E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Goby Kinderzimmer
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-86915-239-4
Verlag: Ebersbach & Simon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
ISBN: 978-3-86915-239-4
Verlag: Ebersbach & Simon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mila ist Mitglied der Résistance, als sie 1944 verhaftet und nach Ravensbrück deportiert wird. Sie ist Anfang zwanzig - und sie ist schwanger. Das Kind, das sie unter dem Herzen trägt, verleiht ihr ungeahnte Kraft, mit aller Entschlossenheit kämpft sie fortan um sein Leben. Und sie ist nicht allein: Die Solidarität ihrer Gefährtinnen trägt sie bis zur Geburt ihres Sohnes und darüber hinaus. Valentine Goby hat beruhend auf Zeitzeugenberichten einen zutiefst berührenden, virtuos komponierten Roman geschrieben über die unerschütterliche Kraft der Liebe und den Mut einer Frau, die ihrem Schicksal entschlossen die Stirn bietet.
Ein ergreifender Roman, der schnörkellos und zugleich voller Virtuosität von einem kaum bekannten Phänomen der NS-Geschichte erzählt, und von einer außergewöhnlichen, mutigen Frau, die zu keiner Zeit die Hoffnung aufgibt.
Valentine Goby , geboren 1974, ist seit 15 Jahren als freie Autorin für verschiedene französische Verlage tätig und hat zahlreiche Romane und Erzählungen veröffentlicht. 2014 erhielt sie für 'Kinderzimmer' den renommierten 'Prix des Libraires'. Valentine Goby lebt in der Nähe von Paris.
Weitere Infos & Material
I
Milas Erschöpfung vor dem Lagereingang, vor dem, was sie für den Lagereingang hält, Umrisse hoher Mauern hinter den Scheinwerferstrahlen, die sie zufällig treffen, die hastig gesenkten Lider und die Nadeln, die danach ihre Pupillen durchbohren. Um sie herum 400 Frauenkörper, vom Licht in aufblitzende Fragmente zerschnitten – 400, das weiß sie, sie wurden in Romainville gezählt –, Nacken, Schläfen, Ellbogen, Schädel, Münder, Schlüsselbeine. Das Bellen von Menschen und Hunden; Kiefer, Zungen, Lefzen, Fell, Stiefel, Knüppel im flackernden Licht. Die Blitze, die Salven von Tönen hindern Mila am Blinzeln, halten sie aufrecht, wie es die Salve eines Maschinengewehrs täte. Milas Schultern, Wirbel, Hüften brennen wegen der starren Position im Viehwagen, auf der Seite liegen oder auf einem Fuß stehen, vier Tage lang. Ihre Zunge ein Stein im Mund, einmal hat sie den Kopf durch die Luke gesteckt, durch die die Frauen den Urin kippten, und hat den Regen getrunken. Jetzt wartet sie vor der Schranke. Ihre rechte Hand umklammert den Griff des kleinen Koffers. Im Koffer das Foto ihres Bruders, zweiundzwanzig, im Januar verhaftet, das Foto ihres Vaters vor der Werkbank Rue Daguerre zwischen den Stechbeiteln, Feilen, Ahlen, und die Reste eines Lebensmittelpakets, das sie in Fresnes erhalten hatte, ein Pullover, eine Unterhose, ein Hemd, zwei im Gefängnis gestrickte Strampler. Sie umklammert den Koffergriff, das Vertraute, 40 × 60 cm, den Koffer und die Hand von Lisette, die ebenso wenig Lisette ist, wie sie Mila, aber Maria und Suzanne, das war in einem anderen Leben. Das Dahinter hat keinen Namen. Es ist schwarz, durchschnitten von weißen Scheinwerfern wie von Klingen. Sie hat gewusst, dass sie nach Deutschland fahren. Das haben alle Frauen in Romainville gewusst. Man würde sie nicht erschießen, sie wurden deportiert, bedauert hat das kaum jemand, höchstens ein paar – erschossen werden wie ein Mann, überlegt euch das, wie ein Soldat, ein Feind des Reichs, auf dem Mont