E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Glettler / Mohammed Nicht den Hass, die Liebe wählen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-451-83719-7
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Bischof und ein Imam über Spuren der Hoffnung in einer verwundeten Gesellschaft
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-451-83719-7
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hermann Glettler, geb. 1965, studierte Theologie und Kunstgeschichte und wurde 1991 zum Priester geweiht. Seit 2017 ist er Bischof von Innsbruck; er engagiert sich für zeitgenössische Kunst und erregt durch seine originellen Aktionen und mitreißenden Predigten immer wieder große Aufmerksamkeit.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
Verfeindete Lebenswelten?
Warum wir uns für den Dialog entscheiden
Hermann Glettler: Wie beginnen wir? Ich bin etwas zögerlich, auch wenn meine Freude groß ist, dass wir ein ausführliches Gespräch führen können.
Abualwafa Mohammed: Mir geht es auch so. Themen haben wir ja genug, viele drängen sich auf. Die Entwicklung unserer Gesellschaft geht rasant voran.
HG: Wir nehmen viel Schönes wahr, aber auch einiges, was uns zutiefst irritiert und erschüttert. Darf ich mit einem Beispiel einer erfolglosen Mühe um ein Gespräch beginnen?
AM: Ja, selbstverständlich. Das Gelingen eines Gesprächs haben wir nie in der Hand.
HG: „Ich halte diese Idioten nicht mehr aus!“ Diese fast noch harmlose Empörung einer älteren Dame habe ich in einer Straßenbahn aufgeschnappt, als sich eine Demo der Fridays for Future formierte. „Sind wir denn alle nur mehr Ökoverbrecher?“ Mein holpriger Versuch, etwas dagegenzuhalten und in ein Gespräch zu kommen, schlug fehl. Ich wollte nur anmerken, dass diese groben Kategorisierungen nichts bringen. Es sind ja auch nicht alle, die ihre Stimme gegen die Klimazerstörung erheben, gleich Ökofaschisten, versuchte ich zu erklären. Aber es war in der Situation nichts zu machen. Die Kommunikationsampel stand eindeutig auf Rot.
AM: Ich könnte dir zahlreiche Wortfetzen dieser Art schildern, mit denen viele Musliminnen und Muslime konfrontiert werden – oft sehr verletzend. Gleichzeitig wird im Namen unserer Religion viel Gewalt verübt und Hass geschürt, was zu Missverständnissen, Vorwürfen und Ängsten führt. Das ist leider verständlich – trotzdem sind diese Reaktionen schmerzhaft und unschön. Die Frage ist natürlich, ob sie uns insgesamt gerecht werden.
HG: Natürlich nicht! Ernst nehmen müssen wir die Ängste dennoch. Wir können sie nicht einfach wegdiskutieren. Vielleicht kommen wir später noch auf die Ökodebatte zurück. Nur so viel: Obwohl die wissenschaftlichen Fakten immer deutlicher von einem Klimanotstand sprechen, ignoriert die globale Politik zunehmend dieses Thema. Oder agiert offensichtlich dagegen. Auch dabei spielen unzählige Ängste, nicht zuletzt jene vom Verlust des Wohlstands, eine große Rolle.
„Immer deutlicher stehen sich eine wachsende Islamfeindlichkeit und ein antiwestlicher Islamismus aggressiv gegenüber.“
Abualwafa Mohammed
AM: Wie gesagt, ich verstehe, dass es Ängste vor dem Islam gibt,[1] nicht selten durch eine populistische Politik angefeuert. Auch eigenartige Verschwörungstheorien auf beiden Seiten spielen eine Rolle: Man spricht von der bevorstehenden Islamisierung Europas, vom „großen Völkeraustausch“[2] – und auf der anderen Seite verschanzen sich viele Muslime in der Opferrolle und machen der gesamten Gesellschaft den Vorwurf der Islamophobie. In dieser problematischen Spannung stehen wir. Eine wachsende Islamfeindlichkeit und ein antiwestlicher Islamismus stehen sich immer aggressiver gegenüber. Eine traurige Entwicklung. Dazwischen vermittelnd wird man recht rasch als Verräter beschimpft.
HG: Das ist Teil deiner Erfahrung. Wir werden später ausführlicher darauf zurückkommen. Ich wollte zu Beginn lediglich darauf hinweisen, dass sich die Anzahl der „Welten“, die sich aggressiv voneinander abschotten, im Eiltempo vervielfacht. Sie driften ideologisch und milieubedingt immer weiter auseinander. Ganz eigenartige Realitätsnischen entstehen, die nicht selten von verunsicherten Menschen behaust werden.
AM: Auch die Welten von Nachbarn und Arbeitskollegen entfremden sich.
HG: Das ist leider nichts Neues. Man spricht von Kommunikationsblasen, den sogenannten Bubbles, und bedauert diese Entwicklung. Aber was nützt es? Die sozialen Medien arbeiten mit raffinierten Algorithmen, die bevorzugt nur das liefern, was der schon bekannten Welt entspricht.
AM: Oder technisch ausgedrückt, dem Meinungsprofil des Users. Was scheinbar harmlose Auswirkungen haben kann oder auch sehr bedenkliche …
HG: Wer sich in ein paar israelkritische Seiten hineinklickt, wird relativ bald auch einschlägige Reels mit antizionistischer oder antijüdischer Propaganda erhalten. Eine unfassbare Wirkung! Polarisierungen und zunehmende Entfremdungen werden damit technisch beschleunigt. Gibt es ein Rezept dagegen?
