E-Book, Deutsch, 142 Seiten
Gier Die Frau in der Kamera
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7543-0935-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Storys
E-Book, Deutsch, 142 Seiten
ISBN: 978-3-7543-0935-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dreizehn bizarre Geschichten, aufgeteilt in drei Abschnitte, enthält der Band Die Frau in der Kamera. Die Storys des ersten Teils, »Verfluchter Alltag«, erzählen realistische Begebenheiten. Da treffen sich zum Beispiel zwei alte Freunde wieder. Der eine hat sich beruflich etabliert, der andere hängt seinen Jugendträumen nach. In Erinnerungen schwelgend fachsimpeln die beiden über ihre unterschiedlichen Musikgeschmäcker und begeben sich damit auf ein gefährliches Terrain. Im zweiten Abschnitt »Hirngespinste« konfrontiert der Autor seine Protagonisten mit fantastischen Plots. In der Titelgeschichte macht sich Jonas Pfeifer mit einer alten Spiegelreflexkamera auf den Weg. Als er eine Frau fotografiert, passiert es: Die Person verschwindet wie im Zaubermärchen von der Bildfläche, und eine ungewöhnliche Liaison nimmt ihren Lauf. »Aus der schönen neuen Welt« lautet das Motto des dritten Teils. Helge Wolf, dessen Frau verstorben ist, erhält einen Haus¬haltsroboter, der ihm unter die Arme greifen soll. Schon bald zeigt sich, dass der Androide seinem Besitzer nicht nur haushälterisch, sondern auch in ethisch-moralischen Fragen haushoch überlegen ist. ¬Unabhängig von Genres und Sujets rollt der Autor groteske Situationen auf. Unterhaltsam und augenzwinkernd, häufig auch mit einer Prise Melancholie, schreibt er in einem Stil, den man als skurrilen magischen Realismus bezeichnen könnte. Visuell in Szene gesetzt werden die Texte durch Aquarelle der Malerin Claudia Seibert. Sie vermeidet bewusst, die Geschichten realistisch zu illustrieren. Gegenständliche Elemente aus den Texten kombiniert sie mit abstrakten Formen und leuchtenden, in mehreren Schichten gestalteten Farbflächen. Die Bilder öffnen damit den Blick für Lesarten jenseits des Oberflächlichen.
Rudolf Gier, 1957, lebt als Autor, Videofilmer und Medienpädagoge in Münster. Er schreibt für Kinder und Erwachsene, veröffentlicht in Zeitschriften, Anthologien und im Rundfunk. 2016 erschien das Kinderbuch Luis und das Abenteuer im Regenbogenland im Demosthenes Verlag. Für September 2021 angekündigt: Das Zirkusmädchen mit der langen Nase, Erzählung für Kinder ab 6 Jahren mit farbigen Bildern von Roswitha Raach.
Autoren/Hrsg.
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That’s Jazz
Baumann hatte sich nichts dabei gedacht, als er sein Tenorsaxofon vor fünfzehn Uhr aus dem Koffer nahm. Wer sollte schon etwas dagegen haben, wenn er ausnahmsweise ein bisschen früher spielte? Naja, was hieß hier spielen! Baumann war, obwohl schon Mitte dreißig, ein Anfänger auf dem Instrument. Er war noch auf der Suche nach einem sauberen, eigenständigen Ton. Spielen bedeutete für ihn im Wesentlichen, Skalen rauf und runter zu leiern oder rhythmische Übungen zu absolvieren, die ihm sein Lehrer aufgegeben hatte. Seine Technik steckte noch in den Kinderschuhen. Die ersten Töne, mit denen er sich nur vergewissern wollte, ob mit dem Instrument alles in Ordnung war, klangen schrill. In diesem Moment klingelte es. Baumann legte das Saxofon beiseite und öffnete. Kreye, ein Nachbar, stand vor der Tür und war offensichtlich erregt. »Was fällt Ihnen ein, während der Mittagsruhe so einen Lärm zu veranstalten!« Kreye war Anfang sechzig und vor einigen Jahren frühpensioniert worden. Er wohnte schon viel länger in dem Haus als Baumann. Trotz seines fortgeschrittenen Alters hatte er noch volles Haar. Seitenscheitel, gepflegtes Äußeres und dezentes Auftreten gaben ihm einen seriösen Anstrich. Er wirkte nicht einmal unfreundlich und war bisher nie aufdringlich geworden. Umso mehr verwunderte es Baumann, dass er nun derart heftig auf ihn einredete. »Meine Frau steht kurz vor einem Nervenzusammenbruch, und da kommen Sie uns mit Ihrem gnadenlosen Getöse!