Gloger / Mascolo | Das Versagen | E-Book | www2.sack.de
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E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Gloger / Mascolo Das Versagen

Eine investigative Geschichte der deutschen Russlandpolitik | »Pflichtlektüre ... Unglaublich präzise, packend geschrieben.« Markus Lanz
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8437-3629-9
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine investigative Geschichte der deutschen Russlandpolitik | »Pflichtlektüre ... Unglaublich präzise, packend geschrieben.« Markus Lanz

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-8437-3629-9
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mit Putins allumfassendem Angriffskrieg gegen die Ukraine stehen drei Jahrzehnte deutscher Außenpolitik auf dem Prüfstand. Wie konnte es so weit kommen? In einer akribischen Recherche haben Katja Gloger und Georg Mascolo eine Fülle vertraulicher wie brisanter Regierungsdokumente eingesehen und mit zahlreichen Zeitzeugen gesprochen. Eine besondere Rolle spielten die Dossiers deutscher Geheimdienste, die früh vor Putins imperialen Gelüsten warnten. Spannend wie in einem Thriller rekonstruieren Gloger und Mascolo die Bruchpunkte einer Epoche: den NATO-Gipfel von Bukarest, die Abkommen von Minsk, den Fall Nawalny, den frühen hybriden Krieg Putins gegen Deutschland und den Bau von Nord Stream 2. Nicht einmal die alarmierendsten Erkenntnisse änderten den sehr pragmatischen Umgang der deutschen Politik mit Putin. Und zu oft versteckten sich hinter den propagierten politischen Zielen harte ökonomische Interessen. Das Buch trägt zu jener unverzichtbaren Aufklärung bei, die bis heute verweigert wird.

Die mehrfach ausgezeichnete Journalistin und Bestseller-Autorin Katja Gloger arbeitet seit über 30 Jahren vor allem zu Russland und internationaler Sicherheitspolitik. Die Osteuropahistorikerin berichtete viele Jahre für den Stern aus Moskau und Washington. Sie interviewte Michail Gorbatschow, Boris Jelzin und Wladimir Putin.
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ALTERNATIVE
WIRKLICHKEITEN


Dieser 25. September des Jahres 2001, so wird es viel zu lange heißen, ist einer der hoffnungsvollsten Momente der deutsch-russischen Beziehungen. Vergleichbar allenfalls mit jenem schon verblassten frühsommerlichen Vormittag des 12. Juni 1989, als auf dem Bonner Rathausplatz ein Mann, strahlend, selbstbewusst und visionär, die Herzen der (West-)Deutschen eroberte, einen kleinen Jungen auf dem Arm. »Gorbi, Gorbi« riefen die Menschen Michail Sergejewitsch Gorbatschow zu, Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Es war einer jener glücklicheren Tage, an denen, noch unausgesprochen, der Weg bereitet wurde für die deutsche Wiedervereinigung.

An diesem Herbsttag des Jahres 2001 hingegen fühlt sich die Welt unberechenbar und gefährlich an. Der Terroranschlag des 11. September liegt gerade zwei Wochen zurück, von Krieg ist die Rede, Krieg gegen den Terror. Da tritt um 15:15 Uhr ein Gast aus Moskau an das Rednerpult des Deutschen Bundestages; für seinen ersten Staatsbesuch hat der Präsident der Russischen Föderation Wladimir Putin Berlin gewählt. Er bringt: Hoffnung, ein bisschen Zuversicht. Denn er verspricht eine neue Zeit, die geprägt sein soll von Frieden und Kooperation: »Der stabile Frieden auf dem Kontinent ist das Hauptziel«, sagt er. Und: »Russland ist ein freundlich gesinntes europäisches Land.«

Aber es ist nicht nur, was dieser Mann an diesem Nachmittag sagt. Wichtig ist auch, er es sagt. »Heute erlaube ich mir die Kühnheit, einen großen Teil meiner Ansprache in der Sprache von Goethe, Schiller und Kant, in der deutschen Sprache, zu halten«, sagt der russische Präsident und wechselt ins Deutsche. Leise spricht er, zurückhaltend, höflich, das verstärkt die Botschaft.

