Goby | Über allen Bergen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Goby Über allen Bergen

Roman | Ein Lieblingsbuch über die Kraft der Natur und die Berge als Rettung
24001. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8437-3281-9
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman | Ein Lieblingsbuch über die Kraft der Natur und die Berge als Rettung

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-8437-3281-9
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Über die Kraft der Natur und den Zauber der Berge  Auf seiner ersten Zugreise mitten durchs Schneegestöber kann Vadim nur an eines denken: Atmen. Hoch oben in den Bergen, wo das Ende der Welt nicht mehr weit zu sein scheint, fließt die Luft klar und ungehindert in seine Lungen. Dort oben ist weit und breit kein Fliegeralarm zu hören, nur die alles umfassende Stille der Natur.   Von nun an wird er als Vincent ein neues Leben führen, fern von seiner russisch-jüdischen Familie, abgeschieden von der Zivilisation. Und trotz der schneidenden Kälte findet er in dem kleinen Dorf am Hang ein Zuhause und Menschen, die ihm Wärme schenken. Doch über allen Bergen bleibt die Zeit nicht stehen, und schließlich wird die Realität 1943 auch über seinen Zufluchtsort hereinbrechen ...  »Valentine Goby beschreibt uns die Metamorphose der Natur im Laufe der Jahreszeiten. Wie schön die Berge unter der Feder von Valentine Goby sind!« LIRE MAGAZINE LITTÉRAIRE

Valentine Goby, geboren 1974, ist eine französische Autorin. Für ihren Roman Kinderzimmer gewann sie 2014 den französischen Buchhandelspreis. In ihren Romanen beschäftigt sie sich häufig mit historischen Themen und verwebt gekonnt Geschichte und Gegenwart. Valentine Goby lebt in der Nähe von Paris.
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2
grün


5°, 8°, 10°, liest Vincent vom Thermometer in der Schule ab. Dann fällt es wieder unter null. Dann steigt das Quecksilber wieder. Er wird erneut vor Lawinen gewarnt, zum Ende des Winters hin seien sie besonders gefährlich. Sie schießen nicht schnell und gut erkennbar als Puderwolke den Hang hinunter, sondern kriechen heimtückisch und langsam hinab wie zäher Klebstoff.

»Wie Sérac, weißt du?«

Nein, weiß er natürlich nicht. ist ein milder, krümeliger Käse, der aus Molke gemacht wird, ähnlich wie Ricotta. Er kennt weder Ricotta noch Sérac. Später wird er mithelfen, Sérac herzustellen, nachdem er Alpenampfer zur Milchgerinnung gesammelt hat, und er wird ihn sogar essen – aber bis dahin wird er Blanches Vergleich längst vergessen haben. Dass die Frühlingslawine den Korridor hinabkriecht, ist wirklich wahr, er bekommt es einmal zu sehen, wie sie kompakt und beinah lautlos über die Felswände quillt, Bäume in Zeitlupe entwurzelt und Gestein und Erdbrocken mit sich reißt, bis sich alles zu einem schmutzigen Klumpen vermischt. »Im Inneren der Lawine«, hat Blanche ihm vorher eingeschärft, »gibt es keine Luft zum Atmen. Man-kriegt-dort-kei-ne-Luft«, wiederholt sie und verbindet die Silben zu einem zähen Teig; sie will nicht, dass er stirbt. Jetzt nicht unvorsichtig werden, noch nicht. Nicht einmal nach dem 6. April, als der Lehrer mit dem Finger auf einen Vogel mit graublauem Kopf deutet, der auf dem Fensterbrett herumhüpft:

»Ein Buchfink!«, und daraufhin verkündet: »Der Frühling ist da.« Das Wort dafür schreibt er an die Tafel. Was der Lehrer an die Tafel schreibt, gilt.

