Buch, Deutsch, Band Band 078, 302 Seiten, Format (B × H): 159 mm x 236 mm, Gewicht: 532 g
Reihe: Literatur und Leben
Studien zu einer epochalen Denk- und Darstellungsform
Buch, Deutsch, Band Band 078, 302 Seiten, Format (B × H): 159 mm x 236 mm, Gewicht: 532 g
Reihe: Literatur und Leben
ISBN: 978-3-205-78528-6
Verlag: Böhlau
Autoren/Hrsg.
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Einführendes Brouillon
Erster Teil: Präludierende Etüden
I Schattenrisse und andere Ansichten vom Ich
Identität als pluralektisch-ästhetisches Phänomen
II Politisches Bilden in der frühen Romantik oder:
Auf dem Wege zu einer pluralektischen Kulturpoetik
III „Schwer verläßt, / Was nahe dem Ursprung wohnet, den Ort“
Zur Mythopoetik des Anfangs bei Hölderlin und Novalis
IV Pluralektik – Kulturalektik am Beispiel von Friedrich Schlegels
Versuch über Georg Forster
Zweiter Teil: Romantische Pluralektik (Die Mainzer Vorlesungen)
V Pluralektik und enzyklopädische Poetik: Denkstrukturen
bei Novalis und einige Folgen
VI Kritik als Pluralektik und der Sinn der ‚negative capability‘
VII Pluralektische Klangformen (am Beispiel Schuberts) und romantische Fensterblicke.
VIII Retrospektive Prophetien: pluralistische Zeitkonzeptionen in der Romantik
IX Zu einer romantischen Ästhetik des Unbewussten
Dritter Teil: Spätromantische Coda
X Poetische Klangkreise. Über Schumann und sein Deuten Eichendorffs
XI Religion im Exil. Zu Heines Götterlehre
XII Lenaus poetische Grenzerfahrung
XIII Stifters romantisches Realismuskonzept
XIV „Das Farbenwesen im Regentropfen“ Gottfried Kellers plurale Ontologie des Anscheins in Kleider machen Leute
XV Nachspiel mit Nietzsche: Zur Romantik-Kritik eines spätromantischen Unzeitgemäßen
Plurale Schlussworte
Nachweise
Literaturverzeichnis
Personenregister
VII Pluralektische Klangformen und romantische Fensterblicke
Zum romantischen Anspruch eines, mit Novalis gesprochen, „Pluralism und Omnilism“ gehört auch das Einbegreifen der Musik in die Reflexion.142 Das Denken vertonen und die Musik denken – diese Forderung wurde zum Bestandteil des frühromantischen Kunst-Projekts und lässt sich bis in die Spätromantik Schumanns und Hugo Wolfs, selbst noch bis in die Romantik-kritische Brechung dieses Projekts bei Nietzsche verfolgen. Der alles einbegreifende „Omnilism“ oder „Pluralism“ des Novalis erkannte in den musikalischen Strukturen ein flexibles Beziehungssystem, das man philosophisch zu nutzen wusste. Die musikalische Grammatik mit ihrer klanglichen Syntax und den Tonarten als ihren Konjugations- und Deklinationsformen richtete sich – etwa in Schellings Kunstphilosophie – an der Bedeutung der rhythmischen Gefüge aus. Aus den rhythmischen Einheiten, wie Schelling nahe legt, generiere die Musik ihren Gesamtrhythmus, den Rhythmus des Einen im Vielerlei.143 Die inhaltliche Gewichtung des Rhythmus als „Musik in der Musik“ (Schelling) trug dann mit dazu bei, den Klang vom Wort zu emanzipieren und in Richtung „absoluter Musik“ vorzudringen.144 Hegel wiederum beschrieb das „Verhältnis des Inhalts und der Form im Romantischen“ wie überhaupt den „Grundton des Romantischen“ als musikalisch.145 Trotz der offenkundigen Tendenz romantischer Musik zum Abstrahieren von der Vokalmusik und zu einer Symphonik, die sich mit E.T.A. Hoffmann als eine „Oper der Instrumente“ verstand146, zeigte sich „das Romantische“ immer wieder gerade in der intensivierten Symbiose von Wort und Ton, nämlich in seiner wesentlichsten Klangform: im Lied.
