Gide | Der Immoralist | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 234, 144 Seiten

Reihe: Große Klassiker zum kleinen Preis

Gide Der Immoralist


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-641-29229-4
Verlag: Anaconda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, Band 234, 144 Seiten

Reihe: Große Klassiker zum kleinen Preis

ISBN: 978-3-641-29229-4
Verlag: Anaconda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Nach endlich überstandener Schwindsucht möchte der Handschriftenkundler Michel nur noch frei sein – frei von gesellschaftlichen Konventionen und unbeschränkt im Ausleben seiner Sexualität mit beiderlei Geschlecht. Während er mit seiner engelsgleichen Frau Marceline in die Schweiz reist und dann quer durch Italien bis in die Wüste Algeriens, scheint er seinem Ziel immer näher zu kommen. Doch die Freiheit, anders zu sein, hat ihren Preis, wie André Gide, der Literaturnobelpreisträger von 1947, in diesem kühnen, provokanten Roman einer Befreiung vor Augen führt.

André Gide (1869-1951) wurde in Paris geboren. Schon früh hatte er Kontakte zur französischen Avantgarde und schloss Freundschaft mit Mallarmé, Claudel, Valéry und Oscar Wilde. 1909 begründete er als Herausgeber die "Nouvelle Revue Française" mit und war jahrzehntelang einer der wichtigsten Literaten seiner Zeit. 1947 den erhielt er den Literaturnobelpreis. Zu seinen autobiographischen Schriften gehören u.a. "Tagebuch" (1889-1949) sowie "Stirb und werde" (1926). Seine bekanntesten erzählenden Werke sind "Der Immoralist" (1902), "Die Rückkehr des verlorenen Sohnes" (1907), "Die enge Pforte" (1909), "Die Pastoralsymphonie" (1919), "Die Falschmünzer" (1925) und "Die Schule der Frauen" (1929).
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Erster Teil


I


Meine lieben Freunde, ich war eurer Treue gewiss. Auf meinen Ruf hin seid ihr herbeigeeilt, ganz wie ich es auf den euren hin getan hätte. Indes habt ihr mich drei Jahre lang nicht gesehen. Möge eure Freundschaft, die die Trennung so gut übersteht, ebenso gut den Bericht überstehen, den ich euch liefern will. Denn wenn ich euch so plötzlich rief und euch bis zu meiner fernen Behausung reisen ließ, so geschah das allein, um euch zu sehen, und damit ihr mich anhören könnt. Ich will keine andere Hilfe als: zu euch sprechen. Denn ich bin an einem Punkt meines Lebens angelangt, den ich nicht mehr überschreiten kann. Doch das ist nicht Überdruss. Ich begreife nichts mehr. Ich möchte … Ich möchte mich aussprechen, sage ich euch. Sich befreien ist nichts; frei sein können ist das Schwierige. – Ihr müsst es ertragen, dass ich von mir spreche; ich will euch einfach mein Leben erzählen, ohne Bescheidenheit und ohne Hochmut, viel einfacher, als wenn ich zu mir selbst spräche. Hört mich an:

Das letzte Mal sahen wir uns, so erinnere ich mich, in der Gegend von Angers, in der kleinen Dorfkirche, in der meine Hochzeit gefeiert wurde. Das Publikum war nicht sehr zahlreich; nur die guten Freunde machten aus dieser banalen Zeremonie eine bewegende Zeremonie. Mir scheint, man war gerührt, und das rührte mich selbst. Nach dem Kirchgang versammelte uns eine kurze Mahlzeit ohne Lachen und Lärm im Hause jener, die meine Frau wurde. Dann entführte uns beide der bestellte Wagen, gemäß dem Brauch, der in unserem Geist den Gedanken an eine Hochzeit mit der Vision eines abfahrenden Zuges verbindet.

Ich kannte meine Frau nur wenig und dachte, ohne viel darunter zu leiden, dass sie mich nicht besser kenne. Ich hatte sie ohne Liebe geheiratet, hauptsächlich meinem Vater zu Gefallen, der sich im Sterben sorgte, mich allein zu lassen. Ich liebe meinen Vater zärtlich; mitgenommen von seinem Todeskampf, dachte ich in diesen trüben Augenblicken nur daran, ihm sein Ende zu erleichtern; und so verpfändete ich mein Leben, ohne über das Leben Bescheid zu wissen. Unsere Verlobung am Bett des Sterbenden war ohne laute Fröhlichkeit, aber nicht ohne ernste Freude, so groß war der Friede, den mein Vater darin fand. Wenn ich, wie ich sagte, meine Braut auch nicht liebte, so hatte ich wenigstens niemals eine andere Frau geliebt. Das genügte in meinen Augen, um unser Glück zu sichern; da ich mich selbst noch nicht kannte, glaubte ich mich ihr ganz hinzugeben. Auch sie war Waise und lebte mit ihren beiden Brüdern zusammen. Marceline war kaum zwanzig Jahre alt, ich vier Jahre älter.