Doch auch wenn der Lehrer es verkündet hat, ist es noch schwer zu glauben. Am 21. März hat er nichts gesagt, dem eigentlichen Tag der Sonnenwende, auf den Vincent sehnsüchtig gewartet hatte, weil er sich den Frühling so sehr herbeiwünschte. Nachdem er mittlerweile mit dem Weiß vertraut ist, will er wissen, was danach kommt, will hinter das Rätsel blicken. Am 21. März jedoch schneite es Flocken groß wie Federn; man musste nur die Zunge herausstrecken, um sie wie eine Hostie zu empfangen und dann am Gaumen schmelzen zu lassen – »der Leib Christi«, murmelte Moinette, als sie gemeinsam nach La Villaz hinaufstiegen, »Amen«, erwiderte Vincent.

Vadims Frühling war immer zartgrün gewesen und ein bisschen feucht, mit Wolken aus Blütenpollen. Mit blassen Blüten an den Zweigen, Osterglocken am Fuß der Platanen und ganz viel Aminophyllin. Die Sohlen fühlen sich auf dem Asphalt nicht mehr ganz so kalt an, und vor den Toren vom Parc des Batignolles beziehen wieder die Akkordeonspieler Quartier. Im Park summen Bienen. Sophie holt die Kästen mit den Geranien hervor, die im Winter zum Schutz vor Frost hereingeholt werden. Sie klopft auf dem Balkon die Kissen aus. Manchmal legt sie einen Hauch Rouge auf. »Zieh dir eine andere Hose an, schieb die Strümpfe nach unten, setz die Mütze richtig auf.« Jean spielt auf dem Platz Fußball. Joseph trinkt seinen Kaffee im Hof unter dem Kastanienbaum. Er stutzt seinen Bart. Hier liegt noch immer Schnee, und nachts frieren die Scheiben zu, die Spannung hält also noch an. Morgens säumen tropfenförmige Eisstücke den oberen Fensterrand. Der Frühling lässt auf sich warten. Oder der Frühling ist nur eine mildere Version des Winters.

Vincent beobachtet, wie sich die Landschaft allmählich verwandelt. Die Schneeschicht wird dünner. Sie wird grau, hier und da sogar so durchsichtig, dass brauner Matsch hindurchschimmert. Auf einmal bekommt der Schnee dunkle Löcher – Erde, aufgetauter Kuhmist, verbranntes Gras –, die langsam größer werden, während das Weiß sich zurückzieht; es sieht aus wie das Fell von Marquise, aber die Flecken ändern sich ständig. Martin beteuert, der Frühling sei die beste Jahreszeit, wenn die Sonne auf ihrer Wanderung die Posettes erwärmt und er endlich auf der Haut fühlen kann, wie viel Uhr es gerade ist. Er macht sich ein wenig über Vincents Ungeduld lustig, seinen Frust darüber, dass das Weiß einfach nicht verschwinden will. »Zeichne«, rät er ihm, »ein bisschen Zeit bleibt dir noch.« So oder so, die Zeit der Cousse ist vorüber und schon fast vergessen. Stattdessen wird die Schneedecke von Schauern aus schwerem, nassem Schneeregen aufgeweicht, ohne sie jedoch ganz schmelzen zu lassen. Dann fällt wieder ein wenig Schnee, leicht wie Blütenstaub, der für ein paar Stunden oder höchstens einen Tag die angefangene Skizze aus Brauntönen wieder verschwinden lässt. Vor den ersten Sonnenstrahlen lässt der morgendliche Frost vorübergehend an eine Rückkehr des Winters glauben, und dort, wo die Sonne nicht hinkommt – auf der Nordseite der Häuser, in Bodensenken, im Schatten der Bäume, der Wasserbecken und der Kreuze –, überdauert der Schnee und schert sich nicht ums Datum. Was für eine merkwürdige Verwandlung: Das Weiß verschwindet, doch nicht überall, und zum Vorschein kommt stattdessen nichts als Braun und Schwarz. Es taut, dann schneit es wieder, dann taut es erneut, als würde eine unentschlossene Hand den Film immer wieder zurückspulen, denkt Vincent, und fühlt sich wie gefangen in einer Blase, in der die Zeit abwechselnd vorwärts- und rückwärtsläuft, mehr Weiß, weniger Weiß, mehr Weiß, weniger Weiß.