Die Musik, so wiederum Schelling, sei ein „reales Selbsterzählen der Seele“, wobei er betont, dass „die Formen der Musik die Formen der ewigen Dinge seien“, und zwar von ihrer „realen Seite“, also ihrer sinnlich-geistigen Realität aus betrachtet.147 Schelling ging sogar soweit, den Gehörsinn mit dem Selbstbewusstsein in Verbindung zu bringen, und zwar vermittelt durch unseren Zeitsinn, weil dieser rhythmisch und reflektierend konditioniert sei.148 So wie die Musik sich als eine durch den Rhythmus begründete Struktur dazu eignet, Verschiedenheiten, Vielheiten in sich aufzunehmen, was sich in der Symphonie oder der symphonischen Dichtung idealtypisch zeigt, können auch die Sinne ein Zusammenstimmen verschiedenster Eindrücke koordinieren. Entsprechend bezieht die ästhetische Theorie der Romantik wahrnehmungspsychologische Phänomene in ihre Reflexionen mit ein. Folgerichtig fordert Novalis eine „Theorie der Berührung“ und des Übergangs als Teil einer Lehre von der Transsubstantiation, die beides einbegreifen soll: den Übergang vom Sinnlichen ins Geistige und umgekehrt. Die Sinne als Instrumente der Weltwahrnehmung gehören im romantischen Verständnis auch zum Inventar des Reflektierens. Was das Auge in den Blick nimmt, ans Ohr dringt, gerochen oder ertastet wird, prüft der kunstsinnige Romantiker auf seinen geistig-ästhetischen Wert und gewinnt daraus Anhaltspunkte für seine formenden Transformationen, zu denen auch die Abstraktion von eben diesen sinnlichen Eindrücken gehören können.
Musik und Bewusstsein
Musik als „Verklärung der sinnlichen Natur“ steht für eine Spielart romantischer Kunstauffassung, wie sie etwa Bettine von Arnim vertreten hat.149 Die andere ‚nicht-verklärte‘ insistierte auf der sinnlichen Qualität der Musik und führt sich auf Wilhelm Heinse und dessen Roman Hildegard von Hohenthal zurück (1795/96). „Unser Gefühl ist selbst nichts anderes“, schreibt Heinse, „als eine innre Musik, immerwährende Schwingung der Lebensneven.“15 0 Musik als Entäußerung einer Art emotionalen Physiologie – mit dieser These versuchte Heinse am Übergang von musikanalytischer zu musikpoetischer Betrachtung ein Zeichen für die Interpretation einer Kunst zu setzen, die noch in der Spätromantik als „Tat des Herzens“ verstanden wurde.
Ist nun aber Musik das ‚reine‘ Unbewusste oder Ergebnis schöpferischen Kalküls ? Aufschlussreiche Überlegungen zu dieser Frage finden sich in Johann Wilhelm Ritters Reflexionen Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers, die Analyse und gefühlsbetonte Deutung interagieren lassen, wie dieser Auszug belegt:
Wie das Licht so ist auch der Ton Bewußtseyn. Jeder Ton ist ein Leben des tönenden Körpers und in ihm, was so lange anhält, als der Ton, mit ihm aber erlischt. Ein ganzer Organismus von Oscillation und Figur, Gestalt ist jeder Ton, wie jedes Organisch-Lebendige auch. Er spricht sein Daseyn aus. […]
Töne sind Wesen, die einander verstehen, so wie wir den Ton. Jeder Accord schon mag ein Tonverständniß unter einander seyn, und als bereits gebildete Einheit zu uns kommen. Accord wird Bild von Geistergemeinschaft, Liebe, Freundschaft, u.s.w. Harmonie Bild und Ideal der Gesellschaft. […] Alles Leben ist Musik, und alle Musik als Leben selbst – zum wenigsten sein Bild.151
Ritter entwirft hier eine organische Musikauffassung, die vom Bewusstsein ausgeht, aber auch von der These, dass es kein menschliches Verhältnis geben könne, das sich nicht auch musikalisch, d.h. in musikalischen Verhältnissen, ausdrücken ließe. Musik als Bild und Ausdruck des Harmonischen sieht sich zum gesellschaftlichen Modell erklärt und hält implizit alles (im kompositorischen Sinne unaufgelöst) Disharmonische für verworfen, weil es eine am Prinzip Konsens orientierte Gesellschaft unterminieren müsste.
