E-Book, Deutsch, 410 Seiten
Goddard Denn ewig währt die Schuld
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96655-097-0
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 410 Seiten
ISBN: 978-3-96655-097-0
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Robert William Goddard, geboren 1954 in Fareham, ist ein vielfach preisgekrönter britischer Schriftsteller. Nach einem Geschichtsstudium in Cambridge begann Goddard zunächst als Journalist zu arbeiten, bevor er sich ausschließlich dem Schreiben von Spannungsromanen widmete. Robert Goddard wurde 2019 für sein Lebenswerk mit dem renommierten Preis der Crime Writer's Association geehrt. Er lebt mit seiner Frau in Cornwall. Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks auch die folgenden Kriminalromane: »Im Netz der Lügen« »Der Preis des Verrats« »Eine tödliche Sünde« »Ein dunkler Schatten« »Denn ewig währt die Schuld« »Das Geheimnis von Trennor Manor« »Das Geheimnis der Lady Paxton« »Das Haus der dunklen Erinnerung« »Das Geheimnis von Malborough Downs« »Dunkles Blut - Harry Barnett ermittelt: Der erste Fall« »Dunkle Sonne - Harry Barnett ermittelt: Der zweite Fall« »Dunkle Erinnerung - Harry Barnett ermittelt: Der dritte Fall« Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks weiterhin die historischen Kriminalromane: »Die Sünden unserer Väter« »Die Schatten der Toten« »Jäger und Gejagte« »Die Klage der Toten« »Der Kartograf von London«
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SONNTAG
Was ich empfand, als ich heute Nachmittag aus dem Zug stieg, traf mich völlig unvorbereitet. Dabei war schon die Fahrt so entsetzlich öde gewesen, wie es an einem Dezembersonntag wohl nicht zu vermeiden ist.
Von den anderen haben es fast alle vorgezogen, über London anzureisen, und werden erst morgen hier eintreffen. Ich hätte mich ihnen anschließen können, entschied mich aber stattdessen für den Regionalzug der South-Central-Gesellschaft die Küste entlang. So bekam ich reichlich Gelegenheit, mein Innenleben zu analysieren, während eine endlose Reihe von tristen Hintergärten an dem verschmierten Fenster vorbeizog. Natürlich war mir längst klar, warum ich London mied. Ich wusste genau, warum grelle Lichter und lärmende Gesellschaft nicht zu den Dingen gehörten, die der Arzt mir verschrieben hat. Die Wahrheit ist, dass ich es vielleicht gar nicht nach Brighton geschafft hätte, wenn ich in die große Stadt geflohen wäre. Womöglich hätte ich mich sogar eine Woche vor Schluss aus dieser von Tag zu Tag hoffnungsloseren Tournee ausgeklinkt und es Gauntlett überlassen, mich zu verklagen, sofern er sich dazu hätte aufraffen können. Aus diesem Grund habe ich das einzige Verkehrsmittel gewählt, bei dem ich sicher sein konnte, dass es mich hierher bringen würde. Und das hat es getan. Jetzt bin ich da. Verspätet, durchgefroren und deprimiert. Aber da. Und dann, als ich den Fuß auf den Bahnsteig setzte ...
Meine Gefühle bei der Ankunft sind der Grund, warum ich jetzt in dieses Gerät spreche. Ich kann sie nicht richtig benennen. Nervosität war es streng genommen nicht. Lampenfieber ebenso wenig. Nicht einmal eine Vorahnung. Wohl eher ein wenig von allem. Ein Kitzel, ein Prickeln, ein kalter Schauer den Nacken hinunter, eine Gänsehaut. Dass in Brighton etwas anderes als eine ausgedehnte große Enttäuschung meiner harrte, war wirklich nicht zu erwarten. Doch schon jetzt, noch bevor ich das Drehkreuz zur Bahnhofshalle passiert hatte, spürte ich mit einer an Gewissheit grenzenden Intensität, dass sich ein Empfang zusammenbraute, der noch mehr als all das für mich bereithielt. Dieses Mehr konnte ein gutes oder schlechtes Vorzeichen sein, war aber in jedem Fall allem anderen vorzuziehen.
Meinen Gefühlen traute ich natürlich nicht. Wie auch? Jetzt sehe ich das allerdings anders. Denn es hat bereits angefangen. Vielleicht hätte ich früher begreifen sollen, dass diese Tournee eine Reise ist. Und das eigentliche Ziel der Reise das ist, was ich jetzt mache.