Valérien. Mila hatte ihre Pflicht getan, so sagte sie, meine Pflicht. Wie man im Bus einer alten Frau den Platz überlässt, selbstverständlich und ohne Lorbeeren, es war kein Verlangen nach Heldentum in ihr, und wenn möglich, wollte sie nicht sterben. Lieber Deutschland als eine Kugel ins Herz. Das ist keine Wahl, keine Freude, erstmal ein Aufschub. Sie verlässt den Ort in Marschordnung, aufrecht, zwischen den 400 Frauen, über ihnen die gleißende Sonne. Vom offenen Lastwagen bis zum Zug bleiben die Leute entlang des Weges stehen; die Marseillaise, Brot und Blumen tragen sie bis zu den Gleisen, bis in den Waggon, von drinnen hört sie die Eisenbahner singen und die wütenden Deutschen die Fenster des Bahnhofsgebäudes einschlagen. Von Deutschland hat sie also gewusst. Deutschland, das ist Hitler, die Nazis, das Reich. Dort sind Kriegsgefangene, Dienstverpflichtete des STO, politische Häftlinge; in Deutschland tötet man die Juden; man tötet die Kranken und die Alten mit Spritzen und mit Gas, das weiß sie von Lisette, von ihrem Bruder, durch die Organisation; es gibt Konzentrationslager. Sie ist weder Jüdin noch alt noch krank. Sie ist schwanger, sie weiß nicht, ob das einen Unterschied macht, und wenn, in welcher Hinsicht. Wohin in Deutschland, das weiß sie nicht. Sie hat keine Vorstellung von der Entfernung oder der Dauer der Reise. Kurze Stopps, keine Pause, Türen werden geöffnet und sogleich wieder mit metallischem Dröhnen geschlossen. Blendendes Tageslicht und ein Schwall frischer Luft offenbaren höchstens den Wechsel von Tag und Nacht, von Nacht und Tag. Drei Nächte, vier Tage. Irgendwann überqueren sie die Grenze, zwangsläufig. Bevor oder nachdem der Kübel voller Pisse über das ohnehin schon nasse Stroh rollt und zwei Frauen mit Fäusten aufeinander losgehen? Bevor oder nachdem Mila an Lisettes Rücken gelehnt döst, der Bauch extrem angespannt über der winzigen Leibesfrucht? Bevor oder nachdem Mila den Mund nicht mehr schließen kann, weil sie keinen Speichel hat? Nachdem sie den Zettel auf die Gleise geworfen hat? Das wäre gut, das würde ihm eine Chance lassen, zu seinem Empfänger zu gelangen, drei mit einem Bleistiftstummel geschriebene Zeilen an Jean Langlois, Rue Daguerre, Paris, Es geht mir gut, Papa, ich umarme dich, und eine Münze für die Briefmarke im zusammengeknüllten Papier. Die Bremsstöße des Zuges erschüttern die Brust, kündigen vielleicht Deutschland an, dann singen die Frauen oder ballen die Fäuste oder brüllen, dass sie nicht bei den Boches aussteigen werden, oder beten oder sagen die baldige Ankunft voraus, andere schweigen erschöpft, manche schlagen an die Tür. Mila lauscht. Sie reißt die Augen auf. Sie sucht ein Zeichen. Deutschland kann doch nicht unbemerkt bleiben. Dann beschleunigt der Zug, ohne dass sie etwas wissen. Nichts markiert die Grenze. Es ist eine geräuschlose Überquerung, die sich jedoch bestätigt, als der Zug gehalten hat und die Frauen aus dem Waggon gestoßen werden: Auf dem Bahnsteig gegenüber entziffert Mila den in großen Buchstaben geschriebenen Namen Fürstenberg. Fürstenberg ist nirgendwo, auf keiner Karte einzuordnen, aber es ist Deutschland, es klingt deutsch, kein Zweifel. Und dann gleich die Hunde. Man zählt sie in Reihen, wie in Romainville. Man zählt die Toten. Die Lebenden setzen sich in Marsch. Jemand stürzt. Eine Peitsche knallt. Dann verschmelzen Gebrüll, Schuhklappern, Bellen zu einem Geräusch, das man von sich fernhalten muss, um einen Fuß vor den anderen zu setzen, um nicht