Gleichzeitig empfiehlt Ritter die Musik als Modell der Kommunikation. Denn im musikalischen Werk sei alles auf alles bezogen, jedes Teil auf das andere; denn die Töne werden zu verständigen „Wesen“ erklärt, die gerade deswegen in Bezug zueinander treten können, weil sie sich ihrer selbst und der anderen Töne bewusst seien.
Noch umfassender setzten Friedrich Schleiermachers Überlegungen zur Musik an, die er in seinen Vorlesungen über die Ästhetik entwickelte (366–429). Vom Standpunkt des Pluralektischen, also des wechselseitigen In-Beziehung-Setzens des sinnlichen wie gedanklichen Materials in der Kunst und im philosophischen Diskurs, bietet Schleiermachers Musik-Kapitel in seiner Ästhetik reiches Anschauungsmaterial. Töne und Gebärden versteht er als Ausdruck „bewegten Selbstbewußtseins“ (367), wobei ihn zunächst die Abstufungen im Übergang von Gesprochenem zu Gesungenem interessieren. Hierbei ist ihm um Definitionsgenauigkeit zu tun, etwa der Art: „[…] das sich dem Gesang annähernde Sprechen“ sei noch keine Musik, „sondern nur Übergang dazu“ (369), oder: „Das physische Element der Musik beruht also auf dem gemessenen Tone, und indem wir so den gesungenen Ton von dem gesprochenen unterscheiden, so liegt in jedem musikalischen Kustwerke nichts anderes, als ein Zugleichsein und eine Succession von solchen gemessenen Tönen“ (370). Diese musikalische Einheit von Gleichzeitigkeit und Nachzeitigkeit gilt Schleiermacher als Grund dafür, dass die Musik besonders geeignet sei, Gefühls- und Geisteswelt umfassend auszudrücken. Indem er jedoch darauf beharrte, dass die Musik den Zustand sinnlichen (also nicht ‚höchsten‘) Bewusstseins artikuliert, entfernte er sich vom Bild des ‚genial‘ aus sich heraus schaffenden Komponisten; überhaupt fällt auf, dass Schleiermacher nicht vom Komponisten redet, sondern von der Musik als handelnder Kunst. Nachfolgend sei jedoch das Phänomen des Romantischen in der Musik aus kompositorischer Sicht am Beispiel Schuberts erörtert; und das auch deswegen, weil man vermeint das, was das Romantische sei, geradezu prototypisch im Resonanzbereich von Schuberts Musik bestimmen, ja, greifen zu können.
Schubert und die Idee musikalischer Landschaft
Romantischer nie, so möchte man sagen, als in Schuberts Adagi, seinen Liedern, im sogenannten „Notturno“. Sobald man sich jedoch dem Musikalisch-Romantischen definitorisch nahe glaubt, entzieht es sich einem unweigerlich. Um es analoghaft zu sagen: Das Romantische gleicht, nicht nur in der Musik, einer Wanderschaft auf dem Wege zu Rätseln, wobei diese Wanderschaft ihrerseits selbst rätselhaft wird. Daher wohl auch das paradoxe Phänomen, dass sich – etwa im romantischen Liedschaffen – das Motiv des Wanderns zumeist als Zyklus vorgestellt sieht. Es suggeriert ein eben nur scheinbar raumgreifendes Wandern; denn es verbleibt letztlich auf einer Kreislinie, deren Mittelpunkt das durch den oft zu hoch gespannten Anspruch gefährdete, mithin von Selbstzersetzung bedrohte Ich ist.
Will man die einem beständig sich entziehende Essenz des Romantischen zu erfassen versuchen, dann verlangt dies, bei paradoxalen Beschreibungsformen Anhaltspunkte zu finden, im Widersprüchlichen, in unscharfen Relationen, etwa jenen zwischen Reflexion und Gefühlsausdruck, zwischen kohärenter künstlerischer Aussage und ihrem Aufbrechen ins Fragmentarische. Man kann allzu versucht sein, diese Gegensätze rein dialektisch aufeinander zu beziehen. Mit Blick auf Schubert hatte der junge Adorno diesen Versuch unternommen, wobei er aber zu dem für ihn erstaunlichen Eingeständnis kam, dass gerade die Dialektik die insgesamt unzureichendste Beschreibungsform für Schuberts Kunst sei. Sein