E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Reihe: Die Kunstwirker-Chronik
Gladstone Fünf Faden tief - Ein Roman der Kunstwirker-Chronik
Neuauflage 2022
ISBN: 978-3-7367-9821-2
Verlag: Panini
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Reihe: Die Kunstwirker-Chronik
ISBN: 978-3-7367-9821-2
Verlag: Panini
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Auf der Insel Kavekana konstruiert Priesterin Kai als Geschäftsmodell sozusagen Götter auf Bestellung. Und ihre Kreationen eignen sich perfekt für die Arbeit der Kunstwirker und Kunstwirkerinnen der Alten Welt. Jenseits des Ozeans gedeihen hingegen immer noch echte Gottheiten, unberührt von den Götterkriegen, die die Stadtstaaten Alt Coulumb und Dresediel Lex nachhaltig verändert haben. Bei dem Versuch, den sterbenden Gott eines Freundes zu retten, wird Kai schwer verletzt und aus dem Geschäft ausgeschlossen, da ihr selbstmörderischer Rettungsversuch als Beweis für ihre geistige Instabilität gewertet wird. Als die in Ungnade gefallene Priesterin versucht, die Ursache für den Tod des Gottes zu ergründen, prallt sie gegen eine Wand aus Schweigen und Verschwörung, an der sie zu zerbrechen droht. Es sei denn, sie reißt sie ein.
Max Gladstone: Ich habe mit der Kunstwirker-Chronik eine Saga erschaffen, die in einer postindustriellen (und Nachkriegs-) Fantasywelt spielt, wo schwarze Magie ein Riesengeschäft ist, Zauberer Nadelstreifenanzüge tragen, nekromantische Prozeduren an toten Göttern durchgeführt werden und der alltägliche Handel darauf beruht, dass Menschen Teile ihrer Seelen für Waren und Dienstleistungen eintauschen. Die Kunstwirker-Chronik-Romane sind sowohl juristische Thriller über den Glauben als auch religiöse Thriller über Justiz und Finanzen. Außerdem gibt es Polizeikräfte mit verbundenem Bewusstsein, dichtende Wasserspeier, gehirnwaschende Golems, Alptraumtelegrafen, überraschend sympathische Dämonen, weltzerstörende Magie, Umweltzerstörung und das tiefste und dunkelste Übel von allen: BAFÖG. Also, im Grunde alles wie im richtigen Leben!
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1 Das Idol würde in dieser Nacht ertrinken. »Tod voraussichtlich um halb zwei Uhr nachts«, las Kai in der Mittagspause am Schwarzen Brett im Pausenraum des Vulkans. »Alle Anfragen bitte an Mara Ceyla richten.« Eine weitere geschäftliche Mitteilung unter vielen, angepinnt zwischen einer Rekrutierungsanzeige für die Ullamal-Liga des Büros und einem rosafarbenen Plakat für ein Lunch-and-Learn über Seelenhandel im südlichen Gleb. Nur wenige bemerkten das Memo und noch weniger lasen es. Kai tat beides und nahm die Nachricht zusammen mit ihrem Sandwich zurück in ihr Büro. Schinken, Käse und Salat auf Weißbrot waren leicht verdaulich. Die Nachricht aber nicht. Kai grübelte den ganzen Nachmittag, beim Abendessen und die Nacht hindurch. Um 1:00 Uhr nachts war ihre Arbeit getan: drei Hühner geopfert – je eines auf Altären aus Silber, Eisen und Stein; ein Stapel Gewinn- und Verlustrechnungen per Albtraumtelegraf verschickt; eine Gebetslitanei auf einem Fuß balancierend gesungen; einen Vorschlag für eine Iskari-Familie ausgearbeitet, sie möge doch ihren Glauben vom hochriskanten Markt der persönlichen Auferstehung auf die verlässliche Fruchtbarkeit des Getreides verlagern. Sie schrubbte die Altäre ab, wusch sich die Hände, bürstete ihr Haar, band es zu einem Pferdeschwanz zurück und sah wieder auf die Uhr. 1:20 Uhr. Die Fenster ihres Büros führten hinaus auf den Krater. Zwei menschliche Gestalten warteten am Ufer des dunklen Beckens weit unten, in der Mitte der Grube. Obwohl sie durch die Entfernung puppenhaft wirkten, erkannte Kai ihre Umrisse. Gavin, groß und rund, spähte in die Tiefe. Mara neben ihm war eine gerade Linie mit