E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Göttert Abschied von Mutter Sprache
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-10-402529-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Deutsch in Zeiten der Globalisierung
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-10-402529-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Karl-Heinz Göttert, geboren 1943, studierte Geschichte und Deutsch an der Universität zu Köln, promovierte und habilitierte sich dort und lehrte ebenfalls dort bis zu seiner Emeritierung als Professor für Ältere Deutsche Literatur. Im S.Fischer Verlag ist zuletzt ?Abschied von Mutter Sprache. Deutsch in Zeiten der Globalisierung? (2013) erschienen sowie ?Mythos Redemacht. Eine andere Geschichte der Rhetorik? (2015).
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Sprachen in Deutschland
Zahlen vom Statistischen Bundesamt
Man kann es auch so sagen: Die vielen Sprachen stören und sind doch unverzichtbar. Wie löst man das Dilemma?
Schauen wir uns dazu einige Fakten in unserer direkten Umgebung an. Gut, die Welt ist vielsprachig, in fernen Kontinenten vor allem. Schon in Europa sieht es besser aus, auch wenn man über die vielen Sprachen etwa im Balkan einmal hinwegsieht, die die Gesamtzahl in Europa nach Haarmann immerhin auf 143 hinauftreiben (anderswo rechnet man mit 70). Aber Europa ist auch noch insofern eine Ausnahme, als hier die meisten Sprachen miteinander eng verwandt sind. Während zum Beispiel die vielen Sprachen in Papua-Neuguinea völlig unterschiedlichen Sprachstämmen angehören, dominiert in Europa eine gemeinsame Wurzel, die als Indogermanisch oder Indoeuropäisch bezeichnet wird. Man nimmt an, dass Europa von Völkern besiedelt wurde, die aus dem alten Zweistromland (dem heutigen Irak) stammten und sowohl nach Norden (Europa) wie nach Süden (Indien) vordrangen. Die Verwandtschaft wurde im 19. Jahrhundert entdeckt und führte zu einer Blüte der Sprachwissenschaft. Auf einfachste Weise merkt man die Zusammenhänge an Wortgleichungen wie der Zahl »drei« mit englisch , französisch , italienisch usf. Es gibt heute den neuen Forschungszweig einer Eurolinguistik, der nicht mehr nach der gemeinsamen Herkunft der Sprachen fahndet, sondern ihre gemeinsame Entwicklung beobachtet: eine Art Herausbildung von Eurisch für Europa. Wir leben jedenfalls in Europa in einer sprachlich vergleichsweise homogenen Weltgegend.
Nur darf man sich nicht täuschen: Selbst in einem einzelnen europäischen Land wie Deutschland ist die Sprachenvielfalt groß, größer, als es sich die meisten wohl vorstellen. Dies hängt mit den modernen Migrationsverhältnissen zusammen, die Deutschland zu einem multikulturellen und eben auch multilingualen Land gemacht haben wie andere große Industriestaaten auch. Das Statistische Bundesamt bzw. der Ausländerbeauftragte der Bundesregierung legt regelmäßig Zahlen vor, die die schwer zu handhabende Charakterisierung von »Menschen mit Migrationshintergrund« differenzieren. Nach dem Stand vom Dezember 2011 sind es 15,3 Millionen, ohne Berücksichtigung derjenigen in zweiter oder dritter Generation. 6,7 Millionen davon sind »Ausländer« (Personen ohne deutschen Pass), die Deutsch sprechen oder lernen, auf jeden Fall aber auch ihre eigene Sprache mitbringen. 31 Prozent stammen aus EU-Ländern: 520159 Italiener, 468481 Polen, 283684 Griechen, 223014 Kroaten, um nur die größten Gruppen zu nennen. Dabei sind die Herkunftsländer oft mit mehr als nur einer Sprache vertreten. Bei den Italienern gibt es Albanischsprecher und Sizilianer mit jeweils ausgeprägten Dialekten. Bei den Spaniern haben die Katalanen den Rang einer eigenen Amtssprache bei der EU durchgesetzt. Natürlich bringen auch Personengruppen aus dem EU-Raum, die ganz jenseits einer »Gastarbeiter«-Tradition stehen, ihre Sprachen mit: Franzosen, Engländer, Belgier, Niederländer (zum Beispiel im Rahmen militärischer Verbände).
Von den »Gastarbeitern« (Personen mit deutschem Pass also nicht mitgerechnet) stammen die meisten nicht aus der EU. Die größte Gruppe wird mit gut 1,6 Millionen von den Türken gebildet. Mit 63037 Marokkanern und 23610 Tunesiern kommen »kleinere« Gruppen hinzu. In allen diesen Fällen aber sind die sprachlichen Verhältnisse äußerst kompliziert. Unter den Sprechern mit türkischem Pass befinden sich zum Beispiel Azeri, Kurden und Personen mit iranischen Sprachen wie die Zaza. Die Kurden mit ihrer indogermanischen Sprache (die also keinerlei Verwandtschaft zum Türkischen aufweist) machen allein ca. 500000 Personen der türkischen Bevölkerung in Deutschland aus. Weiter sind unter den Türken Aramäer mit einer semitischen oder Lazen und Tscherkessen mit einer kaukasischen Sprache vertreten, schließlich noch Armenier. Unter Inhabern eines marokkanischen Passes verbergen sich Berber, die traditionell zweisprachig sind, neben der (nur von etwa 50 Prozent beherrschten) hocharabischen Schriftsprache ein marokkanisches Arabisch sowie Französisch sprechen. Zu diesem Personenkreis kommen Bürgerkriegsflüchtlinge: Albaner (meist aus dem Kosovo, also dem ehemaligen Jugoslawien), Bulgaren, Makedonier, Rumänen, Slowaken, Slowenen, Tschechen, Ungarn – überwiegend mit einigen Zehntausend Personen (die Rumänen mit 159222).
