Giles | Tote Mädchen schreiben keine Briefe | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Giles Tote Mädchen schreiben keine Briefe


11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-522-62048-2
Verlag: Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-522-62048-2
Verlag: Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Sunnys Schwester Jazz ist tot. Doch dann taucht eine junge Frau auf, die aussieht wie Jazz, spricht wie Jazz und sogar die Erinnerungen der Familie teilt. Sunnys Eltern glauben an ein Wunder. Sunny aber weiß: Das ist nicht ihre tote Schwester! Psychogramm einer zerstörten Familie. Ab 12 Jahren.

Gail Giles, die ehemalige High-School-Lehrerin, hat bereits mehrere preisgekrönte Jugendromane zu brisanten, stets unter die Haut gehenden Themen veröffentlicht. In den USA gilt sie als die 'Queen of Thrillers for Young Adults' (Publisher´s Weekly). Ihre unblutigen, subtil erzählten Plots leben von dem Talent der Autorin, das Dunkle in uns ans Licht zu holen und gekonnt mit unseren Ängsten und Fantasien zu spielen. Die Bücher von Gail Giles erscheinen in Australien, Dänemark, Großbritannien, Kanada, den Niederlanden und den USA.
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Während ich Schwierigkeiten habe, mich als Teil meiner Familie zu fühlen, verspüre ich eine Verbundenheit mit unserem Haus.

Es ist ein altes Farmhaus, ein Gebäude ohne Schnickschnack. Mit Ziegelböden, Stirnholz-Arbeitsplatten in der Küche und einem altmodischen Metallregal mit Dads Kochbüchern aus seiner Gourmetphase. Die Schränke haben Glastüren und mir macht es, ehrlich gesagt, sogar Spaß, sie blitzblank zu halten. Abspülen und Putzen beruhigen mich. Oder vielleicht genieße ich es einfach, dass bei dieser Arbeit ein Ergebnis zu sehen ist.

Ich stand an der Spüle, wo ich Tomaten aushöhlte und mit Thunfischsalat füllte. Ich legte Cracker auf den Teller, ließ Eiswürfel in die Gläser fallen und goss Tee ein. Mom starrte niedergeschlagen auf ihren Teller.

»Jazz hat immer einen Stängel Minze in den Tee getan.« In ihrer Stimme schwang eine Mischung aus Wehmut und Kritik.

Meine Kiefermuskeln verkrampften sich. Ich öffnete den Mund und bewegte den Unterkiefer hin und her. Eine Entspannungsübung, die mir mein Zahnarzt beigebracht hatte, weil meine Kiefermuskeln mit Krämpfen auf Stress reagieren. Ich bekomme davon Kopfschmerzen, die sich wie ein Schraubstock anfühlen.

»Ja, Mom. Ich erinnere mich.«

»Jazz hatte so ein gewisses Händchen. Alles, was sie tat, war … ich weiß nicht … etwas Besonderes.«

»Jaha, etwas Besonderes. Versuch, was zu essen, Mom.«

»Es gab nichts, was Jazz nicht konnte.« Nee, nicht mal sterben, dachte ich.

Ich sah Mom kurz dabei zu, wie sie ein Massaker auf ihrem Teller anrichtete, dann stapfte ich wieder nach oben. Dort holte ich den gelben Umschlag aus meiner Tasche und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die Schrift. Irrtum ausgeschlossen. Das war Jazz’ Handschrift. Lockere, fließende, großzügige Schwünge auf Papier, wie eine Pferdemähne im Wind.

Irgendetwas hielt mich davon ab, den Brief zu öffnen. Ich hatte ein ungutes Gefühl. Ich beschloss, mich an das Vogel-Strauß-Prinzip zu halten, das unser Familienleben beherrschte.

»Also«, erklärte ich den Wänden meines Zimmers, »wenn der Brief so lange gewartet hat, kann er auch noch ein bisschen länger warten.« Ich klemmte den Umschlag in mein Synonymwörterbuch und polterte die Treppe hinunter.

»Ich komme zu spät. Iss auf, Mom, und versprich mir, dass du dich danach anziehst!«, rief ich, während ich die Fliegengittertür aufstieß und das Haus verließ.

Ich wartete nicht auf eine Antwort.

Der restliche Tag glitt an mir vorüber. Ich zwang mich in einen Zustand selektiver Amnesie, was den Brief, Mom und Jazz anging.

