Gleeson | Konstellationen | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Gleeson Konstellationen

Die Sprache meines Körpers
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-26007-1
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die Sprache meines Körpers

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-641-26007-1
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wie kann man die Geschichte des eigenen Körpers erzählen, in Gesundheit, Krankheit, Mutterschaft? Wie kann man diese Geschichte als Frau erzählen, noch dazu als Frau in Irland? Mit diesen mutigen und starken Texten tut Sinéad Gleeson genau das.

Das ganze Leben ist in diesem Buch: von der Geburt zur ersten Liebe, von Schwangerschaft zu Muttersein, bedrohlicher Krankheit, Alter und Tod. Sinéad Gleeson nimmt uns mit auf eine Reise, die zugleich sehr persönlich und zutiefst universell ist.

Sinéad Gleeson ist eine irische Schriftstellerin, Herausgeberin und Kritikerin. Daneben hat sie als Literaturredakteurin beim irischen Radiosender RTÉ gearbeitet. Sie zählt zu den wichtigsten jungen Stimmen Irlands. Ihr Essayband »Konstellationen« war ein Nummer-1-Bestseller in Irland und Irish Nonfiction Book of the Year 2019. Sie lebt in Dublin.

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HAARE


In den 1980er-Jahren hatte jedes sechsjährige Mädchen, das ich kannte, lange Haare in einem unauffälligen Braunton – so wie ich. Für diese Farbtöne gibt es eigene Begriffe. Meiner wird häufig als »mausbraun« bezeichnet, was ich mit Schüchternheit und in Hecken versteckten Mäusen verbinde. Ein Mädchen aus der Schule verrät mir ein großes Geheimnis: Wenn man die Haare zu einem Zopf flicht und über Nacht so lässt, sieht man am nächsten Morgen großartig aus. Von dieser Offenbarung beeindruckt flechte ich meine Locken zu festen Zöpfen und ziehe mir die Decke über den Kopf. Vor Aufregung mache ich in der ersten Nacht kein Auge zu. Auf den Zöpfen schläft es sich auch schlecht. Das ist es wert, rede ich mir ein und stelle mir schon ein ganz neues Ich vor. Ich wache früh auf und nehme den Kamm meiner Mutter. Er hat einen blau-roten Griff zum Einklappen. Eigentlich ist er für einen Afro gedacht, und ich weiß nicht, wie er in den Besitz meiner Mutter gelangte, ob er ein Geschenk war oder ein Impulskauf in der Apotheke. Für das feine dünne Haar, das meine Mutter und ich haben, ist er jedenfalls übertrieben. Ich löse die Haargummis und beginne, die Haare zu kämmen. Ich entwirre sie wie ein Wollknäuel.

Und da bin ich: Rapunzel ohne Turm und mit sechs Jahren noch unentschlossen hinsichtlich der Sache mit dem Prinzen. Eine Erinnerung taucht auf: Kate Bush in einem Video aus , wild und mit rotbrauner Mähne. Ihre Haare waren ein so bedeutender Teil ihres Wesens und ihrer Energie. Vor dem Schminkspiegel löse ich die Zöpfe. Ich betrachte die Wellen, das Meer aus Haaren. Noch Jahre später denke ich jedes Mal an diese Zöpfe und den alten Spiegel, wenn ich David Bowies »Life on Mars« und speziell die Zeile höre. Ich denke daran, wie man die eigenen Haare wellig machen und sich mit einer einzigen Handlung in einer einzigen Nacht verändern kann.

