Bestseller 'Nachts im Sägewerk' und 'Alles Azzurro' sind beide bei Ullstein erschienen.
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Uno


Der Sonnenaufgang in der Ferne über dem Apennin. Der blühende Oleander, dessen Duft selbst auf der Autostrada Adriatica durch unser geöffnetes Seitenfenster hereingezogen war. Der Blick über den Lago di Varano hinweg auf das glitzernde Mittelmeer. Das war alles in Ordnung, ja sogar sehr schön. Ich ließ mir auch klaglos im Autogrill den Schreck meines Lebens einjagen, als hinter mir an der Kasse ein Plüschäffchen mit einem Mal blechern lachte.

Aber jetzt habe ich die Faxen dicke. Wenn ich schon in die Urlaubs-Hölle muss, dann will ich nicht noch stundenlang ihren bezaubernden Vorhof bewundern, sondern meinem Schicksal furchtlos ins Auge blicken. Und zwar subito.

Lena und ich waren am frühen Abend aufgebrochen, 1200 Kilometer immer Richtung Süden, bis hinunter an »den Sporn des Stiefels«, wie Lena das auf ihre spezielle Art beschrieben hatte. Das Einzige, was mich neben ein paar Dosen Red Bull die Nacht über wach hielt, war das bedrohliche Schnaufen meines betagten bordeauxroten Fiestas, dessen ehemals stolze Metallic-Lackierung im Laufe der Jahre zu einer stumpfen Außenhaut geworden war; so folienhaft matt wie man es von BMX-X6-Modellen kennt, deren Besitzer auch noch einen Haufen Kohle dafür bezahlen.

Ich hatte den Wagen vor zwei Wochen überhaupt erst nach einer ausgedehnten Suche wiedergefunden, nachdem ich ihn im Frühjahr als hoffnungslos defekt eingeschätzt, achtlos in unserem Viertel abgestellt und dann ein paar Monate lang vergessen hatte. So gesehen war es schon eine ziemlich smarte Idee, am frühen Abend aufzubrechen. Stehst du wenigstens nicht eine Ewigkeit im Megastau vor der Mautstelle. Und kannst dich mit deiner abgerockten 54-PS-Gurke im Schutz der Dunkelheit den Brenner hoch von LKWs überholen lassen, ohne das Gesicht zu verlieren.

Meine kleine subversive Hoffnung war ja, dass der Motor irgendwo hinter Bologna mit einem infernalischen Knall verrecken würde und wir dann doch notgedrungen in eines dieser coolen Boutique-Hotels bei Riccione einchecken könnten. Aber mein alter vierrädriger Gefährte ist verdammt zäh. Oder einfach nur Teil einer miesen Verschwörung, die mich auf diesen Trip geführt hat. Allmählich dämmert mir, dass ich dem Schicksal nicht entkommen werde: meinem allerersten Urlaub auf einem Campingplatz.

Als Kind habe ich Ferien bei bayerischen Bauern gemacht und auf dem Ponyhof. Wir sind mit dem Charter-Bomber in mallorquinische Betonburgen gereist, wo man sich schon beim Einchecken entscheiden musste, in welcher Schicht man zu Mittag- und Abendessen gehen wollte. Das alles habe ich geduldig über mich ergehen lassen. Nun also ein Urlaub im Wohnwagen. Das ist eine dermaßen spezielle Herausforderung – da will ich mir erst gar nicht vorstellen, ihr gewachsen zu sein.

Inzwischen geht es bergauf, bergab durch spitze Serpentinen, die dazu führen, dass mein Gesicht die Farbe der Kreidefelsen von Rügen annimmt. Im Prinzip hätte ich mir sogar Rügen eher gefallen lassen als das hier.

Seit einer halben Ewigkeit sind wir nicht mehr durch besiedeltes Gebiet gekommen, ganz zu schweigen von einem Dorf oder sonstigen Anzeichen von Zivilisation. Wir fahren durch ein kleines Wäldchen, noch eine Kurve, dann eine lange Gerade. Links unten die Adria, davor schwindelerregende Klippen. »Daaaa! Da vorne, da ist es!«, kreischt Lena in einer irren Mischung aus Euphorie und Hysterie.