Ich habe gesagt, dass ich sie nicht liebte; wenigstens empfand ich für sie nicht das, was man Liebe nennt, aber ich liebte sie, wenn man darunter Zärtlichkeit, eine Art Mitleid und schließlich Hochachtung verstehen will. Sie war katholisch, und ich bin Protestant … doch ich glaubte es so wenig zu sein! Der Pfarrer nahm mich hin, ich nahm den Pfarrer hin: Wir spielten mit offenen Karten.

Mein Vater war das, was man einen »Atheisten« nennt; wenigstens vermute ich es, da ich aus einer Art unüberwindbarer Scheu, die er wohl teilte, niemals mit ihm über seinen Glauben habe reden können. Die ernsten hugenottischen Lehren meiner Mutter waren mit ihrem schönen Bild langsam in meinem Herzen verblasst; ihr wisst, dass ich sie jung verloren habe. Ich ahnte noch nicht, wie sehr uns diese erste Kindheitsmoral beherrscht, noch welche Narben sie im Geist zurücklässt. Jene Art Strenge, an der mich meine Mutter Geschmack finden ließ, indem sie mir ihre Prinzipien einprägte, übertrug ich ganz auf meine Studien. Ich war fünfzehn Jahre alt, als meine Mutter starb; mein Vater nahm sich meiner an, umsorgte mich und unterwies mich mit Leidenschaft. Ich beherrschte schon recht gut Latein und Griechisch; bei ihm lernte ich schnell Hebräisch, Sanskrit und schließlich Persisch und Arabisch. Gegen mein zwanzigstes Jahr war ich so gedrillt, dass er mich an seinen Arbeiten teilnehmen ließ. Es machte ihm Spaß, mich als seinesgleichen anzusehen, und er wollte mir dafür den Beweis liefern. Der der unter seinem Namen erschien, war mein Werk; er hatte ihn kaum durchgesehen; nichts hatte ihm je solche Anerkennung eingebracht. Er war entzückt. Ich jedoch war verwirrt, als ich diese Täuschung gelingen sah. Aber von nun an gehörte ich dazu. Die kenntnisreichsten Gelehrten behandelten mich als ihren Kollegen. Heute muss ich lächeln über all die Ehren, die mir zuteilwurden … So erreichte ich mein fünfundzwanzigstes Jahr, hatte fast nichts gesehen außer Ruinen und Büchern und wusste nichts vom Leben. In der Arbeit bewies ich einen ungewöhnlichen Eifer. Ich liebte einige Freunde (ihr gehörtet dazu), aber mehr die Freundschaft als sie selbst; meine Neigung für sie war groß, aber sie war Bedürfnis nach Adel; ich pflegte jedes schöne Gefühl in mir. Im Übrigen wusste ich von meinen Freunden so wenig, wie ich von mir selbst wusste. Keinen Augenblick kam mir der Gedanke, ich könnte ein anderes Dasein führen oder man könnte anders leben.

Meinem Vater und mir genügten einfache Dinge; wir gaben beide so wenig aus, dass ich mein fünfundzwanzigstes Jahr erreichte, ohne zu wissen, dass wir reich waren. Ohne häufig darüber nachzudenken, nahm ich an, wir hätten zum Leben gerade genug; und neben meinem Vater hatte ich so sparsame Gewohnheiten angenommen, dass ich mich fast genierte, als ich begriff, dass wir viel mehr besaßen. Ich war in diesen Dingen derart nachlässig, dass mir nicht einmal nach dem Tod meines Vaters, dessen einziger Erbe ich war, die Größe meines Vermögens klar bewusst wurde, sondern erst beim Abschluss meines Ehevertrags, der mir gleichzeitig entdeckte, dass Marceline fast nichts in die Ehe einbrachte.

Noch eine andere, vielleicht wichtigere Sache war mir unbekannt: dass ich eine sehr schwächliche Gesundheit hatte. Wie konnte ich das ahnen, da ich sie nie der Probe ausgesetzt hatte? Von Zeit zu Zeit hatte ich Erkältungen, die ich nachlässig kurierte. Das allzu ruhige Leben, das ich führte, schwächte und schützte mich zugleich. Marceline dagegen schien kräftig; und dass sie kräftiger war als ich, sollten wir bald entdecken.

Am Abend unserer Hochzeit schliefen wir in meiner Wohnung in Paris, wo man uns zwei Zimmer hergerichtet hatte. Wir blieben nur so lange in Paris, wie es für unerlässliche Einkäufe nötig war, dann reisten wir nach Marseille, wo wir uns alsbald nach Tunis einschifften.

