E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Goddard Der Preis des Verrats
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96655-016-1
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-96655-016-1
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Robert William Goddard, geboren 1954 in Fareham, ist ein vielfach preisgekrönter britischer Schriftsteller. Nach einem Geschichtsstudium in Cambridge begann Goddard zunächst als Journalist zu arbeiten, bevor er sich ausschließlich dem Schreiben von Spannungsromanen widmete. Robert Goddard wurde 2019 für sein Lebenswerk mit dem renommierten Preis der Crime Writer's Association geehrt. Er lebt mit seiner Frau in Cornwall. Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks auch die folgenden Kriminalromane: »Im Netz der Lügen« »Der Preis des Verrats« »Eine tödliche Sünde« »Ein dunkler Schatten« »Denn ewig währt die Schuld« »Das Geheimnis von Trennor Manor« »Das Geheimnis der Lady Paxton« »Das Haus der dunklen Erinnerung« »Das Geheimnis von Malborough Downs« »Dunkles Blut - Harry Barnett ermittelt: Der erste Fall« »Dunkle Sonne - Harry Barnett ermittelt: Der zweite Fall« »Dunkle Erinnerung - Harry Barnett ermittelt: Der dritte Fall« Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks weiterhin die historischen Kriminalromane: »Die Sünden unserer Väter« »Die Schatten der Toten« »Jäger und Gejagte« »Die Klage der Toten« »Der Kartograf von London«
Weitere Infos & Material
Kapitel 1
Dieser Tag begann wie jeder andere: spät und langsam.
Die Vorhänge zog ich nur ein Stück zurück. Es sah nach zu viel Sonne aus, als dass ich mich ihr vor dem Duschen und einer großen Kanne starken Kaffees hätte stellen können. Sie hatte kein Recht, Ende Oktober so hell zu strahlen! Außerdem wären bei trüberem Wetter die auf dem Fußabstreifer liegenden Rechnungen nicht so aufgefallen. Ebenso wie die Schatten unter meinen Augen, die ich beim Rasieren unwillkürlich begutachtete.
Nur wenige Wochen vor meinem siebenunddreißigsten Geburtstag sah ich gar nicht mal so schlecht aus – für einen Fünfundvierzigjährigen. Es war wirklich höchste Zeit, dass ich mich in den Griff bekam, oder jemanden fand, der das für mich übernahm. Beides schien nicht allzu wahrscheinlich. Wenn schon der Wechsel ins neue Jahrtausend bei mir keine Wende zum Besseren hatte herbeizaubern können, was dann?
Das Problem mit mir ist seit jeher, dass es nicht viel braucht, damit ich mich besser fühle. Ein Specksandwich und ein sauberes T-Shirt genügten, um mich an diesem Morgen in eine halbwegs gute Stimmung zu versetzen. Ich verließ die Wohnung und ging um die Ecke in die Magdalene Street, um mir eine Zeitung zu kaufen. Das Abbey-Parkhaus war bereits voll belegt. Schon Herbstferien? Jedenfalls trieben sich jede Menge Kinder herum. Ein Junge schaffte es, genau in dem Moment, in dem er auf seinen Rollerblades an mir vorbeisauste, einem Kumpel etwas derart gellend zuzurufen, dass ich vor Schreck zusammenfuhr, was ihn ungemein amüsierte.
Ein Segen immerhin, dass die Gaststube des Wheatsheaf wenige Minuten vor Mittag eine kinderfreie Zone war. Und dunkel obendrein! Ich ließ mich auf meinen Stammplatz unter der Fotocollage von der letzten Verkleidungsnacht im Pub sinken, nippte an einem heilsamen Carlsberg Special und widmete mich dem Kreuzworträtsel als Aufwärmübung für meinen Versuch, aus den Nachmittagsrennen in Chepstow und Redcar einen Sieger auszuwählen.
Les, der Wirt, versuchte behutsam, mit ein bisschen Herumpolieren an den Zapfhähnen und der Überprüfung der Optik des Tresens richtig wach zu werden. Die einzigen anderen Gäste außer mir waren zwei ältere Stammkunden namens Red und Syd, die mit Gesprächen nicht viel am Hut hatten. Die Kneipe war ruhig, wohltuend und sicher. Alles war vollkommen normal und bestimmt nicht irgendwie bemerkenswert.
