Giovinazzo Piss in den Wind
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-927734-53-1
Verlag: PULP MASTER
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 26, 272 Seiten
Reihe: Pulp Master
ISBN: 978-3-927734-53-1
Verlag: PULP MASTER
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
James Gianelli fristet ein beschauliches Dasein als College-Dozent für Fotografie. Als ihn seine langjährige Freundin Karen verlassen will, bekommt der psychisch labile James einen psychotischen Anfall. Als er wieder zu sich kommt, liegt Karen mit Würgemalen am Hals tot neben ihm. Überzeugt davon, sie getötet zu haben, entsorgt er ihre Leiche an einem entlegenen Pier und scheint damit sogar durchzukommen. Doch James ist nicht der Typ, der lange allein sein kann. Als die hübsche Dominique auftaucht, fangen die Probleme erst richtig an, denn sie ist nicht nur ultra-cool, sondern irgendwie auch ultra-tot ...
Nach seinem grandiosen Roman Potsdamer Platz führt uns Buddy Giovinazzo mit einer Tour de Trance zu den Abgründen der menschlichen Seele, in den Bereich zwischen Traum und Wirklichkeit, der der Liebe immer die Dimension des Verhängnisvollen gibt.
Buddy Giovinazzo wurde 1960 geboren und wuchs in Staten Island, New York auf. Er ist Autor und Filmemacher und lebt inzwischen in Los Angeles und Berlin. Für die ARD hat er als Regisseur mehrere Folgen Polizeiruf 110 und Tatort abgedreht, 2007 hat er in LA sein erstes Buch Cracktown verfi lmt, das demnächst bei uns neuaufgelegt werden wird. Bei Pulp Master erschien 1996 Poesie der Hölle, Broken Street im Jahr 2000 und 2004 Potsdamer Platz.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Prolog Meine Geschichte ist eine Geschichte des Wahnsinns. Dabei hielt ich mich seinerzeit nicht im Entferntesten für wahnsinnig, nicht einmal für leicht gestört. In der Tat, ich betrachtete mich als aufrechten, hart arbeitenden Bürger, respektiert von den Kollegen, immer eine freundliche Begrüßung auf den Lippen oder ein aufrichtig klingendes »Mach’s gut«. Das, was man gemeinhin als enge Freunde bezeichnet, gab es nicht, doch hätte es sie gegeben, sie hätten in mir einen umgänglichen, durch und durch angenehmen Zeitgenossen gesehen. Insofern unterschied ich mich nicht von Tausenden anderer gefährlicher Schizophrener. Abgesehen von meiner ganz persönlichen, seltsamen Macke. Bestimmte Geisteszustände schaffen sich ihre eigene Realität, eine Komfortzone der Täuschung, wo das Glas immer halb voll ist, die Aktien steigen werden und morgen alles besser wird. Meine Wirklichkeit, eingehüllt in einen Nebel, so penetrant wie das Parfum einer Hure, war ein Ort, wo oben unten bedeutete, weiß schwarz und — konsequenterweise — falsch richtig. So war die Region beschaffen, wo ich viele schwierige Jahre verbrachte. Wenn ich jetzt, fast zwanzig Jahre später, daran zurückdenke, kommt es mir irgendwie lustig vor, obwohl es mit Sicherheit nicht zum Lachen ist. Der Tod eines unschuldigen Menschen ist niemals zum Lachen. Doch wenn man bedenkt, was heutzutage als normales Verhalten durchgeht, in den Reality-Shows im Fernsehen und bei den üblichen Verdächtigen, die sich als Promis ausgeben, in den zwischenmenschlichen Wegwerf-Beziehungen, die manipuliert, ausgebeutet und dann entsorgt werden wie Lottoscheine von letzter Woche, dann war ich wahrscheinlich auf eine bizarre Art und Weise meiner Zeit voraus. Wie bei den meisten Fällen von Wiedergeburt oder Rehabilitation begann der zweite Akt meines Lebens im Anschluss an einen veritablen Absturz. Ich musste ganz unten ankommen, musste alles verlieren, was offen gestanden