Aus unterschiedlichen Gründen sind zahlreiche weitere Gruppen mit teilweise wenigen tausend Mitgliedern vertreten, die nur kurz aufgezählt seien: aus Nordeuropa Esten, Finnen, Letten, Litauer; aus dem Nahen Osten Libanesen, Ägypter, Iraker, Jordanier, Palästinenser; aus Afrika Algerier, Äthiopier, Eritreer, Somalier, Bewohner des Tschad; aus dem Kaukasus Georgier und Armenier. Indogermanische Sprachen außerhalb Europas sprechen Iraner, Afghanen, Pakistaner, Chilenen, Kolumbianer, Bolivianer, Brasilianer. Aus China werden Mandarin sowie Kantonesisch genannt. Von den Philippinen und Indien bringen Sprecher die außerordentliche Sprachenvielfalt ihrer Herkunftsländer mit. Weiter sind zu nennen: Japaner, Koreaner, Tamilen, Thailänder, Vietnamesen (diese allein mit 83830 Vertretern). Aus zahlreichen afrikanischen Ländern stammen englisch-, französisch- oder portugiesischsprachige Personen sowie Vertreter mit Afrikaans. Schließlich werden Israelis, Kanadier, Norweger, Schweizer und US-Amerikaner aufgeführt.
Als letzte Gruppe gibt es die »Volksdeutschen«, die in den Statistiken nicht als Fremdsprachler geführt werden, obwohl sie vielfach (vor allem in der zweiten Generation) das Deutsche nicht oder nicht ausreichend beherrschen: insgesamt vier Millionen vor allem aus Russland und Polen. Auch hier vergrößert sich die Sprachenvielfalt, wenn man ins Detail geht und Weißrussisch, Ukrainisch sowie Vertreter einiger Turksprachen mit einbezieht. Insgesamt sind in Deutschland Menschen aus etwa 140 Staaten registriert, wobei die Zahl der gesprochenen Sprachen aus den genannten Gründen noch höher liegt. Deutschland ist also eines der großen Einwanderungsländer der Welt und hat sich im Zuwanderungsgesetz von 2004/05 zu einer »nachholenden Integration« verpflichtet. Die Frage stellt sich natürlich: Welche Folgen hat eine solche Sprachenvielfalt für das Einwanderungsland? Wo liegen die Probleme und wie kann man damit möglichst sinnvoll umgehen?
Loyalitätsprobleme und Hybridkulturen
Um das Wichtigste vorwegzunehmen: Auch wenn die Gleichung »ein Land, eine Sprache« weder in Deutschland noch in vergleichbaren Ländern nie stimmte – man denke nur an die Dänischsprecher in Schleswig-Holstein oder die Sorben in Sachsen –, hat es wohl auch noch nie eine derartige Durchmischung mit Sprachen aus (fast) aller Welt in einem Land gegeben. Nur: Diese Sprachenvielfalt ist Ergebnis und Ausdruck der gesellschaftlichen Entwicklung moderner Industrieländer mit entsprechender Anziehungskraft und Arbeitskräftebedarf. Dabei treten nun ganz verschiedene Probleme auf. Die Sprachloyalität zur Herkunftssprache und die Lernbereitschaft für die Gastgebersprache können zum Beispiel höchst unterschiedlich ausfallen. Man hat bei türkischen Frauen beobachtet, dass nach einer ersten Phase des Spracherwerbs der weitere Ausbau ins Stocken gerät oder gar rückläufig ist, wenn zu Hause weitgehend Türkisch gesprochen und in der näheren Umwelt eine stark reduzierte Sprachfähigkeit akzeptiert wenn nicht geradezu erwartet wird (polemisch: »Tarzan-Deutsch«). Auch bei der Generationenfolge verläuft der Erwerb der deutschen Sprache wiederum bei Türken oft nicht erwartungsgemäß. Während die zweite Generation als »Lerngeneration« gilt, können bei der dritten angesichts mangelhafter gesellschaftlicher Integration auch die Sprachbiographien zwiespältig ausfallen – mit teilweiser Rückkehr zum Türkischen.
Es gibt also einen gravierenden Unterschied zu traditionellen Migrationsverhältnissen, die in der Regel mit einem Bruch gegenüber der Herkunftsgesellschaft verbunden waren. So kennt man es etwa von den (nach der letzten polnischen Teilung aus der preußischen Provinz Posen stammenden und deshalb mit deutschem Pass versehenen) »Ruhrpolen«, die im 19. Jahrhundert angeworben wurden und sich so stark integrierten, dass heute kaum mehr als die Namen überlebten. Die moderne Migration lässt sich eher unter dem Begriff der »Transnationalität« fassen: einer Überbrückung des Nationalen, die das frühere Entweder-Oder ablöst. Dabei tauchen Probleme nicht nur für das Einwanderungs-, sondern auch für das Herkunftsland auf. Wiederum das Türkische ist ein Beispiel für das »Diaspora«-Phänomen: die allmähliche Trennung von der Sprachentwicklung im Herkunftsland mit der Folge eines »Auslands«-Türkisch, das im Nahbereich der Familie überlebt bzw. in der Form der Sprachmischung aufrechterhalten wird. Man sieht an diesem Punkt einmal mehr, dass sich das traditionelle Konzept von Vaterland und Muttersprache unter Migrationsbedingungen auflöst bzw. tiefgreifend verwandelt. Man kann von Hybridkulturen, entsprechend von verschiedenen...