Da vorne. Ein paar weiße Häuschen, die sich inmitten des bewaldeten Nichts auf einem ins Meer ragenden Felsen zu ducken scheinen. Andere Häuser sehen so aus, als würden sie wild durcheinandergewürfelt die Klippen hinunterwachsen. Unterhalb des Ortes glaube ich einen kleinen Hafen zu erkennen. Und einen Strand, auf dem verschiedenfarbige Sonnenschirme vermutlich die jeweilige Zone des Campingplatzes markieren. Immerhin: Nach dröhnendem Massentourismus sieht das nicht gerade aus.

Da ist es also. Sepiana.

Objektiv betrachtet ein Fischerdorf in der apulischen Region Gargano, wo sie früher im Winter wahrscheinlich noch am getrockneten Fisch nagten, so arm waren die hier. Mit »früher« meine ich: vor dem Hereinbrechen des Touristen-Tsunami. Für Lena ist es ihr absoluter Sehnsuchtsort. Ihr ganz persönliches Arkadien, über das sie seit ihrer Kindheit Regalwände voller Tagebücher engzeilig vollgeschrieben hat. Verziert mit allerlei Klebebildchen und niedlichen Zeichnungen.

Vermutlich ist dieses Kaff nicht viel mehr als ein von Pubertätserinnerungen befeuerter Mythos. Aber meine Meinung ist in unserer Beziehung nicht besonders oft gefragt. Und wenn Lena doch mal fragt, hört sie der Antwort schon nicht mehr zu.

Sie fummelt jetzt an ihrem iPhone rum, das sie ans Autoradio angeschlossen hat. Eine Posaunen-Fanfare ertönt, die Stimme von Adriano Celentano, der aber augenblicklich von Lena niedergesungen wird: »Cerco l’estate tutto l’anno / e all’improvviso eccola qua. / Lei è partita per le spiagge / e sono solo quassù in città, / sento fischiare sopra i tetti / un aeroplano che se ne va.« Sie holt kurz Luft, bevor sie erst richtig lostrompetet: »Azzurro, / il pomeriggio è troppo azzurro / e lungo per me. / Mi accorgo / di non avere più risorse, / senza di te, / e allora / io quasi quasi prendo il treno / e vengo, vengo da te, / ma il treno dei desideri / nei miei pensieri all’incontrario va.«

Dann knöpft sie wild schunkelnd ihre Bluse auf, reißt sie sich geschmeidig vom Leib, und im Takt von »Azzurro« lässt sie das Teil über ihrem Kopf kreisen wie Fußballfans nach einem Tor ihren Vereinsschal. Nach dem zweiten Refrain landet die Bluse als Stoffknüll auf der Rückbank.

Il treno dei desideri – wenn das mal keine klassische Papagallo-Poesie ist. »Der Zug der Begierden«, »Ich komme, komme zu dir«. Himmel! Ich meine, ich mag zwar ein notorischer Nörgler sein und alles, aber auch mir geht manchmal ein bisschen das Herz auf, wenn mir aus der Ferne die Antenne auf dem Kitzbüheler Horn einem Leuchtturm gleich den Weg weist. Und ich liebe Lenas Enthusiasmus, er ist absolut umwerfend – im Moment weiß ich nur noch nicht, ob eher auf mitreißende oder abstoßende Weise.

Lena wippt jetzt im radikalen Urlaubsmodus und weißen Feinripp auf dem Beifahrersitz, und ich muss sagen, dass so ein Unterhemd bei Frauen doch erheblich erotischer wirkt als bei Männern. Wenn mich meine Vorurteile nicht enttäuschen, werde ich in den kommenden drei Wochen noch hinreichend Gelegenheit haben, diese Annahme zu überprüfen.