Monate später verkünde ich meiner Mutter aus einer Laune heraus, meine Haare abschneiden zu wollen. Meine Tante ist Friseurin und schneidet – nur Frauen, nie Männern – in ihrer Küche die Haare. Sie ist immer perfekt herausgeputzt, mit Lipgloss, Kajal und kunstvollen aschblonden Strähnchen. Nach weniger als einer Stunde liegen mausbraune Haare auf ihrem Linoleumboden. Ich bereue es sofort und flehe meine Mutter jahrelang an, die Haare wieder wachsen lassen zu dürfen. Sie lehnt mit der Begründung ab, kurze Haare seien »einfacher zu handhaben«. Meine Tante bezeichnet den Schnitt als Pagenkopf, und wenn wir zum Nachschneiden kommen, blättert meine Mutter in einer Zeitschrift und sagt, der Schnitt solle »wie Prinzessin Dianas« aussehen. Ich fange an, das Gefühl meiner Haare auf meinen Schultern zu vermissen. Als sich die Familie zu einer Hochzeit in Liverpool trifft, hält ein Mann mich für einen Jungen und nennt mich Sohn. Ich weine stundenlang. Meine Patentante, die immer kurze Haare hatte, tröstet mich. Sie schenkt mir das erste Hardcover-Buch meines Lebens. Es ist in rotes Kunstleder mit goldener Prägung gebunden. Ich lese Louisa May Alcotts , verstehe aber nicht alles. Diese Mädchen sind einzigartig und ähneln einander doch. Angesichts ihrer engen Freundschaften möchte ich unseren Vorort im Dublin der 1980er-Jahre gegen das 19. Jahrhundert eintauschen. Und Jo – bestimmt die beliebteste Figur in – tut etwas, das meine Bewunderung für sie noch größer werden lässt: »Während sie sprach, nahm Jo ihre Haube ab, woraufhin ein allgemeiner Aufschrei entstand, denn all ihre üppigen Haare waren abgeschnitten. ›Dein Haar! Dein schönes Haar!‹ ›Oh Jo, wie konntest du nur?‹«

Ihr geschorener Kopf löst Entsetzen aus. Jo selbst nimmt »eine gleichgültige Haltung an«, obwohl auch sie ihr Haarverlust erschreckt. Oh Jo! Wir sind kurzhaarige Seelenverwandte!, denke ich. Die ersten Bücher, die wir lesen, verändern uns für immer. Die Figuren fühlen sich mehr an wie echte Menschen, die einfach nur in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort leben. Als einziges Mädchen in meiner Familie beneidete ich Jo und ihre Schwestern. Ihre Nähe und Verbindung zueinander ähnelte meiner Freundschaft zu meinen Brüdern, aber über Haare sprach ich mit ihnen nicht.

Jo schneidet sich ihre »einzige Schönheit« ab, weil sie ihrer Familie helfen will, an Geld zu kommen. Ihr Opfer ähnelt der Geschichte in O. Henrys , in der Haare gleichfalls eine zentrale Rolle spielen. Die Protagonistin Della hat die vielleicht außergewöhnlichsten Haare der Literaturgeschichte: »Dellas Haar floss in einem schimmernden braunen Wasserfall an ihr herab bis über die Knie und hüllte sie ein wie ein Gewand.«

Dellas Motivation ähnelt der von Jo. Es ist Heiligabend, und schon in der ersten Zeile erfahren wir, wie wenig Geld sie hat – einen Dollar und achtundsiebzig Cent. Sie will ihrem Ehemann unbedingt eine Platinkette für seine geliebte Uhr schenken und verkauft ihr knielanges Haar für zwanzig Dollar an einen Perückenmacher. Während sie darauf wartet, dass Jim von der Arbeit heimkehrt, denkt sie: »Lieber Gott, bitte lass ihn mich immer noch hübsch finden.«

Als Jim nach Hause kommt, schockiert ihn ihre Tat und ihr verändertes Aussehen. Die Tragik der Situation wird noch gesteigert, als Jim berichtete, dass er seine geliebte Uhr verkauft hat, um teure (jetzt nutzlose) Schildpattkämme für Dellas Haare zu erwerben. Das gegenseitige Opfer geliebter Dinge verstärkt letztlich die Liebe des Paars, aber zuvor befürchtet Della, ihre kurzen, nicht mehr weiblichen Haare könnten dazu führen, dass Jim sie weniger begehrt: »Magst du mich nicht trotzdem genauso gern? Ich bin auch ohne Haar immer noch dieselbe, oder?«

Dellas Selbstdefinition funktioniert über ihr körperliches Erscheinungsbild, vor allem durch die von ihrem Ehemann so bewunderten Haare. Ihre Identität ist an ihr Aussehen gebunden und ist nichts Selbstständiges. Die Geschichte erschien 1905, als viele Frauen zu Hause blieben und nicht arbeiteten. Della ist finanziell von Jim abhängig. An dem Tag, an dem sie ihre Haare verkauft, erwartet sie seine Rückkehr von der Arbeit. Sie ist wirtschaftlich machtlos und benutzt ihr einziges Gut. Das Abschneiden der Haare kann entweder als Kastration oder als Selbstermächtigung interpretiert werden. Ich hatte nicht so schöne Haare wie Della, aber das Abschneiden im Alter von sieben Jahren fühlte sich anfangs aufregend an – bis ich mir wünschte, wieder lange Haare zu haben. Ich war eher ein jungenhafter Typ, fühlte mich aber nie, als sei ich kein Mädchen. Weiblichkeit war ein abstrakter Begriff, den ich nicht kannte.