von dem Lärm erreicht, durchbohrt, erschöpft zu werden, so groß ist die Müdigkeit. Laufen, nur das, laufen, geradeaus. Die dichte Nacht schwärzt die schon durch Schläfrigkeit, Hunger und Durst getrübte Landschaft. Hier und da gibt ein violetter Himmel der schwarzen Masse Form, umreißt Äste, Laub, offenbart Tannen, Kiefern, auf jeden Fall Erlen. Weil ihr Vater Tischler ist, kennt Mila die Bäume, die Form der Äste, der Blätter, den Geruch der Bäume, des Harzes, der abgekratzten Rinde. Der Geruch umhüllt die Haut, weit wie ein Wald. Nur nicht mitreißen lassen vom Geruch der Bäume, vom Bild der väterlichen Werkstatt, vom geschnittenen Holz, von Paris. Nicht stolpern, dem Schritt der 400 Frauen vor ihr, hinter ihr folgen. Zwischen den Bäumen zweistöckige Häuser, dunkel. Dann eine große Lichtung, ein spiegelglatter See, wie lackiert vom Mond, funkelnd im gleichen weißen Glanz wie die Maschinenpistolen. Ihr Magen brennt von reinem Gallensaft, Mila atmet ein, atmet aus und wieder ein, aber die Heftigkeit der Krämpfe besiegt jeden Willen, sie dreht sich zur Seite und erbricht eine durchsichtige Lache in den Sand, sie läuft und erbricht, die Hunde an den Fersen, Lisettes gespreizte Hand zwischen ihren Schulterblättern. Durch die Rohre im Gefängnis, in Fresnes, hat Brigitte gesagt, du hast Pech mit dieser Übelkeit. Durch die Rohre unterhielten sich andere Stimmen von einer Zelle zur nächsten; ein Gedicht, Neuigkeiten von der russischen Front, geflüsterte Liebesworte – wahrhaftig, Liebesworte zwischen einem Mann und einer Frau, bei denen die anderen verstummten, um ihnen eine Chance zu geben. Mila hat Brigitte nie gesehen, beide sind in Isolierhaft. Wochenlang war Brigitte nur ein Klang, aber sanft, treu, ein abendliches Rendezvous, einmal hat sie Wolle und kleine Nadeln in einem zusammengeknoteten Taschentuch am Ende eines Fadens aus dem Fenster zu Mila geschickt. Woher die Nadeln und die Wolle kamen, hat Mila nicht erfahren. Als Ausgleich für das Pech mit der Übelkeit schwört Brigitte: »Dein Kind schützt dich, ich bin sicher«, und sie singt ein Wiegenlied in den Bleitrichter, ein spanisches Wiegenlied für Milas Kind, las hojitas de los árboles se caen, viene el viento y las levanta y se ponen a bailar, für das Kind und für Mila, die wie ihr Kind ist, sagt Brigitte. Milas Nichtwissen ist grenzenlos, in ihr das Kind, vor ihr Deutschland – irgendjemandem muss sie doch irgendetwas glauben. Also glaubt Mila Brigitte, etwas anderes fällt ihr nicht ein. Sie ist geschützt, das Kind ist eine Chance. Wie in Brigittes Lied beginnen die vom Wind bewegten Blätter zu tanzen. Jetzt gehen die 400 Frauen durch die Schranken und betreten das Lager. Hunde, Gebrüll, Scheinwerfer. Wo sind wir hier, fragen Stimmen, was ist das für ein Saustall? Es wird geprügelt, gebrüllt, gezählt und wieder gezählt. Sie überqueren einen leeren Platz, gehen einen Weg zwischen schnurgerade aufgereihten Baracken entlang, dann werden 400 Frauen abzüglich der Toten Bauch an Bauch an Rücken in einen einzigen dunklen Raum gesperrt. »Was, nichts zu trinken?«, »Was sagst du?«, »Herrgott, wisst ihr, wo wir sind?«, »Geh doch zum Teufel!« Stöße zwischen den Körpern, getretene Zehen, unabsichtliche Schläge, matte Entschuldigungen, erschöpftes Lächeln und vorsätzliche Schläge, um Raum zu gewinnen. Die beiden Reihen mit Etagenbetten werden von den Ersten besetzt. »Leg dich hin«, flüstert Lisette schwankend, »schnell, bevor auch der Boden besetzt ist.« Und sie legen sich hin,...