AM: Leider nicht, es wäre zu schön. Mit Sicherheit hilft ein kritischer Medienkonsum – im konkreten Beispiel das bewusste Aufsuchen von Seiten, die eine andere politische Perspektive vertreten. Faktum ist, dass sich Menschen recht rasch in ihrer Welt einbunkern und sich von allen zu komplizierten Auseinandersetzungen abmelden. Sie versprechen sich dadurch mehr Sicherheit in vielerlei Hinsicht. Sie wollen einfache Erklärungen und Schutz.
HG: Schutz wovor? Schutz vor der harten Wirklichkeit oder vor der globalen Unübersichtlichkeit? Oder doch auch Schutz vor wirklichen Begegnungen, die vorgefasste Meinungen irritieren könnten? Wir müssen nachdenken, wie wir Menschen aus den Meinungsblasen und ideologischen Bunkern herauslocken und zu einer inneren Weite „verführen“ können – letztlich zu einer beglückenden Erfahrung des Menschseins.
„Wir müssen nachdenken, wie wir Menschen aus den ideologischen Bunkern herauslocken und zu einer inneren Weite ‚verführen‘ können – letztlich zu einer beglückenden Erfahrung des Menschseins.“
Hermann Glettler
AM: Ja, das ist eine feine Formulierung: Wir müssen Menschen aus den zu engen Welten, Nischen, Bubbles und Bunkern herauslocken! Ein Zauberwort dafür ist „Zeit“ – sich Zeit nehmen füreinander, Zeit zum Gespräch, Zeit zum Aufbau von Beziehungen und Freundschaften. Ja, das wäre das Rezept!
HG: Neu und erschreckend ist die Aggressivität, mit der die Grenzen zwischen den diversen Lebenswelten gezogen werden. Die Härte schockiert. Die anderen werden nicht nur als Idioten denunziert, sondern gleich einmal als Verbrecher, die man eigentlich loswerden sollte.
AM: Trotzdem werden wir mit dem moralischen Zeigefinger nicht sehr weit kommen. Was wir benötigen, sind „Dialoge der Herzen“, wie ich es nenne. Menschen öffnen sich füreinander, machen sich verletzlich. Das ist natürlich ein hoher Anspruch. Aber was sonst? Mir scheint gerade deshalb unser Gespräch so wichtig zu sein. Wenn nötig, müssen wir auch eine Konfliktkultur pflegen …
HG: … um unsere weltoffene, plurale Gesellschaft gegen alle Extremismen zu verteidigen. Dazu gehört auch die Sorge um den Erhalt einer funktionierenden Demokratie – also die Verteidigung von Meinungs- und Medienfreiheit, Schutz von Minderheiten, Gewaltenteilung und vieles mehr. Demokratie ist leider kein Selbstläufer, sondern ein ständiger Auftrag an uns alle.
AM: Die Dämonisierung von Menschen, die eine andere Meinung vertreten, anders leben oder glauben, ist in jedem Fall gefährlich.
„Wer nur mehr von ‚Gegnern‘ spricht, wird bald auch nur mehr von solchen umgeben sein. Das ist eine bittere Erfahrung.“
Hermann Glettler
HG: Wer nur mehr von „Gegnern“ spricht, wird bald auch nur mehr von solchen umgeben sein. Das ist eine bittere Erfahrung. Tödliche Isolation, selbst gewählte Vereinsamung. Wir müssen unbedingt daran arbeiten, die gefährlichen Freund-Feind-Schemata zu überwinden – hier „die Unsrigen, dort die anderen“. Nähe und echte Zugewandtheit ermöglichen, ist das Gebot der Stunde.
AM: Die vielfältigen Polarisierungen empfinde ich oft wie einen inneren Kriegszustand, wenn ich das so nennen darf. Ein faszinierender Versuch, dagegenzuhalten, ist die Initiative „runde und eckige Tische für Österreich“,[3] an der wir uns gemeinsam beteiligen. Ich habe mittlerweile schon einige außergewöhnliche Zusammenkünfte dieser Art erlebt. Menschen kommen miteinander ins Gespräch, die sonst durch Welten voneinander getrennt sind. Und sie sind erstaunt, wie bereichernd es ist, einander zuzuhören.
HG: Und dabei die innere Waffenkammer der unreflektierten Vorhaltungen abzurüsten. Dadurch wird der Blick wieder frei, dass der Nächste keine Bedrohung darstellt. Papst Franziskus spricht immer wieder davon, dass wir wesentlich mehr Geist und Herzblut in eine „Kultur der Begegnung“ investieren sollten.
AM: Ehrliche, aufrichtige Begegnungen sind der Schlüssel. Was sonst kann die Radikalisierungen aller Art aufhalten?
HG: Bei der erwähnten Initiative finde ich die Kombination der unterschiedlichen Tische ganz entscheidend. In Ergänzung zu den „runden Tischen“, die uns eher als Bild für die Mühe um Konsens und Zugehörigkeit vertraut sind, stehen die „eckigen Tische“ dafür, dass es in unserer pluralen Gesellschaft einen Mix an divergierenden Auffassungen gibt. Und nicht zuletzt krasse Unterschiede in der konkreten Lebensgestaltung. Zum Glück ist das so! Ich trauere keiner monotonen Harmonie nach. Alle Versuche von Gleichschaltungen haben immer nur Gewalt und Unheil...