Die dringlichen Besorgungen, der Trubel der letzten, sich überstürzenden Ereignisse, die unerlässlichen Empfindungen der Hochzeit, die so rasch auf die echteren meiner Trauer folgten: all das hatte mich erschöpft. Erst auf dem Schiff fühlte ich meine Müdigkeit. Bis dahin lenkte mich jede Beschäftigung, die sie verstärkte, gleichzeitig von ihr ab. Die erzwungene Muße an Bord gab mir Gelegenheit zu überlegen. Mir schien, es war das erste Mal. Zum ersten Mal auch war ich bereit, mich für lange Zeit von meiner Arbeit zu trennen. Ich hatte mir bisher nur kurze Ferien bewilligt. Eine Reise nach Spanien mit meinem Vater, kurze Zeit nach dem Tod meiner Mutter, hatte allerdings über einen Monat gedauert; eine andere nach Deutschland sechs Wochen; auch alle übrigen waren Studienreisen; mein Vater war von seinen ganz gezielten Forschungen durch nichts abzubringen; und ich las, sobald ich ihn nicht begleitete. Und doch belebten sich manche Erinnerungen an Granada und Sevilla, kaum dass wir Marseille verlassen hatten, an einen klareren Himmel, schärfere Schatten, an Feste, an Gelächter und Gesang. Das wollen wir wiederfinden, dachte ich. Ich stieg auf die Brücke des Schiffes und sah, wie Marseille zurückblieb.

Dann kam mir plötzlich in den Sinn, dass ich Marceline ein wenig vernachlässigte.

Sie saß vorn; ich näherte mich und betrachtete sie zum ersten Mal wirklich.

Marceline war sehr hübsch. Ihr wisst es, ihr habt sie gesehen. Ich machte mir Vorwürfe, dass ich das nicht früher bemerkt hatte. Ich kannte sie zu gut, um sie mit neuen Augen zu sehen; unsere Familien waren schon immer verbunden gewesen; ich hatte sie heranwachsen sehen; ihre Anmut war mir vertraut … Zum ersten Mal staunte ich, so groß schien mir diese Anmut.

Von einem schlichten schwarzen Strohhut ließ sie einen Schleier flattern. Sie war blond, wirkte jedoch nicht zart. Ihr Rock und die passende Korsage waren aus einem schottischen Tuch gemacht, das wir zusammen ausgesucht hatten. Sie sollte sich von meiner Trauer nicht verdüstern lassen.

Sie fühlte meinen Blick und wandte sich nach mir um … Bis dahin hatte ich gegen sie nur bemühten Eifer gezeigt; ich ersetzte mehr schlecht als recht die Liebe durch eine Art kalter Galanterie, die sie, wie ich sah, ein wenig belästigte. Fühlte Marceline in diesem Augenblick, dass ich sie zum ersten Mal auf andere Weise betrachtete? Nun blickte sie mich ihrerseits fest an, dann lächelte sie zärtlich. Ich setzte mich neben sie, ohne etwas zu sagen. Ich hatte bis dahin für mich oder zumindest mir gemäß gelebt. Ich hatte mich verheiratet, ohne in meiner Frau etwas anderes als eine Gefährtin zu sehen, ohne recht zu bedenken, dass durch unsere Verbindung mein Leben verändert werden könnte. Jetzt endlich hatte ich begriffen, dass der Monolog hier zu Ende ging.

Wir beide waren allein auf dem Deck. Sie neigte ihre Stirn zu mir, ich presste sie sanft an mich; sie sah zu mir auf, ich küsste sie auf die Lider und fühlte plötzlich, begünstigt durch meinen Kuss, ein neues Mitleid; es überkam mich mit solcher Gewalt, dass ich meine Tränen nicht zurückhalten konnte.

»Was hast du denn?«, fragte mich Marceline.

Wir...


Gide, André
André Gide (1869-1951) wurde in Paris geboren. Schon früh hatte er Kontakte zur französischen Avantgarde und schloss Freundschaft mit Mallarmé, Claudel, Valéry und Oscar Wilde. 1909 begründete er als Herausgeber die "Nouvelle Revue Française" mit und war jahrzehntelang einer der wichtigsten Literaten seiner Zeit. 1947 den erhielt er den Literaturnobelpreis. Zu seinen autobiographischen Schriften gehören u.a. "Tagebuch" (1889-1949) sowie "Stirb und werde" (1926). Seine bekanntesten erzählenden Werke sind "Der Immoralist" (1902), "Die Rückkehr des verlorenen Sohnes" (1907), "Die enge Pforte" (1909), "Die Pastoralsymphonie" (1919), "Die Falschmünzer" (1925) und "Die Schule der Frauen" (1929).



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