E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Gier Saphirblau
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-401-80000-4
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Liebe geht durch alle Zeiten (2):
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-401-80000-4
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Prolog London, 14. Mai 1602 Es war dunkel in den Gassen von Southwark, dunkel und einsam. Gerüche von Algen, Kloake und totem Fisch lagen in der Luft. Er drückte ihre Hand unwillkürlich fester und zog sie weiter. »Wir wären besser wieder direkt am Fluss entlanggegangen. In diesem Gassengewirr kann man sich ja nur verlaufen«, flüsterte er. »Ja und in jedem Winkel lauert ein Dieb und ein Mörder.« Ihre Stimme klang vergnügt. »Herrlich, oder? Das ist tausendmal besser, als in diesem stickigen Gemäuer herumzusitzen und Hausaufgaben zu machen!« Sie raffte ihr schweres Kleid und eilte weiter. Unwillkürlich musste er grinsen. Lucys Talent, in jeder Lage und zu jeder Zeit der Sache etwas Positives abzugewinnen, war einzigartig. Selbst das sogenannte goldene Zeitalter Englands, das seinen Namen im Moment Lügen strafte und ziemlich finster daherkam, konnte sie nicht schrecken, eher im Gegenteil. »Schade, dass wir nie mehr als drei Stunden Zeit haben«, sagte sie, als er zu ihr aufschloss. »Hamlet hätte mir noch besser gefallen, wenn ich ihn nicht in Fortsetzungen hätte anschauen müssen.« Geschickt wich sie einer ekligen Schlammpfütze aus, zumindest hoffte er inständig, dass es Schlamm war. Dann machte sie ein paar ausgelassene Tanzschritte und drehte sich einmal um die eigene Achse. »So macht Bewusstsein Feige aus uns allen… war das nicht großartig?« Er nickte und musste sich zusammenreißen, um nicht schon wieder zu grinsen. In Lucys Gegenwart tat er das zu oft. Wenn er nicht aufpasste, wirkte er noch wie der letzte Idiot! Sie waren auf dem Weg zur London Bridge – die Southwark Bridge, die eigentlich günstiger gelegen gewesen wäre, war dummerweise zu diesem Zeitpunkt noch nicht gebaut worden. Aber sie mussten sich beeilen, wenn sie nicht wollten, dass ihr heimlicher Abstecher ins 17. Jahrhundert auffiel. Gott, was würde er dafür geben, wenn er endlich diesen steifen weißen Kragen ablegen könnte! Er fühlte sich an wie eines dieser Plastikteile, die Hunde nach Operationen tragen mussten. Lucy bog um die Ecke Richtung Fluss. Sie schien in Gedanken noch immer bei Shakespeare zu sein. »Wie viel hast du dem Mann überhaupt gegeben, dass er uns ins Globe-Theater lässt, Paul?« »Vier von diesen schweren Münzen, keine Ahnung, was die wert sind.« Er lachte. »Vermutlich war das ein Jahreslohn oder so.« »Auf jeden Fall hat’s geholfen. Die Plätze waren super.« Laufend erreichten sie die London Bridge. Wie schon auf dem Hinweg blieb Lucy stehen und wollte die Häuser kommentieren, mit denen die Brücke überbaut war. Aber er zog sie weiter. »Du weißt doch, was Mr George gesagt hat: Wenn man zu lange unter einem Fenster stehen bleibt, bekommt man einen Nachttopf auf den Kopf geleert«, erinnerte er sie. »Außerdem fällst du auf!« »Man merkt gar nicht, dass man auf einer Brücke steht, es sieht aus wie eine ganz normale Straße. Oh, schau mal, ein Stau! Es wird allmählich Zeit, dass sie noch ein paar andere Brücken bauen.« Die Brücke war – im Gegensatz zu den Nebengassen – noch recht belebt, aber die Fuhrwerke, Sänften und Kutschen, die zum anderen Themseufer hinüberwollten, bewegten sich keinen Yard vorwärts. Weiter vorne hörte man Stimmen, Fluchen und Pferde wiehern, aber die Ursache des Stillstands konnte man nicht erkennen. Aus dem Fenster einer Kutsche direkt neben ihnen beugte sich ein Mann mit schwarzem Hut. Sein steifer weißer Spitzenkragen bog sich bis zu seinen Ohren hinauf. »Gibt es nicht noch einen anderen Weg über diesen stinkenden Fluss?«, rief er auf Französisch seinem Kutscher zu. Der Kutscher verneinte. »Und selbst wenn, wir können nicht umdrehen, wir stecken fest! Ich werde nach vorne gehen und sehen, was passiert ist. Sicher geht es bald weiter, Sire.« Mit einem Grummeln zog der Mann seinen Kopf samt Hut und Kragen zurück in die Kutsche, während der Kutscher abstieg und sich einen Weg durch das Gedränge bahnte. »Hast du das gehört, Paul? Das sind Franzosen«, flüsterte Lucy begeistert. »Touristen!« »Ja. Ganz toll. Aber wir müssen weiter, wir haben nicht mehr viel Zeit.« Er erinnerte sich dunkel, gelesen zu haben, dass man diese Brücke irgendwann zerstört und später fünfzehn Meter weiter wieder aufgebaut hatte. Kein guter Platz für einen Zeitsprung also. Sie folgten dem französischen Kutscher, aber ein Stück weiter vorn standen die Menschen und Fahrzeuge so dicht, dass kein Durchkommen war. »Ich habe gehört, da hat ein Fuhrwerk mit Ölfässern Feuer gefangen«, sagte die Frau vor ihnen zu niemandem Bestimmten. »Wenn sie nicht aufpassen, fackeln sie noch mal die ganze Brücke ab.