E-Book, Deutsch, 278 Seiten, E-Buch Text
Girtler Rotwelsch
3. veränderte Neuauflage 2019
ISBN: 978-3-205-23275-9
Verlag: Böhlau
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die alte Sprache der Gauner, Dirnen und Vagabunden
E-Book, Deutsch, 278 Seiten, E-Buch Text
ISBN: 978-3-205-23275-9
Verlag: Böhlau
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Alte Wörterbücher des Rotwelsch
Die deutsche Gaunersprache, die auch in die Wiener Gaunersprache eingeflossen ist, fand schon früh nicht nur das Interesse von Kriminalisten, Polizisten, Vögten und anderen Spezialisten, sondern auch das von ehrenwerten Leuten, die ein literarisches und sogar akademisches Vergnügen beim Studium dieser alten Sprache empfanden; als Beispiel sei der Sprachwissenschafter Kluge genannt, von dem eine ganze Sammlung von Rotwelsch-Texten stammt (Kluge, 1901).
Ich habe schon darauf hingewiesen, daß bereits im 13. Jahrhundert die Sprache der Gauner, das Rotwelsch, erwähnt wurde. In der Folge erschienen immer wieder Bücher mit Vokabularien der Gaunersprache, wie die Wiener Bettlerordnung von 1443, deren offensichtlicher Zweck es war, den Organen der öffentlichen Ordnung, also den Vögten und der Polizei, behilflich zu sein, Bettler und Fahrende verstehen und besser kontrollieren zu können. Im Jahr 1488 erschien eine Schrift des Zürcher Ratsherrn Gerold Edlibach mit dem Titel »Hie stat fokabel des rotwelsch«, in welcher neunundfünfzig Rotwelsch-Wörter enthalten sind.
Das vielleicht spannendste Buch zum Thema Rotwelsch dieser Zeit ist das um 1450 veröffentlichte »Baseler Rathsmandat wider die Gilen und Lamen«. Es erzählt von einer gut durchorganisierten Gaunergilde, die sich auf dem Kolenberg bei Basel eingenistet und dort sogar ihre eigene Gerichtsbarkeit ausgeübt hatte.
Der Begriff »Gile« verweist vielleicht auf die Sitte damaliger Bettler, sich die Haut mit Lehm zu beschmieren, um ein gilbes (!), fahles krankes Aussehen vorzutäuschen, das ihnen wohl das Betteln erleichtern sollte (s. Landmann, a. a. O., S. 418f.). Mit Rotwelsch befaßt sich auch Sebastian Brant in seinem 1494 herausgegebenen »Narrenschiff«. In einem speziellen Kapitel zitiert Brant unter der Überschrift »Von Bettlern« eine Reihe von Rotwelsch-Wörtern, mit denen er das Leben der Bettler und Gauner malerisch beschreibt. Es heißt da auszugsweise (in den Klammern sind meine Übersetzungen festgehalten):
»... Da treiben sie ihr Bubenwerk.
Ihr Rotwelsch (!) sie im Terich (im Lande) haben,
Ernährn bequem sich von den Gaben;
Jeder Stabil (Brotsammler) ein Hornlütem (Zuhälterin) hat,
Die foppt (lügt), färbt (betrügt), ditzet (stellt sich krank) durch die Stadt,
Wie sie dem Predger (Bettler) Geld gewinne,
Der lugt, wo sei der Johann grimme (wo der Wein gut sei),
Und läuft durch alle Schöchelboß (Wirtshäuser, boß = bais: Haus),
Wo Rübling junen (Würfel spielen) ist recht los;
Hat er besevelt (beschissen) hier und dort,
So schwänzt (macht sich davon) er sich dann wieder fort,
Veralchend (wandernd) über den Breithart (die Heide)
Stiehlt er die Breitfüß (Gänse) und Flughart (Hühner).«
Über die Tricks der Bettler weiß Brant dies zu berichten:
»... Bettler bescheißen jetzt alle Land ...