Den Nachmittagsunterricht verbrachte ich abgekapselt und allein. In kleinen Städten wie Angleton war eine Tragödie der direkte und sichere Weg, um berühmt zu werden. Berühmtberüchtigt trifft es vielleicht besser. Die Leute behandelten mich, als ob ich sie mit dem Unglücksvirus anstecken könnte, dann wieder trieften sie vor Selbstzufriedenheit, weil die Kugel sie gerade noch einmal verfehlt und stattdessen mich getroffen hatte.

In der Schule war ich, wie überall, Jazz Reynolds’ kleine Schwester. Nie Sunny Reynolds. Ich hatte ein paar Schulfreundinnen, bevor Jazz starb, aber keine engen Freundinnen. Ich schloss nicht leicht Freundschaften. Na ja, ich schloss überhaupt keine Freundschaften. Da ich mit einer Meisterin der Manipulation und Hinterlist lebte, fiel es mir schwer, irgendjemandem mein Vertrauen zu schenken.

Bücher waren meine besten Freunde. Sie sind da, wenn du sie brauchst, und wenn du sie zuklappst, bleiben sie geschlossen.

Was die Lehrer angeht, so war ich für sie vor Jazz’ Tod – V.J.T. – eine einzige Enttäuschung: Jazz war Seide und ich war billiger Polyester, von der Sorte, die auf der Haut juckt und einen schwitzen lässt.

Nach Jazz’ Tod – N.J.T. – wurde ich mit Samthandschuhen angefasst. Die Lehrer schlichen vorsichtig um mich herum, erwähnten die Tragödie mit keinem Wort und fragten sich, was sie wohl tun sollten, falls ich bei ihnen im Unterricht plötzlich austicken würde.

Einmal hörte ich zufällig eine Unterhaltung zwischen zwei meiner Lehrer mit, als sie mit ihren fleckigen Kaffeetassen den Gang entlangschlenderten. Auf einer der Tassen stand: DIE DREI BESTEN DINGE AM UNTERRICHTEN: JUNI, JULI, AUGUST.

»Das Reynolds-Mädchen war wirklich begabt. Was für ein tragischer Tod.«

»Ich habe gehört, ihre Überreste konnten nicht identifiziert werden. Da war nur Asche.«

»Und die arme Mutter ist zusammengebrochen.«

»Und dann der Vater. Das einzige Mal, dass er nüchtern wurde, war, als er im Knast das Bewusstsein verlor.«

»Er war so ein guter Journalist. Die Zeitung ist nicht mehr dieselbe ohne seine Kolumnen.«

»Die kleine Schwester ist nicht annähernd so intelligent wie Jazz, was?«

»Nein, und dann auch noch so unscheinbar.«

Sie gingen auseinander, ohne bemerkt zu haben, dass ich hinter ihnen war, und eilten in die nächste Unterrichtsstunde, um Unterlagen und weise Worte auszuteilen.

Ich konnte mich nie entscheiden, was ich mehr hasste: die Schule oder mein Zuhause.

Mom schlief, als ich heimkam. Ich deckte sie mit einer gehäkelten Decke zu, schaltete den Fernseher ein und sah mir die Nachrichten an. Ich liebe den Reporter mit dem falschen weißen Haar. Wenn etwas falsch ist, will ich, dass man das auch sieht. Er bringt so Geschichten über superschicke Restaurants, bei denen Ratten und Kakerlaken und jede Menge anderer Ekelkram in der Küche gefunden wurden.

Später machte ich eine vegetarische Gemüsesuppe in der Mikrowelle warm und aß sie, während ich ein Gedicht von Edgar Allan Poe las, mit dem wir uns als Hausaufgabe für Englisch beschäftigen sollten. Es hieß Annabel Lee und handelte von einem Mann, der sein Leben ruinierte, weil er nicht über den Tod eines Mädchens hinwegkam.

Wetten, dass Annabel Lee keine Briefe geschrieben hat?

Ich klappte das Buch zu. Anschließend wusch ich Teller und Löffel ab und setzte mich wieder vor den Fernseher. Ich zappte durch die Programme auf der Suche nach einem Horrorfilm oder irgendeiner Enthüllungsstory, aber ich musste mich mit Sitcoms begnügen, in denen reizende kleine Kinder reizende kleine Geschichten in reizenden Familien erlebten. Meine Augen wurden schwer und ich beschloss, dass es Zeit war, schlafen zu gehen.