Drei Wochen Urlaub an einem Ort habe ich seit der Schulzeit nicht mehr verbracht, aber vermutlich werde ich ohnehin mindestens eine Woche brauchen, um mich von dieser Anreisetortur zu erholen. Dabei musste ich nicht mal den Wohnwagen zum Campingplatz schleppen. Das, hat Lena jedenfalls versichert, erledigt irgendein apulischer Bauer aus der Umgebung, bei dem die Kiste immer untergestellt wird, wenn niemand sie braucht. Abgesehen davon, dass mein alter Fiesta mit einem Wohnwagen am Haken garantiert sogar von Traktoren überholt werden würde, macht mir allein die Vorstellung Angst, mit so einem Gespann das schmale Sträßchen zum Campingplatz runterzukurven.

Ein Schild mit der Aufschrift »Campeggio« weist nach links, ich biege ab und schalte die nervige Musik aus, kurbel das Fenster bis ultimo runter und genieße, soweit es die konzentrierte Kurverei zulässt, die vogelgezwitscherfreie Stille des Morgens. Keine zwanzig Kurven sind es von der Hauptstraße bis runter zum Wasser, rechts des Weges ein mächtiger Pinienwald und am Ende der Straße zwei Pfähle mit einem gewaltigen Holzbogen, auf dem wie Hohn »Il Grande Paradiso« steht. Der weißgetünchte Rumpf eines abgetakelten Fischerboots unterteilt die Einfahrt in zwei Spuren: für die Ankömmlinge – und jene, die wieder heimfahren. Dürfen oder müssen. Ich bin da noch nicht sicher.

Lena greift von rechts ins Lenkrad und drückt dreimal energisch auf die Hupe. Derweil ich erfolglos versuche, verschämt im Fußraum abzutauchen.

Aus dem Rezeptionskabuff nähert sich ein Mann von Anfang fünfzig in bequemen schwarzen Ledertretern und einer selbstbewusst den Zeitgeist ignorierenden Jeans. Er trägt ein kurzärmeliges Karo-Hemd über seinem gemütlichen Bäuchlein und schlendert mit albatrosartig ausgebreiteten Armen auf unser Auto zu.

»Lena, come stai?«, ruft er, gefolgt von einer Umarmung, die bei der biblischen Rückkehr des verlorenen Sohnes nicht sehr viel herzlicher ausgefallen sein kann. Dann kurzer, prüfender Blick nach rechts zu mir, woraufhin er Lena skeptisch ansieht. »Che cosa fai? Un altro esperimento?«

Du elender süditalienischer Bauerntölpel, denke ich, das mit dem Experiment habe ich verstanden. Also, rein sprachlich jedenfalls. Die Mitteilungsebene allerdings sollte sich mir erst ein paar Tage später erschließen.

Ein veritabler Sturzbach einheimischer Wörter ergießt sich über Lena. In meinem zweiten Lehrbuch habe ich mich tapfer bis lezzione undici vorgekämpft. Das reicht allerdings nicht ansatzweise, um den Bauern-Dialekt der Region Gargano zu verstehen. Für mich klingt der finstere Akzent Apuliens wie Finnisch. Giovanna, meine Lehrerin, ist eine kulturbegeisterte lombardische Edelfrau. Und die Menschen aus dem Süden nennt sie immer nur verächtlich terrone, was so viel heißt wie »Erdfresser«. Mein Problem ist, dass man hier in Apulien offenbar nicht nur Erde frisst, sondern dazu auch noch jede zweite Silbe eines Wortes verschluckt, quasi als Beilage. Ich verstehe...


Götting, Markus
Markus Götting, Jahrgang 1971, lebt in München. Nach Stationen bei der Süddeutschen Zeitung, dem SZ-Magazin und dem stern ist er seit 2014 Textchef beim Focus. Seine Bestseller "Nachts im Sägewerk" und "Alles Azzurro" sind beide bei Ullstein erschienen.

Markus Götting, Jahrgang 1971, lebt in München. Nach Stationen bei der Süddeutschen Zeitung und beim SZ-Magazin arbeitet er seit 2001 beim stern, inzwischen als Reporter für das Ausland-Ressort.
Sein Bestseller "Nachts im Sägewerk", eine selbstironische Beziehungskomödie über sein Schnarcherleiden, ist ebenfalls bei Ullstein erschienen.



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