Der geht auf Krücken im Tageslicht,
enn er alleine ist, braucht er sie nicht;
Dieser kann fallen (wie ein Epileptiker) vor den Leuten,
Daß jedermann möcht auf ihn deuten;
Der borget andern die Kinder ab,
Daß er einen großen Haufen hab,
Belädt einen Esel schwer,
Als wenn er St. Jakobs Pilger wär.
Der geht hinkend, daß er sich muß bücken.
Der bindet sich ein Bein auf Krücken ...«
(Brant, 1494, 1964, S. 223f.)
Die hier angeführten Überlebenstricks sind bisweilen heute noch auf den Straßen zu beobachten.
Das berühmteste Buch, das über die Gaunersprache Auskunft gibt, ist der »Liber Vagatorum«, das Buch der Vaganten, welches angeblich auf in Basel durchgeführten Verhören von Ganoven aufbaut. In diesem Buch findet sich nicht nur ein Vokabular der Gaunersprache, sondern auch eine sehr genaue Darstellung der Strategien und Tricks von Bettlern und Ganoven, um ihr Handwerk wirkungsvoll ausüben zu können. Einige dieser Tricks werden, wie ich selbst erfahren konnte, heute noch angewandt. Der »Liber Vagatorum« erschien erstmals um 1510. Der Ausdruck Vagant ist darin sehr weit gefaßt, denn zu den Vaganten zählten auch die herumziehenden Studenten und Magistri und nicht nur Bettler, Gaukler und Gauner. Dieser »Liber Vagatorum« enthält ein Vokabular des Rotwelsch, das sich fast ausschließlich auf jenes des »Baseler Rathsmandats« stützt. Allerdings wurden einige Wörter falsch abgeschrieben oder falsch verstanden, sodaß der »Liber Vagatorum« gegenüber seinem Vorbild eher eine Verschlechterung darstellt. Aber das »Buch der Vaganten« wurde weithin bekannt. 1528 wurde es, diesmal unter dem deutschen Titel »Von der falschen Bettler und Büberei«, noch einmal herausgegeben, und zwar von keinem Geringeren als von Martin Luther, der gegenüber dem fahrenden Volk, den Bettlern und Gaunern eine gehörige Abneigung gehabt zu haben scheint. Davon kündet die Einleitung, in der Luther unter anderem sinngemäß wünscht, daß dieses »Büchlein« überall bekannt werden solle, damit man sehe, wie der »Teufel« – womit das Volk der Bettler und Gauner gemeint ist – in der Welt »gewaltig« regiere. Dieses »Büchlein«, also der »Liber Vagatorum«, solle helfen, klug zu werden, um sich vor den Vaganten in acht nehmen zu können. Luther wollte also offensichtlich durch diese Schrift über die »Vaganten« dem »guten Bürger« die Augen für die Tricks und die Sprache dieser Leute öffnen. Sein Zorn gegen das fahrende Volk muß beträchtlich gewesen sein, denn er hält auch fest: »Ich bin selbst dieses jahr also beschissen ... von solchen lantstreichern und zungendreschern mer (mehr) denn ich bekennen will.« Luthers Haltung, mit der er vor dem Bettler- und Gauklervolk warnen will, entspricht dem aufkommenden Protestantismus mit seiner Vorstellung von der gottgefälligen Arbeit.
In geradezu romantischer Weise greift über dreihundert Jahre später A. H. Hoffmann von Fallersleben, der Verfasser von Kinderliedern wie »Kuckuck, Kuckuck ruft’s aus dem Wald«, und »Ein Männlein steht im Walde« sowie des »Deutschlandliedes«, auf den »Liber Vagatorum« zurück und bekundet seine Sympathie für das Rotwelsch.