Im Parlament laufen die Abgeordneten an jedem Sitzungstag an jenen von einer deutsch-russischen Kommission ausgewählten und sorgsam konservierten Inschriften vorbei, die Soldaten der Roten Armee im Siegesmonat Mai 1945 in Hitlers Reichstag hinterlassen hatten, Graffiti ihrer Zeit, mit einem verkohlten Stück Holz oder farbiger Fettkreide gekritzelt. Die Namen ihrer Heimatstädte, auch in der Ukraine, Freude über den Triumph des Sieges. Die Wände und Säulen mit kyrillischen Botschaften stehen als mahnende Erinnerung an den Vernichtungskrieg der Deutschen gegen die Völker der Sowjetunion. Mitten im deutschen Parlament. »Na Berlin!«, hieß es in den letzten Kriegsmonaten, nach Berlin!

Im Kriegsjahr 2025 kursieren ähnliche Propagandabotschaften in russischen Städten, Schüler malen sie auf Plakate, manche kleben sie als Sticker auf ihr Auto: »Moschem powtorit!« – Wir können es wiederholen! Gemeint ist: Wir werden siegen. Koste es, was es wolle. Wir werden Euch besiegen.

Welche Welten sie und ihren Siegeskult-Präsidenten von denen auch in Russland trennen, für die über bittere Jahrzehnte eine andere, leise Botschaft galt, verbunden mit einer zarten Hoffnung auf Versöhnung: »Lisch ne bylo by wojny.« Alles, aber keinen Krieg mehr. Bloß keinen Krieg mehr. Niemals mehr.

Frieden in Europa sei nur mit, nicht gegen Russland zu erreichen, so lautet die deutsche politische Maxime seit dem Zerfall der Sowjetunion und der friedlichen Wiedervereinigung eines geteilten Landes. An diesem 25. September 2001 scheint dieser Moment zum Greifen nahe. Und tatsächlich, vielen scheint Putin als »Deutscher im Kreml«.

Immer wieder wird seine Ansprache von Applaus und freundlichem Lachen unterbrochen. Am Ende erheben sich die Abgeordneten und die gesamte versammelte Staatsspitze, Bundespräsident Johannes Rau und Bundeskanzler Gerhard Schröder. Finanzminister Theo Waigel macht einen »Kennedy-Effekt« aus. Der Beifall will nicht enden. Putin steht stumm, fast schüchtern hinter dem Pult, nur die Augen verraten seine Zufriedenheit. Es ist ein Triumph. Der russische Staatschef, Oberstleutnant außer Dienst des sowjetischen Komitees für Staatssicherheit KGB, hat einmal von sich gesagt, er sei ein Spezialist für den Umgang mit Menschen.

Dieser 25. September 2001 gehört zu seinen Meisterstücken.

Es gibt allerdings noch eine andere Geschichte dieses Auftritts zu erzählen. Früh hatte Putin den Wunsch übermitteln lassen, während seines Staatsbesuches im Bundestag zu sprechen. Aber monatelang wurde darum gerungen, ob Putin überhaupt »die Ehre erhalten« solle, die Ehre einer Rede vor dem Plenum.

Er hatte zur Jahreswende 2001 das Ehepaar Schröder zum orthodoxen Weihnachtsfest nach Moskau eingeladen, war mit Schröder Schlitten gefahren, buchstäblich. Jetzt ging es ihm darum, auch den Rest des Landes für sich einzunehmen, die Deutschen zu packen bei ihrer Verantwortung für die gemeinsame Geschichte und wohl auch bei ihrer verklärenden Russlandliebe.

»Einziger ›kritischer‹ Punkt derzeit: Rede Putins vor dem Bundestags-Plenum«, heißt es in einem Vermerk des Auswärtigen Amts. Die Frage sei dem Kanzler und dem Bundespräsidenten unterbreitet worden, die Vorlage an den Kanzler sei im Ton eher »zurückhaltend-negativ« geschrieben.1

Denn Auftritte ausländischer Staatsgäste vor dem deutschen Parlament werden grundsätzlich nur sehr selten gewährt. Die Protokollabteilung des Bundestages äußert Bedenken, offeriert gar eine diplomatisch-höfliche Ausrede: Man könnte darauf hinweisen, »dass am fraglichen Tag der Bundestag wohl gar keine Plenarsitzung hat«.