« »Aber nicht heute, so viel ich weiß«, murmelte Paul und griff nach Lucys Arm. »Komm, wir gehen zurück und warten auf der anderen Seite auf unseren Sprung.« »Erinnerst du dich noch an die Parole? Nur für den Fall, dass wir es nicht rechtzeitig schaffen.« »Irgendwas mit Kutte und Lava.« »Gutta cavat lapidem, du Dummkopf.« Sie sah kichernd zu ihm hoch. Ihre blauen Augen blitzten vor Vergnügen und plötzlich schoss ihm durch den Kopf, was sein Bruder Falk gesagt hatte, als er ihn nach dem perfekten Zeitpunkt gefragt hatte. »Ich würde mich nicht lange mit Reden aufhalten. Ich würde es einfach tun. Dann kann sie dir eine runterhauen und du weißt Bescheid.« Falk hatte natürlich wissen wollen, von wem die Rede war, aber Paul hatte keine Lust auf Diskussionen gehabt, die mit »Du weißt doch, die Verbindungen zwischen den de Villiers und den Montroses sollten rein geschäftlicher Natur sein!« begannen und mit »Außerdem sind die Montrose-Mädchen alle Zicken und werden später mal Drachen wie Lady Arista« endeten. Von wegen Zicke! Möglicherweise traf das auf die anderen Montrose-Mädchen zu – auf Lucy aber mit Sicherheit nicht. Lucy – über die er jeden Tag aufs Neue staunen konnte, der er Sachen anvertraut hatte, die er noch niemandem erzählt hatte. Lucy, mit der man buchstäblich – Er holte tief Luft. »Warum bleibst du stehen?«, fragte Lucy, aber da hatte er sich auch schon zu ihr hinuntergebeugt und seine Lippen auf ihren Mund gepresst. Drei Sekunden lang fürchtete er, sie würde ihn wegschubsen, aber dann schien sie ihre Überraschung überwunden zu haben und erwiderte seinen Kuss, zuerst ganz vorsichtig, dann nachdrücklicher. Eigentlich war das hier alles andere als der perfekte Moment und eigentlich hatten sie es auch furchtbar eilig, denn sie konnten jeden Moment in der Zeit springen, und eigentlich… Paul vergaß, was das dritte Eigentlich war. Alles, was jetzt zählte, war sie. Doch dann fiel sein Blick auf eine Gestalt mit einer dunklen Kapuze und er sprang erschrocken zurück. Lucy sah ihn einen Moment irritiert an, bevor sie rot wurde und auf ihre Füße schaute. »Tut mir leid«, murmelte sie verlegen. »Larry Coleman hat auch gesagt, wenn ich küsse, fühlt sich das so an, als würde einem jemand eine Handvoll unreifer Stachelbeeren ins Gesicht drücken.« »Stachelbeeren?« Er schüttelte den Kopf. »Und wer zum Teufel ist überhaupt Larry Coleman?« Jetzt schien sie vollends verwirrt und er konnte es ihr noch nicht einmal übel nehmen. Irgendwie musste er versuchen, das Chaos, das in seinem Kopf herrschte, in die richtige Reihenfolge zu bringen. Er zog Lucy aus dem Licht der Fackeln, packte sie an den Schultern und sah ihr tief in die Augen. »Okay, Lucy. Erstens: Du küsst ungefähr so, wie… wie Erdbeeren schmecken. Zweitens: Wenn ich diesen Larry Coleman finde, haue ich ihm eins auf die Nase. Drittens: Merk dir dringend, wo wir aufgehört haben. Aber im Moment haben wir ein klitzekleines Problem.« Wortlos deutete er auf den hochgewachsenen Mann, der nun lässig aus dem Schatten eines Fuhrwerkes herausschlenderte und sich zum Kutschenfester des Franzosen hinunterbeugte. Lucys Augen weiteten sich vor Schreck. »Guten Abend, Baron«, sagte der Mann. Er sprach ebenfalls Französisch und beim Klang seiner Stimme krallte sich Lucys Hand in Pauls Arm. »Wie schön, Euch zu sehen. Ein weiter Weg aus Flandern hierher.« Er streifte seine Kapuze ab. Aus dem Inneren der Kutsche erklang ein überraschter Ausruf. »Der falsche Marquis! Was macht Ihr denn hier? Wie passt das zusammen?« »Das wüsste ich auch gern«, flüsterte Lucy. »Begrüßt man so seinen eigenen Nachkommen?«, erwiderte der Hochgewachsene gut gelaunt. »Immerhin bin ich der Enkelsohn des Enkelsohnes Eures Enkelsohnes, und auch wenn man mich gern den Mann ohne Vornamen nennt, darf ich Euch versichern, dass ich einen habe. Sogar mehrere, um genau zu sein. Darf ich Euch in der Kutsche Gesellschaft leisten? Es steht sich nicht besonders bequem hier und diese Brücke wird noch eine gute Weile verstopft sein.« Ohne die Antwort abzuwarten oder sich noch einmal umzusehen, öffnete er die Tür und stieg in die Kutsche. Lucy hatte Paul zwei Schritte zur Seite gezogen, noch weiter aus dem Lichtkreis der Fackeln. »Er ist es wirklich! Nur viel jünger. Was sollen wir denn jetzt tun?« »Gar nichts«, flüsterte Paul zurück. »Wir können ja schlecht hingehen und Hallo sagen! Wir dürften gar nicht hier sein.« »Aber wieso ist er hier?« »Ein dummer Zufall. Er darf uns auf keinen Fall sehen. Komm, wir müssen ans Ufer.« Aber keiner von ihnen rührte sich von der Stelle. Beide starrten sie wie gebannt auf das dunkle Fenster der...