Und doch erinnere ich mich daran bis in jedes Detail. Denn es sollte das letzte Mal sein, dass mein Leben ruhig, angenehm und sicher war. Im nächsten Augenblick sollte die Kneipentür aufgehen und alle Normalität durch das Fenster entweichen.
Das wusste ich natürlich nicht. Ich ahnte nichts davon. Es geschah einfach, und nach Verhängnis, Schicksal oder irgendetwas Bedeutsamem sah es nicht aus. Doch das war es. O ja, das war es ganz gewiss.
Ich erkannte sie nicht auf den ersten Blick. Winifred Alder musste inzwischen auf die sechzig zugehen und hatte sich für ihr Alter auch nicht besser gehalten als ich mich für meines. Sie war hager und hohlwangig, ihr stahlgraues Haar kurz und ausgefranst, als hätte sie es selbst mit einer Schere geschnitten, die einen Schliff nötig gehabt hätte. Von Make-up fehlte jede Spur. Die roten Flecken auf der Haut, die sich über vorstehende Wangenknochen spannte, stammten von Wind und Wetter, nicht von Rouge. Abgesehen davon hätte Make-up kaum zu ihrer Kleidung gepasst – grober grauer Pullover, schienbeinlanger brauner Rock und schlammbespritzter Regenmantel. Es waren eigentlich die Schuhe, an denen ich sie erkannte. Clarks zweiter Wahl, keine gängige Farbe (ursprüngliches Lila, das zu einem trüben Mauve verblasst war), etwa zwanzig Jahre alt. Sie waren es, die meinem Gedächtnis auf die Sprünge halfen. Das musste Winifred sein. Oder ihre Schwester. Mildred glich Winifred wie ein Ei dem anderen. Sie war etwa zwei Jahre jünger, was freilich in ihrem Alter kaum einen sichtbaren Unterschied ausmachte. Aber während ich noch zwischen den zwei Möglichkeiten schwankte, nahm mir Winifreds unverwandter strenger Blick die Entscheidung ab. Mildred hatte anderen nie wirklich in die Augen schauen können.
»Haste ’nen Schauer abgekriegt, Süße?«, fragte Les und grinste sie über die im Sonnenlicht glänzenden Zapfhähne hinweg an.
»Hast du mich gesucht, Win?«, schaltete ich mich ein. (Eine andere Erklärung für ihr Kommen sah ich nicht. Dass sie auf ein Glas Portwein mit Zitrone hereingeschneit war, hielt ich für unwahrscheinlich.)
»Die Kellnerin in dem Café, über dem du wohnst, hat gemeint, ich würde dich hier finden.« Winifred trat vorsichtig zwei Schritte näher.
»Ein Zufallstreffer.«
»Aber durchaus eine sichere Bank«, brummte Les.
»Möchtest du was trinken?«, fragte ich.
»Was ich möchte, ist mit dir reden.«
»Reden ist hier erlaubt«, ließ sich Les vernehmen. »Aber eine Tanzlizenz habe ich nicht. Das solltet ihr wissen.«
»Unter vier Augen.«
»Keine Sorge«, sagte Les. »Ich bin für meine Verschwiegenheit bekannt. Und Reg und Syd haben ihre Hörgeräte abgestellt.«
Wins Blick wurde um keinen Deut weicher. Ja, er war noch viel beredter als ihre Worte.
»Wir könnten in den Garten gehen«, schlug ich vor. »Wenn er geöffnet ist.«
»Er ist schon geöffnet«, antwortete Les. »Soll ich euch die Drinks rausbringen?«
»Was für Drinks?«
»Na ja, du wirst bald Nachschub brauchen. Und für die Dame …?«
Win musterte ihn, dann wanderte ihr Blick über die Flaschen auf dem Tresen. Modische Sachen wie Nitrokegs und Alcopops waren ihr eindeutig ein Rätsel. »Einen kleinen Cider«, verkündete sie schließlich. »Nicht sprudelnd.«
Der Garten war insofern geöffnet, als die Tür, die ins Freie führte, nicht verschlossen war. Im Grunde war er nichts als ein vollgestellter Hinterhof mit Platz für zwei verrostete Tische, den in der Mitte eine Wäscheleine teilte, die von dem Gewicht eines halben Dutzend, zum Trocknen aufgehängter Deckchen durchhing.