So schreibt Hoffmann in seinem 1854 herausgegebenen »Weimarschen Jahrbuch« unter dem Titel »Rotwelsch« mit einem Wohlgefallen, das auf den alten Freigeist hindeutet, folgendes: »Rotwelsch ist die Sprache der Räuber, Diebe, Gauner, Landstreicher und Bettler. Rot bedeutet im Rotwelsch Bettler ... Diese Sprache ist ein wunderliches Gemisch von Wörtern aus allerlei Sprachen, zumal aus der hebräischen und den romanischen, zu denen noch viele neue selbstgeschaffene deutsche Wörter hinzugekommen sind, so wie alte, mit denen neue Begriffe verbunden werden.« Mit diesen Sätzen beginnt er seine Überlegungen zur Sprache der Ganoven und verweist in der Folge auf frühere Aufzeichnungen darüber. So erfahren wir, daß bereits im 15. Jahrhundert ein Dithmar von Meckebach, »Canonicus und Canzler des Herzogthums Breslau unter Karl IV.«, sich um die Erklärung von Gaunerworten bemühte.
Hoffmann von Fallersleben überlegt weiter: »Dieses Rotwelsch ist ein Mischmasch, ein echtes Kauderwelsch, eine wahre Spitzbubensprache, das kann niemand leugnen, aber es verdient dennoch alle Beachtung von Jedem, der sich für Sprachforschung und Sittengeschichte interessiert.« (Hoffmann von Fallersleben, 1854, S. 328ff.)
Von den Beispielen aus der Gaunersprache, die Hoffmann aus alten Quellen anführt, sind für das Studium der heutigen Gaunersprache vor allem folgende interessant: »Bohnen« für Bleikugel, »Fuchs« für Gold, »Kies« für Silbergeld, »Kohl« für Erzählung, »Lutscher« für Zucker, »schmollen« für scherzen, »tippeln« für gehen und »acheln« für essen.
Seine Betrachtungen über das Rotwelsch verbindet Hoffmann mit einem Gedicht, das er selbst in der Gaunersprache verfaßte (ich komme später noch darauf zurück).
Zwei Jahre später, also 1856, bringt Hoffmann in den »Weimarschen Jahrbüchern« einen vollständigen Abdruck des »Liber Vagatorum«. Auch davon wird noch die Rede sein. So zeigt Hoffmann von Fallersleben deutlich die Verbindung von alter Gaunerkultur und alter Gaunersprache auf.
Ein besonderes Interesse an der Gaunerwelt und deren Sprache hatte allerdings schon vor Hoffmann von Fallersleben im ausgehenden 18. Jahrhundert ein gewisser Jakob Schäffer, der als »erfolgreichster Räuberfänger seiner Zeit« bezeichnet wird und der erste moderne Kriminalist Württembergs gewesen sein soll (siehe dazu auch bei Rothfuss, 1997).
Ich meine daher auch, daß das 1793 anonym erschienene Buch »Abriß des Jauner- und Bettelwesens in Schwaben« von diesem Schäffer stammt. In dem Titel des Buches heißt es lediglich zum Autor, ohne seinen Namen zu nennen: »Von dem Verfasser des Konstanzer Hanß«. Ich wage meine Behauptung, obwohl auch das Buch, das von diesem »Konstanzer Hanß« kündet, anonym erschienen ist. Allerdings stehe ich da in Widerspruch zu dem schwäbischen Schriftsteller Rothfuss, der behauptet, der Verfasser dieses Buches über den »Konstanzer Hanß« und damit auch des »Abrisses des Jauner- und Bettelwesens in Schwaben« sei ein Waisenhauspfarrer, und zwar ein gewisser Johann Ulrich Schöll, gewesen, der gute Kontakte zu dem Konstanzer Hanß gepflogen haben soll (a. a. O., S. 33).
Ich selbst besitze ein Original des Buches »Abriß des Jaunerund Bettelwesens in Schwaben« aus dem Jahre 1793. In diesem vergilbten Buch steht auf der Titelblattseite neben den Worten »von dem Verfasser des Konstanzer Hanß« in alter Schrift und in Klammer gesetzt der Name »G. J. Schäffer« (siehe Abb. 1).
Abb. 1: Das im Besitz des Autors befindliche Exemplar des Werkes »Abriß des Jauner- und...