einer leichten Biegung an den Schultern; sie schritt in engen Kreisen umher, nervös, verzweifelt und bereits trauernd. Kai hatte die Feierabendzeit längst überschritten. Der Orden schuldete ihr eine Kutschfahrt nach Hause. In dreißig Minuten konnte sie sich die Zähne putzen, und fünf Minuten später würde sie schlafen, sicher vor allem – außer ihren Träumen. Mara drehte sich um. Blieb stehen. Drehte ihren Fuß und steckte ihre Schuhspitze in gebrochene Lava. Sie vergrub die Hände in den Taschen, zog sie wieder heraus, verschränkte die Arme und öffnete sie wieder. Sie ging zum Rand des Beckens, sah hinein, schauderte, wich zurück. »Nicht mein Problem«, sagte Kai und merkte, dass sie laut zu ihrem leeren – zumindest menschenleeren – Büro gesprochen hatte. Doch die Altäre, Gebetsmühlen und Rosenkränze, Fetische und Opfermesser behielten ihre Ratschläge für sich. »Verdammt.« Sie ging den langen, einsamen Gang zum Pausenraum hinunter und stieg eine Wendeltreppe zum Kraterboden hinab, um sich der Todeswache anzuschließen. Am Fuß der Treppe zögerte sie. Sie konnte immer noch gehen. Sie hatten sie noch nicht gesehen. Von ihrem Büro aus zu gehen, wäre verständlich gewesen. Jetzt zu gehen, wäre feige. Und außerdem brauchte Mara einen Freund. Kai trat in die Nacht hinaus, ins Blickfeld. Die Klippen über ihrem Kopf umrahmten einen Himmel, der mit fremden Sternen übersät war. Kai näherte sich über Lava, die seit fünfhundert Jahren erkaltet war. Maras Füße knirschten auf Kies, als sie sich umdrehte. »Du bist gekommen.« Ihre Stimme war erleichtert und bitter zugleich. »Ich habe dich nicht erwartet.« »Wie kommst du zurecht?«, fragte Kai. »Mir geht’s gut.« Mara nippte an einem Kaffee aus einem weißen Becher mit dem schwarzen Bergwappen des Ordens. Ihre freie Hand zitterte. Sie drehte die Handfläche nach innen, dann nach außen, spreizte die Finger und sah zu, wie sie zitterten. Sie lachte und es klang wie trockenes, raschelndes Laub. »Ich wünschte, es wäre schnell vorbei. Schneller.« Kai wollte die Schulter der anderen Frau berühren, hakte aber stattdessen ihre Daumen in die Gürtelschlaufen ein. Der Wind pfiff über den zerklüfteten Rand des Kraters. Gavin schien Kais Ankunft nicht bemerkt oder aber ihr Gespräch nicht gehört zu haben. Er beugte sich über den Rand des Beckens und beobachtete das Idol, das darin starb. »Das Warten ist das Schlimmste«, sagte Mara. »Zu wissen, dass ich hilflos bin.« »Es muss doch etwas geben, das man tun kann.« Sie lachte kurz auf. »Schön wär’s.« »Dein Idol braucht nur einen Kredit. Ein paar Hundert Seelen auf Kredit, um sie am Leben zu erhalten, bis sich der Markt erholt.« »Niemand weiß, ob und wann sich der Markt erholen wird. Das macht es schwer, einen Kredit zu vergeben.« »Dann opfere ihr. Wir können uns den Seelenstoff leisten, um sie durch die nächsten Tage zu bringen.« »Schade, dass mir die Jungfrauen und Auerochsen ausgegangen sind.« »Nimm die Mittel des Ordens. Du bist Priesterin. Du darfst das.« »Jace sagt Nein.« »Hat er gesagt, warum?« »Ist das wichtig?« Sie lief wieder im Kreis herum. »Er hat Nein gesagt.« »Sich selbst die Schuld zu geben, wird nicht helfen.« »Was glaubst du, wen meine Kunden beschuldigen werden, wenn ihr Idol stirbt? Den Markt? Oder die von ihnen angeheuerte Priesterin?« Sie tippte mit dem Daumen vor ihr Brustbein. »Die Schuld wird früher oder später bei mir landen. Das kann ich genauso gut gleich, akzeptieren.« »Deine Kunden haben dem Handel zugestimmt. Sie kannten die Risiken.« »Ich frage mich, wie es sich anfühlt«, sagte Mara nach langem Schweigen. »die Hälfte seiner Seele auf einmal zu verlieren.« »Idole fühlen nicht so wie wir.