»Könnte schlimmer sein«, kommentierte ich. »Wenigstens hat Les nicht ausgerechnet heute seine Unterhosen gewaschen.«
Win sah mich an, als spräche ich eine fremde Sprache, und machte keinerlei Anstalten, sich zu setzen. »Hast du was von Rupert gehört?«, fragte sie mich unvermittelt.
»Rupe? Nein, ich.« Rupert war ihr jüngster Bruder, ein Nachzügler – mehr als zwanzig Jahre lagen zwischen ihnen. Er war sogar ein paar Monate jünger als ich. In der Schule, an der Universität und während der Zeit, als wir beide in London gearbeitet hatten, waren wir Freunde gewesen. Aber in den letzten Jahren hatte ich ihn kaum noch gesehen. Unterschiedliche Karrieren sollten gute Freunde nicht trennen, und in manchen Fällen kommt es vielleicht wirklich nicht dazu. Bei uns war das aber der Fall. Während er immer weiter aufstieg, war es mit mir in die entgegengesetzte Richtung gegangen. Und wie zum Beweis dafür stand ich nun zwischen Leergut in Les’ sogenanntem Biergarten, wohingegen Rupe… Hm, na ja, was war mit Rupe? »Ich hab schon lang nichts mehr von ihm gehört, Win.«
»Wie lange?«
»Könnten … zwei Jahre sein. Du weißt ja, wie …«
»Die Zeit vergeht im Flug, wenn man Spaß hat.« Les’ Letzte-Bestellungen-bevor-wir-schließen-Bariton dröhnte über den Hof und hallte von den Mauern wider.
»Danke, Les.«
»Soll ich diese Decken da abnehmen?«
»Nein.«
»Macht mir aber wirklich keine Mühe.«
»Nein!«
»Von mir aus. Wie es euch gefällt.« Er stolzierte theatralisch davon.
Ich setzte mich und schob einen Stuhl zu Win hinüber. Langsam ließ sie sich darauf nieder, oder zumindest auf der Kante, auf der sie unbequem sitzen blieb. Zwischen die Knie hatte sie ein Einkaufsnetz geklemmt, das ich bis dahin nicht bemerkt hatte. »Ich hatte gehofft, du wüsstest vielleicht was von ihm«, begann sie zögernd.
»Du etwa nicht?«
»Nein. Nicht mal indirekt.«
Was sie mit »indirekt« meinte, war mir nicht klar. Rupes Familie führte ein zurückgezogenes Leben und blieb stets für sich. Seine Mutter hatte noch gelebt, als ich sie kennengelernt hatte, sein Vater war schon lange tot. Penfrith, ihr baufälliges Zuhause in der Hopper Lane, am Fuß des Ivy-thorn Hill, am Rand des Ortes Street war einmal eine Farm gewesen, ehe sie der Tod des alten Alder zum Verkauf ihres Viehbestands – also ihrer Kühe – und der meisten Felder gezwungen hatte. Irgendwie sah es immer noch nach einer Farm aus; oder zumindest war es mir bei meinem letzten Besuch so vorgekommen. Rupe hatte sich damals schon längst aus dem Staub gemacht. Soweit ich das beurteilen konnte, war er zum letzten Mal 1995 bei der Beerdigung seiner Mutter in Street gewesen. Seitdem lebten Winifred, Mildred und ihr anderer Bruder, der arme alte, minder bemittelte Howard, allein auf Penfrith, ohne Arbeit und Bindungen zu irgendjemandem außerhalb der Familie, und hatten nicht einmal die Möglichkeit, mittels eines Telefons Kontakt zur Welt aufzunehmen. Die Wahrheit war, ich hatte keine Ahnung, wie Rupe mit ihnen in Verbindung blieb, doch das war allem Anschein nach der Fall. Es mussten wohl Briefe sein, aus London oder sonst woher, wohin ihn seine Karriere gerade verschlagen hatte.
»Das hätten wir aber eigentlich müssen, verstehst du. Wir hätten von ihm hören müssen.«
»Wie lange ist es her, dass … er sich zuletzt gemeldet hat?«
»Mehr als zwei Monate.«
»Habt ihr ihm geschrieben?«
»O ja, wir haben geschrieben. Allerdings ohne eine Antwort zu kriegen.«
»Telefon?« (Schließlich gab es so etwas wie Telefonzellen.)
»Dasselbe. Nichts. Außer Sein … du weißt schon, wie das...