Statt Mom zu wecken, holte ich ein Kopfkissen von oben, schob es ihr unter den Kopf und stopfte die leichte Decke um sie herum fest.

»Das Baby schläft, die Küche ist sauber und die Hausaufgaben sind erledigt.« Mit einem tiefen Seufzer ging ich nach oben. Ich hatte es so lange wie irgend möglich hinausgezögert. Ich musste Jazz’ letzte Worte lesen.

In meinem Zimmer setzte ich mich auf das Bett und holte den Brief aus dem Wörterbuch. Ich drehte ihn hin und her und klopfte damit gegen meine Handfläche. Dann ließ ich ihn auf das Bett fallen.

Zuerst würde ich baden. Die altmodische Badewanne, so eine auf Löwentatzen, die einen großen Ball umklammern, war tief und das heiße Wasser, das meine Haut rötete, als ich hineinglitt, linderte die Furcht, die in mir hochkroch. Ich lockerte meinen Kiefer, ließ den Kopf kreisen und dehnte die verspannte Schultermuskulatur. Ich krümmte und streckte die Zehen, während ich Shampoo in meinem Haar verteilte. Das Haarewaschen war nur ein Vorwand, um meinen Kopf zu massieren. Das heiße Wasser und die knetenden Bewegungen der Finger sorgten dafür, dass sich die Kopfhaut entspannte und glatt über Stirn und Schläfen legte. Ich blieb in der Badewanne, bis das Wasser kalt wurde, trocknete mich dann schnell ab und wickelte mir das Handtuch um die Haare. Aus dem Schrank im Badezimmer holte ich ein langes T-Shirt und zog es über den Turban auf meinem Kopf, bevor ich das Handtuch löste und damit das Haar trocken rubbelte. Anschließend arbeitete ich mich mit einem grobzinkigen Kamm durch meinen glatten, kinnlangen Bob und fertig.

Ich ging immer in dieser Reihenfolge vor. Listen, feste Abläufe und Gewohnheiten waren mein Leben. Veränderung und Chaos kamen für mich von einem anderen Stern.

Ich schaltete die Nachttischlampe an, löschte das Deckenlicht, glitt unter das weiche Baumwolllaken, rückte die Kopfkissen zurecht und starrte auf den gelben Umschlag. Ich trommelte mit den Fingern auf das Papier. Schließlich riss ich den Brief an der oberen Kante auf und faltete die Seiten auseinander. Das Erste, was mir ins Auge stach, war das Datum. In Jazz’ unverwechselbarer Handschrift stand da: 20. Mai.

Das war unmöglich. Jazz starb im Februar. Wie konnte sie jetzt, im Mai, erst vor vier Tagen, einen Brief geschrieben haben?

Liebe Mom, lieber Dad, liebe Sunny,

Ihr seid sicher geschockt, diesen Brief hier zu erhalten. Ich freue mich, wie Mark Twain schreiben zu können: »Der Bericht über meinen Tod wurde stark übertrieben.« Ich sollte wahrscheinlich nicht so leichtfertig mit dieser Nachricht umgehen, aber ich weiß ganz ehrlich nicht, wie ich meiner Familie die Neuigkeit verkünden soll, dass ich doch nicht tot bin.

Ich habe mich entschieden, Euch zu schreiben statt anzurufen, und hoffe, dass der Schock so weniger schlimm sein wird.

Folgendes ist passiert: Meine Mitbewohnerin und ich kamen nicht gut miteinander klar. Es war ein ständiges Gekeife und Gestreite. Eine Freundin erzählte mir, sie könne mir einen Job bei einem Theaterensemble in Vermont vermitteln. Die zweite Besetzung der Hauptrolle hatte eine Nasenoperation und deshalb waren Umbesetzungen nötig. Es ging um ein Engagement von ungefähr zehn Wochen. Ich...


Giles, Gail
Gail Giles, die ehemalige High-School-Lehrerin, hat bereits mehrere preisgekrönte Jugendromane zu brisanten, stets unter die Haut gehenden Themen veröffentlicht. In den USA gilt sie als die „Queen of Thrillers for Young Adults“ (Publisher´s Weekly). Ihre unblutigen, subtil erzählten Plots leben von dem Talent der Autorin, das Dunkle in uns ans Licht zu holen und gekonnt mit unseren Ängsten und Fantasien zu spielen.
Die Bücher von Gail Giles erscheinen in Australien, Dänemark, Großbritannien, Kanada, den Niederlanden und den USA.



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