Und doch, nach und nach richten sich im Wald gegenüber der Schule die von der Last befreiten Tannenzweige wieder auf und strecken sich in Bögen gen Himmel wie Tänzerinnen ihre Arme. Nach und nach blitzt hier und da an den Hängen der Fels auf. Die Oberfläche ist rau und mit Flechten überzogen, die hier hellgrünes Feuerwerk und dort fantastische, rötlich schwarze Landkarten zeichnen, auf denen Kontinente, Inseln und Meere erscheinen.

Nach und nach öffnet sich das Tal und zeigt endlich sein Gesicht. Bis dahin ist Vallorcine nur eine Ansammlung von Silben, ein imaginäres Gebiet durchzogen von unsichtbaren Weilern und Lawinenkorridoren gewesen. Er kennt nur La Villaz und Le Clos, den Flecken, wo die Kirche und das Pfarrhaus sind, Le Mollard, wo Émile wohnt und die alte Dame, an die Moinette ausgeliehen wird, und dann noch Le Crot und Le Sizeray, die auf dem Weg zur Schule liegen; aber in Le Crot oder Le Sizeray hat er bisher noch nie haltgemacht, daher sind es für ihn nur Wegmarken, Ansichten dicht beieinanderstehender, von lauter Weiß umgebener Häuser. Außerdem kennt er natürlich den Ort, weil dort ja die Schule und der Gemeinschaftsladen sind, mit dem Bahnhof und der Brücke über den Fluss Eau Noire. Alles, was sich hinter dem Gemeinschaftsladen befindet, ist für ihn . Auf der einen Seite bildet der lebensgefährliche Korridor Le Rand so etwas wie eine Grenze, auf der anderen gibt es eine Handvoll leerer Hotels. Er war noch nie in Barberine, das im Norden liegt, an der Grenze zur Schweiz. Er war auch noch nie im südlichen Teil des Tals, das sich über fast fünf Kilometer Länge zum Pass Col des Montets hinauf erstreckt und in dem sich vierzehn Weiler und eine Schule für die Kinder aus den darüberliegenden Häusern befinden, außer an jenem Tag im Januar, als er zu Fuß den Tunnel durchquerte und anschließend bis zu den Hüften im Schnee versank, aber damals hat er überhaupt nichts gesehen.

Solange der Schnee ihm bis zu den Schenkeln reicht, erstreckt sich Vincents Winter höchstens über acht Quadratkilometer. Im Frühling ist es viermal so viel.

Einmal begleitet Vincent Moinette hinauf zu ihrer Tante nach Le Nant auf der anderen Seite des Tals. Er wähnt sich auf einer Expedition, endlich kann er die Umgebung erkunden. Sie gehen die Straße entlang. Die Spur für die Schneeschuhe wird nicht länger gebraucht, der durch den Schnee gegrabene Gang, der ihn im Januar noch um das Doppelte überragte, ist nur noch in Resten knapp über dem Boden vorhanden. Vincent hat seine Augen überall und stolpert ein ums andere Mal: Es gibt einfach so viel zu sehen. Das Tal entfaltet sich nach und nach; während er von La Villaz nur die Straße sehen konnte, die durchs Tal führt, zeigt sich ihm die Umgebung nun hinter jeder Kurve von einer neuen Seite. Je näher man dem Pass kommt, umso härter wird der Schnee, und als sie den Bergbach überqueren, geraten sie am anderen Ufer förmlich in eine andere Jahreszeit. Da der Hang so ausgerichtet ist, dass das Sonnenlicht dort selten hinfällt, arbeiten Nachtfrost und Schatten hier zusammen, um den Schnee zu erhalten und am Abschmelzen zu hindern, und in den Senken bilden sich türkisfarbene Eisbahnen, auf denen man sich leicht die Knie zertrümmert. Auf dieser Seite des Tals herrscht immerzu Winter, auch wenn der Föhn – : blassgelb – das Weiß angreift und Tag für Tag eine dünne Schicht davon fortnimmt. Wenn in La Villaz der Schnee bereits komplett verschwunden sein wird, werden in Richtung Les Montets immer noch Schneeverwehungen überdauert haben. Als Vincent den Blick weiter nach oben richtet, über den fast schwarzen Wald, sieht er dort den sich hartnäckig haltenden Schnee...



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