Das mit dem Tonband war die Idee meiner Agentin. Na ja, eigentlich schwebte ihr eher ein Tagebuch vor – damals, in jenen herrlichen Sommertagen, als dieser Ackergaul von Theaterstück noch wie ein Vollbluthengst aussah, der endlos laufen würde, und die bloße Aussicht auf eine Chronik der Ereignisse einen Lunch im River Café wert war. Moira dachte an so etwas wie die Aufzeichnung eines Prozesses, bei dem die Schauspieler an ihrer Rolle feilen und die tieferen Schichten des Textes entdecken, ehe sie damit in London im West End auftreten. Wie sie das sah, war eine Fortsetzungsgeschichte in einer Zeitung denkbar, sozusagen als Dreingabe zu den zweitausend pro Woche, die mir Gauntlett mittlerweile mit wachsendem Widerwillen zahlt. Der Vorschlag klang gut (wie so vieles von dem, was Moira sagt). Davon motiviert, kaufte ich mir dieses kleine Aufnahmegerät zu einer Zeit, als mir noch die schönsten Luftschlösser durch den Kopf spukten. Und darüber bin ich jetzt froh.
Allerdings ist es mehr oder weniger das erste Mal, dass ich die Sache so sehe. Eigentlich hatte ich das Tagebuchprojekt aufgegeben, bevor ich überhaupt daran arbeitete. In Guildford, wo unsere stolze Produktion im Yvonne Artaud Theatre ihre Weltpremiere erlebte, hätte es damit losgehen sollen. Ist das erst neun Wochen her? Es kommt mir eher vor wie neun Monate, die Zeitspanne einer schwierigen Schwangerschaft – in unserem Fall eine, bei der eine Totgeburt von Anfang an beschlossene Sache war, nachdem wir von Gauntlett erfahren hatten, dass sich das Gastspiel im West End wohl zerschlagen würde. Jetzt danke ich Gott für die Weihnachtssaison mit den alten Pantomime-Stücken auf praktisch jeder Bühne, denn sonst wäre er vielleicht noch versucht gewesen, uns in der Hoffnung auf irgendein Wunder weiter durch das Land tingeln zu lassen. Wie die Dinge stehen, fällt nächsten Sonntag der Vorhang, und zwar wahrscheinlich für immer.
Dabei hätte es gar nicht so kommen müssen. Als letztes Jahr bekannt wurde, dass ein bis dahin unbekanntes Stück des früh verstorbenen und allseits geschätzten Joe Orton entdeckt worden war, galt es weithin schon deshalb als Meisterwerk, weil es ihm zugeschrieben wurde. Brauchte man da noch triftigere Beweise? Das war schließlich der Mann, dem wir Seid nett zu Mr. Sloane, Beute und Was der Butler gesehen hat verdanken. Zugleich war das auch der Mann, der sich mit seinem vorzeitigen Tod einen Ruf als anarchisches Genie sicherte, als ihn sein Liebhaber Kenneth Halliwell im August 1967 in ihrer gemeinsamen Wohnung im Londoner Stadtteil Islington umbrachte. Dank seiner Biografie und seiner gesammelten Tagebücher, die ich überallhin mitschleppe, habe ich die wichtigen Fakten über sein außergewöhnliches Leben immer parat. Ich dachte, das würde mich inspirieren. Ich dachte alles Mögliche. So richtig geklappt hat nichts davon.
Das Manuskript des Stücks Das Mietverhältnis wurde von einem Klempner im Flur von Ortons und Halliwells Wohnung unter den Bodendielen entdeckt. Ich stelle mir vor, dass Orton sich über die Umstände dieses Fundes königlich amüsiert hätte. Vielleicht hat er es dort sogar als Spaß platziert. Oder aber – das ist die Theorie, zu der ich neige – Halliwell verbarg es in der letzten Phase seines geistigen Verfalls, nicht lange, bevor er Orton mit einem Hammer den Kopf zertrümmerte und sich selbst mit einer Überdosis Nembutal das Leben nahm. Orton-Experten datieren das Stück auf den Winter 1965/66. Ihrer Einschätzung nach verwarf er es, als das Stück Beute nach einer verheerenden ersten Laufzeit wiederbelebt wurde. Wenn ich es recht bedenke, ähnelte diese Tournee auf gespenstische Weise meinen Erfahrungen mit dem Ensemble, in dem ich seit Herbstbeginn die Hauptrolle spiele. Im zweiten Anlauf schaffte Beute allerdings den Durchbruch, weil Orton quicklebendig war, mitarbeitete und bereit war, es zu modifizieren. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass er jetzt nicht greifbar ist, um das Stück Das Mietverhältnis zu retten, das er in den Orkus (oder unter die Bodendielen) beförderte, um sich wieder Beute widmen zu können. Wir sind auf uns selbst gestellt. Und das merkt man der Produktion auch an.