Dann interveniert der Kanzler selbst. Es kommt zu einem Kompromiss.

Das Parlament übermittelt dem russischen Botschafter in Berlin Ende August gleich zwei Bedingungen: Eine Ansprache Putins im Bundestag müsse »zu einem gewichtigen Teil auf Deutsch gehalten« werden, »um damit eine gewisse Besonderheit zu belegen«.

Und im Anschluss muss sich Putin mit Abgeordneten des Auswärtigen Ausschusses zu einer Aussprache treffen. Mit mindestens 45 Minuten wird sogar die Dauer vorgegeben. Es steht zu erwarten, dass dann auch der Krieg zur Sprache kommt, den Putin gerade in der Autonomen Republik Tschetschenien führt. Noch in der ersten Nacht seiner Präsidentschaft, nur wenige Stunden nach der nicht sehr demokratischen Machtübergabe durch Boris Jelzin am 31. Dezember 1999, war Putin nach Tschetschenien geflogen und hatte dort Orden und Jagdmesser an russische Soldaten überreicht. Im Westen ist er bereits durch besonders grobe, menschenverachtende Sprache aufgefallen: »Notfalls machen wir sie auf dem Scheißhaus kalt.« Oder: »Man muss sie wie Ungeziefer vernichten!«

Eine Gruppe von Bundestagsabgeordneten der Partei Bündnis 90/Die Grünen hat einen offenen Brief an Putin geschrieben: »Die Menschenrechte der Zivilbevölkerung in Tschetschenien und die Rechte der Flüchtlinge wurden grausam missachtet.«2

Jetzt, kurz nach dem 11. September, ist die Sorge groß, dass es noch schlimmer werden könnte. Dass Putin 9/11 nutzt, um im Kaukasus seinen eigenen, barbarischen Feldzug gegen den Terror zu führen, ohne dass er dafür verantwortlich gemacht wird. Von Anfang an sind Kriege sein politisches Mittel der Wahl.

Einer der Autoren des offenen Briefes ist der frühere DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz: Deutsche Politiker hätten Putin wie einen »Enkel Gorbatschows gefeiert«, sagt er, ihn nicht als »Ziehsohn des KGB erkannt«. Genau diesen Typus Geheimdienstler kenne er und misstraue ihm zutiefst. Schulz beweist damit eine erstaunliche Menschenkenntnis.

Von Putins Rede im Bundestag existieren ein Wortprotokoll und hunderttausendfach geklickte YouTube-Videos. Die Diskussion mit den Abgeordneten des Auswärtigen Ausschusses ist in einer bis heute vertraulichen dreiseitigen »zusammenfassenden Mitschrift« archiviert, die es vor allem wegen Putins Antworten in sich hat. Da geht es nicht um Kant und Schiller und Goethe, sondern um Putins Vorgehen in Tschetschenien.3 Die Lage dort werde »in Deutschland weiter mit Sorge verfolgt«, sagt der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz. Putin wiegelt ab, er habe doch gerade einen Friedensplan unterbreitet. Und: Seit dem 11. September »akzeptiere Russland keine Doppelstandards« mehr – unterschiedliche Maßstäbe, wenn es um den Krieg gegen den Terror geht.

Ein Spezialist für den Umgang mit Menschen


Früh zeigte sich: Putin ist ein Meister darin, unterschiedliche Botschaften zu senden, manchmal an ein und demselben Tag. Diese Befähigung perfektioniert er. Aber zu viele in der deutschen politischen Klasse hören und sehen nur, was sie hören und sehen wollen.

Putin überlässt nichts dem Zufall, auch nicht an diesem 25. September 2001. Denn entscheidende Gedanken dieser Rede, gar Grundsätzliches zu Russland, das geöffnet ist für gute Geschäfte, sind von einem ehemaligen deutschen Spitzenbeamten und einem deutschen Industriemanager, der Putin schon lange kennt, formuliert worden: Horst Teltschik, der mit Kanzler Kohl die deutsche Einheit verhandelte, und Klaus Mangold, Vorsitzender des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft. Er war auf Bitte Putins zur Vorbereitung sogar eigens nach Moskau geflogen. Die Rede, die bis heute herhalten muss als Beweis für den »anderen...



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