« Baumann wusste, dass er noch nicht gut spielen konnte, und die Sache war ihm peinlich. Er entschuldigte sich. Aber Kreye ließ nicht locker: »Bis fünfzehn Uhr will ich hier keinen Ton mehr hören, ist das klar!« Baumann nickte beschämt und sah, wie Kreye sich umdrehte und wieder die Treppe hinaufging. Dann fiel oben die Wohnungstür ins Schloss. Noch nie hatte sich Kreye direkt zu seinen musikalischen Versuchen geäußert, aber Baumann spürte jedes Mal, wenn sie sich im Hausflur begegneten, wie sehr Kreye daran Anstoß nahm. Das Nachbarschaftsverhältnis zwischen ihnen hatte sich jedenfalls, nachdem Baumann das Instrument vor ein paar Monaten angeschafft hatte, erheblich verschlechtert. Dabei war Kreye, was diese Geschichte anbelangte, vermutlich noch nicht einmal der Hauptdrahtzieher, sondern es war seine Frau. Sie verhielt sich Baumann gegenüber immer mit zur Schau gestellter Freundlichkeit. »Guten Morgen, Herr Baumann, ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Tag«, pflegte sie zu sagen. Dabei gehörte Erfolg nicht gerade zu Baumanns Markenzeichen. Im Gegenteil: Er hatte seine Stelle verloren und durchlebte gerade eine berufliche und persönliche Misere, was ihr nicht entgangen sein konnte. Es war zynisch, ihm in dieser Lage einen »erfolgreichen Tag« zu wünschen. Als vor einigen Monaten Baumanns Frau ausgezogen war, kam die Schnepfe gleich mit einer spitzen Bemerkung um die Ecke. »Guten Tag, Herr Baumann, ich hoffe, Ihrer Ehepartnerin geht es auch gut. Richten Sie ihr doch bitte herzliche Grüße von mir aus, wenn Sie sie das nächste Mal sehen.« Allein an der verstellten Stimme glaubte Baumann ihren Charakter zu erkennen. Alles, was nicht ihrem Weltbild entsprach, schien sie zu verachten. Offensichtlich stand sein Saxofonspiel ganz oben auf ihrer roten Liste. Er hatte schon länger den Verdacht, dass sie ihn belauschte. Die Decken und Wände waren dünn, und sein Geblase konnte man überall im Haus wahrnehmen. Aber während die anderen Nachbarn es ignorierten und sich nicht weiter daran störten, hatte sie offensichtlich nichts Besseres zu tun, als jeden Ton, den er von sich gab, mit arroganten Sprüchen zu kommentieren. Immer wenn er danebengriff oder schlecht intonierte, stampfte sie auf den Fußboden. Baumann war davon verunsichert. Er schämte sich regelrecht für seine miserablen Übungseinheiten, verlor an Selbstvertrauen, und die Sache machte ihm immer weniger Spaß. Er musste feststellen, dass er in den letzten Wochen kaum Fortschritte erzielt hatte und sein Spiel zunehmend stagnierte, ein Trend, den er zu einem guten Teil den beiden Nervensägen ankreidete. Aber er hatte keine Lust, sich das Instrument von den Spinnern vermiesen zu lassen. Allein aus Trotz würde er weitermachen. Um Punkt fünfzehn Uhr nahm er das Saxofon und legte von Neuem los. Mit der Wut im Bauch, die sich angestaut hatte, spielte er kraftvoller und zupackender als zuvor. Er fing an zu experimentieren. Das hatte er sich noch nie getraut. Er dachte nicht mehr so viel darüber nach, ob er die Töne traf. Er spielte einfach. Diese »Das-wollen-wir-doch-mal-sehen-Improvisation« ermutigte ihn und wirkte befreiend. Es klang gar nicht so schlecht. Und vor allem: Er war richtig laut. Erneut klingelte jemand. Baumann ging zur Tür. »Was wollen Sie denn schon wieder? Die Mittagspause ist längst rum.« Kreye hatte sich vor ihm aufgebaut wie ein Boxer, was gar nicht zu seiner gediegenen Erscheinung passte. Bestimmt war er wieder von seiner blöden Schnepfe geschickt worden. »Diesen höllischen Lärm nennen Sie spielen?« »Davon verstehen Sie nichts, Herr Kreye, das ist Jazz!