Jetzt ist aber genug über das Stück geredet worden. Seine Möglichkeiten und seine Probleme haben wir im Ensemble bis zum Erbrechen analysiert. Es hätte meine Karriere wieder auf die Erfolgsspur führen oder zumindest vom Abstellgleis herunterholen sollen, auf das ich vor ein paar Jahren auf mir unerklärliche Weise abgeschoben wurde. Ich bin der Mann, der gute Aussichten hatte, der neue James Bond zu werden, als Roger Moore aufhörte. Selbst mir fällt es heute schwer, das zu glauben, obwohl ich genau weiß, dass es stimmt. Genauso wahr ist: Man merkt erst dann, dass es nicht mehr nach oben geht, wenn der Abstieg bereits begonnen hat.
Natürlich gibt es jede Menge von Anzeichen, vorausgesetzt, man ist klug genug, sie zu bemerken, oder bereit, sich darauf einzulassen. Mein Name steht auf dem Plakat ganz oben und wird darum auch mit dem Flop verbunden. Martin Donahue dagegen, der die Rolle meines jüngeren Bruders spielt, hat es irgendwie geschafft, trotz der katastrophalen Saison so viele Lorbeeren einzuheimsen, dass beim nächsten Mal er, nicht ich, die Hauptrolle bekommen würde, sollten wir jemals wieder zusammen auftreten – wogegen ich mich allerdings mit Händen und Füßen wehren würde. Es gab mal eine Zeit, als Mandy Pringle, unsere ehrgeizige zweite Inspizientin, immer erst mich und nicht Donahue ins Auge fasste. Diese Zeit ist vorbei. Noch nicht lange, aber trotzdem vorbei. Vielleicht freuen die anderen sich auf eine Woche in Brighton. Keiner von ihnen wird sich vorstellen können, dass ich mich nach unserer Woche in Sussex-by-the-Sea sehne. Erstaunlich, aber es ist wirklich so. Im Augenblick zumindest.
In Poole hat es gestern die ganze Nacht geregnet. Und als ich heute Morgen in den Zug stieg, goss es immer noch. Brighton muss die Sintflut ebenfalls abbekommen haben, aber als ich den Bahnhof verließ, war es trocken. So trottete ich in einem milden grauen Dämmerlicht die Queen's Road zum Meer hinunter, das wie eine dunkelgraue Schieferplatte dalag. Ich hatte meine düstere Vorahnung längst verdrängt und mich damit abgefunden, dass mir sechs harte, freudlose Tage bevorstehen. Der Gedanke, sie in welcher Form auch immer zu protokollieren, lag zu diesem Zeitpunkt in weiter Ferne.
Ich bog in die Church Street ein, die zwar nicht die kürzeste Strecke zu meinem Ziel darstellte, mir aber einen kleinen Umweg zur New Road, vorbei am Theatre Royal mit seiner vertrauten historischen Fassade gestattete. Auf dessen alten Brettern soll ich nun mein viertes Engagement erfüllen, und nur zu gerne würde ich die kommenden acht Aufführungen von Das Mietverhältnis gegen jeden x-beliebigen meiner früheren Auftritte tauschen.
Ich blieb vor dem Plakat stehen und musterte es eingehend. Ich wollte wissen, ob ich in den drei Monaten, seit dieses Foto von mir aufgenommen worden war, sichtbar gealtert bin. Das war allerdings schwer zu beurteilen, nicht zuletzt deshalb, weil ich mich in letzter Zeit nie lange im Spiegel betrachtet habe. Doch das Plakat zeigte eindeutig mich. Und zum Beweis stand mein...