damals keine nennenswerte Summe war, doch es war alles, was ich besaß, und ich musste es verlieren, um wieder gesund zu werden; es mag Leute geben, die würden sagen, dieses Ziel sei nie erreicht worden. Doch in dieser Geschichte geht es nicht um meine Exfrauen oder mein heutiges Leben. Und ihren Anfang nimmt diese Geschichte in einem Haus am Meer. I Karen ging von einem Ende des Wohnzimmers zum anderen, angespannt, nervös, hielt sie Ausschau nach den letzten Dingen, die sie vielleicht vergessen haben könnte einzupacken. Ich saß auf der Couch und beobachtete sie: kurzes, braunes Haar und eine kecke Stupsnase, Wangen mit Sommersprossen und einen bockigen, entschlossenen Zug um den Mund; wäre Huckleberry Finn ein Mädchen gewesen, er hätte ausgesehen wie Karen. Die Rückseite des Hauses ging auf den Ozean hinaus. Das Rauschen des Meeres war ebenso Teil der Räume wie die Wände, die sie zusammenhielten. Salzwasser klatschte gegen den Strand und am bewölkten Himmel kreischten Möwen, der Wind heulte in ohnmächtiger Angst. »Mir will es noch immer nicht in den Kopf ... weshalb kannst du nicht bis September warten?«, sagte ich, und während mir der Satz über die Lippen kam, wurde mir auch schon bewusst, wie dumm er klang. Sie sah mich an. »Fängst du wieder damit an?« »Nein. Ich habe nur eine Frage gestellt.« »Ich habe mich entschieden, und glaube mir, es ist das Beste für uns beide.« Sie hatte völlig recht; unsere Beziehung war nun schon seit einem Jahr beendet und außer der täglichen Routine verband uns nichts mehr miteinander, dennoch, der Gedanke, allein zu sein, ging mir ziemlich an die Nieren. Ich hatte mich an Karens Gegenwart gewöhnt, so wie an ein Paar alter Jeans, das man zwar seit Jahren nicht getragen hatte, aber mit wohligem Gefühl sicher in der untersten Schublade verwahrt wusste. Ohne Frage, ich wünschte mir inständig, dass sie endlich aus dem Haus verschwände, ich konnte nur nicht ertragen, sie gehen zu sehen. Karen ging zum Bücherregal, wo zwei Reihen CDs standen, die Interpreten alphabetisch geordnet. Sie zog drei aus der S-Sektion heraus. »Die beiden hier hatte ich schon, als ich eingezogen bin«, sagte sie. »Und die Simon & Garfunkel haben wir zusammen gekauft, aber sie hat dir nie gefallen.« Ich fühlte mich genötigt, etwas zu erwidern, irgendetwas, was den Kommunikationskanal zwischen uns offen hielt. »Mir gefallen Simon & Garfunkel.« »Du hast sie nie gehört, und außerdem nehme ich den CD-Player mit.« Sie packte die CDs in einen Schuhkarton nahe der Tür und ging ins Schlafzimmer. Rund um die Couch standen Kartons, es sah aus wie ein Planwagentreck unter Attacke, dazu Plastiksäcke voll mit Kleidung, die den Eingang zur Küche blockierten. Und ich saß mittendrin und konnte nur staunen: Wann hatte sie eigentlich das ganze Zeug angeschafft? Vor zwei Jahren war sie mit zwei Taschen und einem Koffer eingezogen. Jetzt zog sie aus mit einer ganzen Wagenladung von Sachen. Wir hatten uns geeinigt, den Großteil dessen, was wir zusammen gekauft hatten, unter uns aufzuteilen; sie würde den Fernseher und die Stereoanlage bekommen, dazu den Videorekorder und die Mikrowelle. Ich behielte die Waschmaschine, die Küchengeräte und die Möbel. Und natürlich auch die Fotoausrüstung. Ich ging zu meinem Schreibtisch, ordnete Stifte und Papiere symmetrisch an, arrangierte die Modemagazine auf dem Couchtisch zu einem Fächer und sah mich um, was ich sonst noch so ordnen könnte, irgendetwas, was meinen Verstand beschäftigte und das Pochen in meinem Schädel verhinderte, als mir urplötzlich auffiel, wie leer die Räume wirkten. Nicht durch einen Mangel an Gegenständen, sondern an Persönlichkeit. Ihrer, Karens, Persönlichkeit. Soweit ich mich erinnern konnte, war mir das Apartment nie so leer erschienen, seit ich es vor fünf Jahren gemietet und natürlich ebenso lange darin gewohnt hatte. Nur eine Frau kann bei ihrem Auszug diesen Effekt auf eine Wohnung erzielen. Zieht ein Mann aus, kommt es einem sauberer vor, größer. Doch eine Frau lässt Leere zurück. Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Die schlaflosen Nächte hatten mir zugesetzt. Meine Haut war blass und irgendwie ausgeleiert und unter den Augen saßen dunkle Tränensäcke. Kein Wunder, dass Karen mich verließ. Zum ersten Mal entsprach mein Konterfei dem, was ich war: ein Mann mittleren Alters. Ich öffnete den Arzneischrank und stieß auf ein Durcheinander aus Fläschchen und Röhrchen. Karen konnte nichts anfassen, ohne ein Chaos zu inszenieren. Ich schluckte zwei Aspirin, dann stellte ich die Fläschchen der Größe nach auf, die Etiketten nach vorn, damit man sie lesen konnte. Ich betrat das Wohnzimmer, sank auf das Sofa und sah Karen zu, wie sie hin- und herging, Kartons unterschiedlicher Größe in den Händen, die sie neben der Tür stapelte — Kartons mit Kleidung, Kartons mit Schuhen, Kartons mit weiß der Teufel was. Wir wechselten kein Wort miteinander, keinen Blick, da war nichts zwischen uns, nur Geschäftigkeit; geschäftig das eigene Leben fortführen und das Vergangene fortschaffen. »Würdest du mir helfen, die Sachen im Wagen zu verstauen?«, fragte sie mit einem kalten Glitzern in den Augen. Es war etwas Roboterhaftes an ihr, wie sie so dastand, regungslos, fast metallisch. Verdammt! Wie konnte mir diese Frau so fremd sein? Sie hatte mich mal geliebt. Sie hatte mir das tausendmal gesagt! Was war geschehen? Was nur hatte ich getan, dass ihr diese Gefühle abhandengekommen waren? »Was ist jetzt?«, fragte sie und schnappte sich einen weiteren Karton. Ich half ihr, das Ding zu ihrem Kombi zu tragen, einem 82er Chevy mit Holzverkleidung, den sie von ihrem Vater geerbt und den zu verschrotten sie sich immer geweigert hatte, egal, wie oft er in den Streik getreten war. Nach siebenmaligem Rein und Raus, mit nicht mehr Kommunikation zwischen uns als dem einen oder anderen »entschuldige«, war das meiste verladen und ich ging ins Schlafzimmer. Ihre gesamte Garderobe war eingepackt und der Schrank somit leer, bis auf die Kleiderbügel, die wie kleine metallene Skelette in der hereinwehenden Brise träge vor sich hin klapperten. Ich ging hinüber und verteilte sie gleichmäßig über die Kleiderstange, diese meine drahtigen Brüder, immer mit einem Abstand von fünf Zentimetern, als ich plötzlich einen Anflug von Unbehagen verspürte. Nach all der Zeit. »Er ist nicht im Kleiderschrank, oder?« Es war die dünne Fistelstimme meines Vaters, die vom Wohnzimmer herüberdrang. Die ausdruckslose Oboe meiner Mutter erklang als Kontrapunkt: »Nein. Er sitzt auf seinem Bett.« Ein kleiner Junge sah mich vom Bett aus an, das Gesicht gerötet und geschwollen vom Weinen. Ich konnte hören, wie meine Eltern im Nebenzimmer miteinander stritten, bis Karen zurück in das Apartment kam und nach mir rief. Sie setzte sich zu mir aufs Bett, legte etwas neben meine Hand. »Ich wollte dir nur den Schlüssel geben«, sagte sie und ihre Stimme klang ungleich freundlicher als noch vor einer Minute. »Hast du alles?«, fragte ich. »Ja, ich glaube schon.« Die Brise vom Hafen erzeugte eine Gänsehaut auf meinen Unterarmen. Meine Kehle war wie zugeschnürt, mein Magen verknotete sich und ich wusste, der gewisse Augenblick war zum Greifen nah. Ich...