« Kai wusste, dass sie das Falsche gesagt hatte. Die Sterne funkelten am schwarzen Himmel und im schwarzen Teich – unterschiedliche Sterne oben und unten, aber keine Spiegelungen. Der zertrümmerte Boden war eine dünne Hülle, die Dunkelheit von Dunkelheit trennte. Gavin wandte sich vom Becken ab und schlurfte über die Lavakiesel auf sie zu. »Es wird nicht mehr lange dauern.« Kai löste ihn am Ufer ab, beugte sich über den Rand des Nicht-Wassers und sah zu, wie das Idol ertrank. Sie war eine drahtförmige Lichtskulptur, die in der Tiefe zappelte wie ein Fisch an der Angel: weiblich, beinahe menschlich. Die Flügel flatterten. Ziegenbeine krümmten sich gegeneinander. Die Andeutung eines Mundes klaffte in etwas, das beinahe ein Gesicht war. Ihr Herz war verblasst und die Blässe breitete sich aus. Andere Idole schwammen und bewegten sich um sie herum in dem Becken. Helle Umrisse von Männern, Frauen, Tieren und Engeln tanzten durch unsichtbare Ströme, die durch Silberfäden miteinander verbunden waren. Das sterbende Idol war durch keinerlei Fäden verbunden. Mara hatte ihre Verbindungen zu den anderen bereits gekappt, damit sie sie nicht mit in den Abgrund ziehen würde, wenn sie starb. »Es ist wunderschön«, sagte Gavin. Er bewegte sich von einer Seite zur anderen, und sein Schatten schwankte, lang und breit, gebrochen durch den Boden. »Und traurig. Es sieht schön und traurig aus.« Das Idol starrte zu Kai hinauf und durch sie hindurch, verzweifelt, ertrinkend und verängstigt. Idole fühlen nicht wie wir. Kai wandte sich vom Becken ab. Menschliche Silhouetten sahen aus den Bürofenstern herüber. Neugierig genug, um zu beobachten, gefühllos genug, um Abstand zu halten. Kai war ungerecht. Nein. Sie war müde. Die Situation, die war ungerecht. Das Idol war dabei zu sterben und Maras Karriere mit sich zu reißen. »Wie ist ihr Name?«, fragte Kai. »Der Dateicode ist vierzig Ziffern lang. Ich habe sie Sieben Alpha genannt.« Mara setzte sich auf einen Stein und starrte in ihren Kaffee. »Jaces Sekretärin hat mir bereits den Papierkram geschickt. Papierkram, kannst du das glauben? Hätte ich mir denken können, aber trotzdem. Sie sterben und wir füllen Formulare aus.« Kai hätte nicht kommen sollen. Sie hätte früher gehen oder bei ihren Altären und Gebeten verweilen sollen, bis das Schlimmste vorbei war. Eine weitere Silhouette, die Mara beobachtete und die Distanz nutzte, um sich vor dem Schmerz zu schützen. Maras Verzweiflung tat weh, ebenso wie die Angst in den Augen des Idols. In den Augen von Sieben Alpha. Kai sollte zu Hause sein, eingewickelt in Laken. Aber eingewickelt fühlte sie sich hier. Die Arme an ihren Seiten festgebunden. Hilflos. Ihre eigenen Worte verhöhnten sie: Es muss doch etwas geben, was du tun kannst. Es gab etwas. »Glaubst du, sie feuern mich morgen«, fragte Mara, »oder lassen mich lange genug bleiben, um meine Sachen zu packen?« Kai zog ihre Schuhe aus. Scharfe Steine kratzten an ihren Sohlen. Sie knöpfte ihre Bluse auf. Gavin und Mara würden sie aufhalten, wenn sie sie sahen. Besonders Gavin. Aber Gavin sah nicht hin. Vielleicht sahen es die Silhouetten oben. Vielleicht rannte jetzt gerade jemand die Wendeltreppe herunter, um sie zu erwischen. Sie knöpfte schneller. »Dir wird nichts geschehen«, sagte Gavin hinter ihr zu Mara. »Das hätte jedem passieren können. Die Schulden des Strahlenden Königreichs steigen immer im Preis. Das weiß jeder. Ich habe es gewusst.« »Du bist nicht hilfreich, Gavin.« »Eines von Magnus’ Idolen ist vor sechs Monaten gescheitert und er wurde befördert. Das ist eine gute Erfahrung. Das hat Jace auch gesagt. Ein Anführer muss wissen, wie es sich anfühlt zu verlieren.« Kai hörte das Rascheln von steifer Baumwolle, als Gavin nach Maras Schulter griff, und einen antwortenden Hauch, als Mara seine Hand abschüttelte. Der letzte Knopf war offen. Der Haken an ihrem Rock folgte, genauso...