« »Von Ihnen muss ich mich nicht belehren lassen, Herr Baumann. Ich habe jahrelang als Toningenieur beim Swing-Orchester der Bundeswehr gearbeitet.« Baumann erinnerte sich an ihre erste Begegnung. Kreye hatte erwähnt, dass er Berufssoldat gewesen war, ohne näher darauf einzugehen. Es hatte Baumann auch nicht sonderlich interessiert. Immerhin konnte sich Kreye eine große Wohnung leisten, und er fuhr einen dicken Mercedes. Folglich musste er mindestens Offizier gewesen sein. Dass er bei der Bundeswehr als Toningenieur gearbeitet hatte, hörte Baumann zum ersten Mal. »Glauben Sie mir, Herr Baumann, ich kenne mich aus mit Jazz. Glenn Miller, Woody Herman, Duke Ellington, Count Basie, um nur einige große Namen zu nennen. Oder, um bei Ihrem Instrument zu bleiben: Lester Young. Das ist Jazz. Ihr Geblase hat nicht das Geringste damit zu tun.« »Schon mal was von Charlie Parker, John Coltrane oder Archie Shepp gehört?« »Charlie Parker ist mir ein Begriff. Und wenn ich mich recht erinnere, spielte er nicht Tenor-, sondern Altsaxofon. Mit dem Dreck, den er absonderte, Bebop genannt, nahm der Untergang oder zumindest eine lang andauernde Stagnation des Jazz seinen Anfang. Drogenabhängige schreiben keine Musikgeschichte, mein Freund, das müssten Sie als Sozialarbeiter doch eigentlich wissen, auch wenn Sie gegenwärtig nicht in der Lage sind, Ihren Beruf aktiv auszuüben.« Baumann war nicht entgangen, dass Kreye auf seine Arbeitslosigkeit angespielt hatte, und konterte. »Auch wenn Sie dem Staat als Frühpensionär auf der Tasche liegen, haben Sie mir keine Vorschriften zu machen, was und vor allem wie ich spiele.« Kreye gab sich unbeeindruckt. »Baumann, tun Sie mir einen Gefallen: Verkaufen Sie Ihr Instrument. Sie sind gänzlich untalentiert, und jede Sekunde, die Sie darauf verwenden, ist verschwendete Zeit. Das sage ich Ihnen als Jazzexperte und Toningenieur. Und als Nachbar, der sich den ganzen Tag diesen unprofessionellen Scheiß anhören muss, gebe ich Ihnen einen guten Rat: Machen Sie noch heute damit Schluss!« Baumann schlug Kreye die Tür vor der Nase zu. »Na schön, das kannst du haben, Arschloch«, dachte er und nahm sein Saxofon. Ohne jegliche musikalische Absicht blies er kraftvoll hinein. Er wollte nur eins: laut sein und Kreye beweisen, dass er sich von ihm nicht herumkommandieren ließ. Keine zwei Minuten vergingen, da klingelte es nervtötend. Kreye hielt den Knopf gedrückt, bis Baumann öffnete. Diesmal fuchtelte Kreye mit einer Handfeuerwaffe herum, die er vermutlich noch aus seiner aktiven Zeit bei der Bundeswehr hatte. Ob die Knarre geladen war, konnte Baumann nicht einschätzen. »Sofort das Saxofonfeuer einstellen, Baumann, sonst knallt’s! Ich fackle nicht lange und werde dich standrechtlich erschießen!« »Jetzt ist es passiert«, ging es Baumann durch den Kopf, »der Typ dreht durch.« Er nahm die Hände ein wenig hoch und versuchte Kreye zu beschwichtigen. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Dass Kreye wirklich abdrücken würde, konnte sich Baumann nicht vorstellen. Aber ganz auszuschließen war es nicht. Kreye blickte Baumann einen Moment irre an. Glücklicherweise ließ er die Waffe dann in seine Hosentasche verschwinden und ging in seine Wohnung zurück. Nach diesem Vorfall machte Kreye ihm nie wieder eine Szene. Im Gegenteil: Wenn sie sich im Hausflur begegneten, begrüßte ihn Kreye, distanziert zwar, aber höflich. Manchmal schien er Baumanns Namen vergessen zu haben oder ihn mit jemand zu verwechseln. »Guten Morgen, Herr Babel«, sagte er dann. Als Baumann wieder eine Arbeitsstelle fand, verlor das Saxofon für ihn an Bedeutung. Immer seltener holte er es aus dem Koffer, und irgendwann spielte er gar nicht mehr. Ansonsten nahmen die Dinge ihren Lauf. Baumann fand eine neue Lebensgefährtin, und Kreyes Frau verstarb. In den Wochen...