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Haare sind tot.

Jede Locke, jede gefärbte oder gestylte Strähne ruht in Frieden. Früher glaubte ich an den Mythos, die Haare wüchsen nach dem Tod weiter, aber das einzig Lebendige an einem Haar ist der Follikel unter der Kopfhaut. Es kommt mir wie erfunden – oder einfach grandios passend – vor, dass die Kopf-, Scham- und Achselhaare als »Terminalhaare« bezeichnet werden. Das Protein Keratin, die Grundsubstanz der Haare, ist identisch mit dem Keratin in Tierhufen, Reptilienkrallen, Stachelschweinstacheln und den Schnäbeln und Federn von Vögeln. Von der Flügelspitze bis zum Spliss, von der Fessel bis zum Stirnhaar sind wir Säugetiere eine Menagerie aus Polypeptidketten, von denen jede alles enthält, was sich je in unserem Blutkreislauf befand. Enthalten Locken, Rückenmark und Nagelhaut auch verborgene Erinnerungen?

Nicht tot, aber »terminal«. Protein und proteisch. Wie beim Blut ist es auch bei Haaren schwierig, männlich und weiblich zu unterscheiden, aber historisch betrachtet wurden Frauen nach ihren Frisuren beurteilt. In Filmen wurden sie auf Blondinen, Rothaarige oder Brünette reduziert. Diese Praxis zeugt von einer privilegierten Position und grenzt Farbige sowie andere Ethnien aus. Haare dienten dazu, Frauen in Bezug auf Rasse, Sexualität und Religion zu definieren. Sie machen Frauen zu Verführerinnen, indem sie eine Troika aus Weiblichkeit, Fruchtbarkeit und Attraktivität repräsentieren. Dieser Konflikt ist auch Botticellis inhärent. Sie erscheint im Moment ihrer Geburt neu und unbefleckt wie ein Baby, wird aber als voll entwickelte, sinnliche Frau dargestellt. Ihre Nacktheit muss sie natürlich verbergen – und was wäre dazu besser geeignet als ihr wallendes Haar. Frauen auf präraffaelitischen Gemälden tragen ihre vollen Haare offen, wie etwa Dante Gabriel Rossettis . In der jüdischen Tradition ist Lilith die erste Frau Adams, und ihr Name wurde lange mit weiblichen Dämonen assoziiert (eine Übersetzung ihres Namens lautet »Nachthexe«). Sie wurde zur gleichen Zeit erschaffen wie Adam – und zwar nicht wie Eva aus dessen Rippe. Die Beziehung ging kaputt, weil Lilith sich Adam nicht beugen wollte und sich nicht als ihm untergeordnet, sondern als gleichwertig empfand. In Rossettis Bild steht sie emblematisch für die Verführerin und ist damit beschäftigt, ihr voluminöses Haar zu kämmen. Ein Gemälde von John Everett Millais zeigt Shakespeares Ophelia, die im Fluss ertrinkt. Ihre Haare fungieren dabei als Leichentuch. Wenn offene, ungebändigte Haare die moralische Zügellosigkeit von Frauen suggerieren, dann bedeuten hochgesteckte und zurückgebundene Haare das Gegenteil: respektabel, prüde und gehorsam. Haare als Signifikant und Symbol stehen für die gesellschaftliche Position, den Familienstand und die sexuelle Verfügbarkeit.

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In dem Song »Hair« von PJ Harveys Album (1992) verleiht die Sängerin der biblischen Delila eine Stimme. Dazu gehört eine der wohl berüchtigtsten...


Gleeson, Sinéad
Sinéad Gleeson ist eine irische Schriftstellerin, Herausgeberin und Kritikerin. Daneben hat sie als Literaturredakteurin beim irischen Radiosender RTÉ gearbeitet. Sie zählt zu den wichtigsten jungen Stimmen Irlands. Ihr Essayband »Konstellationen« war ein Nummer-1-Bestseller in Irland und Irish Nonfiction Book of the Year 2019. Sie lebt in Dublin.



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