Gibson Lichtkrieg
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-15085-3
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 0 Seiten
ISBN: 978-3-641-15085-3
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die gigantischen Abstände zwischen den Sternen in der Galaxis sind nur durch Überlichtgeschwindigkeit zu überwinden – vor diesem Problem steht irgendwann einmal jede Zivilisation, die sich anschickt, ins All aufzubrechen. Da ist es von großem Vorteil, wenn man das Monopol auf einen solchen überlichtschnellen Antrieb besitzt. So wie das Volk der Shoal, das der Menschheit hilft, ihr Sonnensystem zu verlassen und neue Planeten zu besiedeln. Ein reiner Akt der Großzügigkeit? Oder verbirgt sich dahinter ein finsterer Plan – ein Plan, der die Machtverhältnisse in der Galaxis für alle Zeiten klären soll …
Der schottische Autor Gary Gibson, 1965 geboren, arbeitete als Redakteur, Buchhändler und Grafikdesigner, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Der Autor lebt und arbeitet nach einem längeren Aufenthalt in Taiwan wieder in Glasgow.
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Kapitel Zwei
Erkinning City, Kolonie Bellhaven
Konsortium-Standardzeit: 03.02.2536
Zwei Jahre vor dem Port-Gabriel-Zwischenfall
Dakotas Blick schweifte über die in der Ferne liegenden Dächer der Baracken, die sich hinter die abweisend wirkende Stadtmauer duckten. Die sieben Abendsterne schienen auf sie hinabzusehen, und ihr mildes Licht wirkte tröstlich wie der Segen eines Ältesten.
Im selben Moment, in dem sie zum Nachthimmel emporblickte, aktivierten sich ihre neuen Ghost-Schaltkreise – die frisch in ihren Schädel implantiert waren – und schwemmten eine Flut zumeist nutzloser Informationen in ihre Gedanken; ohne sich im mindesten anzustrengen, wusste sie sofort, in welcher Entfernung sich jeder einzelne Stern befand, kannte seine Deklination in Bezug zum galaktischen Äquator sowie die jeweilige Anzahl der Planeten und dunklen Begleiter, von denen sie umkreist wurden.
Eine unglaubliche Fülle ähnlicher Details hinsichtlich Tausender weiterer Sterne, die alle in einem Umkreis von mehreren hundert Lichtjahren rings um Bellhaven verstreut lagen, lauerte am Rande ihres Bewusstseins. Sie stellte sich vor, sie sei eine Spinne im Zentrum eines riesigen kybernetischen Netzes, während ihre Implantate winzigen, tausendfach aufgefächerten Gliedmaßen glichen, die sich ausstrecken und Sonnen oder Monde vom Himmel pflücken konnten, wenn sie Lust verspürte, damit zu spielen.
Sie riss sich vom Anblick der Sterne los und ließ den Blick wieder nach unten wandern; in der kalten Nachtluft gefror ihr Atem, wenn er durch den Schal drang, den sie sich fest um Hals und Mund gewickelt hatte. Ein eisiger Winterwind peitschte über jene Teile ihres frisch geschorenen Schädels, die nicht von der dicken Lederkappe, die sie über den Kopf und die Ohren gezogen hatte, geschützt wurden. Sie blickte kurz hinter sich und entdeckte Tutor Langley, der ganz in ihrer Nähe stand.
Ein Spitzbart zierte Langleys dunkles Gesicht, und sein langer schwarzer Mantel erinnerte an das Gewand eines Priesters aus einem längst vergangenen Jahrhundert; der kurze Stehkragen zwängte seinen Hals ein, während die weiten Mantelschöße um seine Stiefel flatterten. Diese Uniform sollte eine ständige Mahnung an die Bürger darstellen, ja nicht zu vergessen, dass die Ältesten der Stadt, die die religiöse Oligarchie verkörperten, an den Schalthebeln der Macht saßen.
Dakota bemerkte seinen Gesichtsausdruck und grinste ihn breit an. Es störte sie nicht, dass ihr kahl geschorener Schädel von den chirurgischen Eingriffen immer noch arg lädiert aussah.
In den Gassen tief unter der Garnisonsfestung, auf deren Dach sie stand, sah sie Menschen, die sich um Imbissbuden drängten; die Garküchen säumten eine belebte Straßenkreuzung, an der sie selbst schon mindestens tausend Mal vorbeigeschlendert war. Wo der Schein der spärlichen Beleuchtung hinfiel, konnte sie gerade noch die Gesichter der Leute ausmachen. Gesprächsfetzen drangen zu ihr hinauf, zusammen mit Kochdünsten, die ihren Appetit anregten.
Plötzlich vergegenwärtigte sich Dakota, wie leicht sich diese Gerüche in spezifische Kategorien aufspalten ließen. Worte wie Hydrolyse, Ester und karamellisierter Zucker schoben sich in ihr Gehirn, begleitet von prozentualen Angaben, die sich mit jedem Windstoß veränderten. Weit drunten suchten die Menschen unter Blechmarkisen Schutz vor der winterlichen Kälte und dem Regen, oder sie wärmten sich an den kommunalen Fusionsöfen, die an jeder Ecke der Kreuzung aufgestellt waren.
Jesus, Uchida, Buddha; diese und ein Dutzend mehr Abbilder glühten in strahlenden, halluzinatorischen Farben aus allen möglichen Nischen, wie in vielen anderen Bereichen der Stadt auch. Sie verteilten ihren leuchtenden Segen über die uralten Schichten aus Plakaten und öffentlichen Bekanntmachungen, mit denen jede verfügbare Fläche immer wieder von Neuem zugekleistert wurde.
In diesem Moment merkte sie, dass Marlie sich zu ihr an das Geländer gestellt hatte; der Mund unter ihren dunklen Augen war zu einem breiten Grinsen verzogen.
»Hast du schon das Neueste von Banville gehört? Jetzt heißt es, er sei zu den Uchidanern übergelaufen und hätte seine Familie so mir nichts, dir nichts im Stich gelassen.«
»Ach, wirklich?«, erwiderte Dakota. »Zuletzt wurde doch behauptet, er sei verschleppt worden.«
Das waren in der Tat interessante Neuigkeiten. Banville war der Erfinder, der einen großen Teil jener fortschrittlichen Ghost-Technologie entwickelt hatte, auf die sich Bellhavens wissenschaftlicher Ruf nun schon seit Langem stützte. Nicht nur Marlie und Dakota, sondern auch jede andere Person mit Ghost-Implantaten trug ein Stück von Banvilles Lebenswerk in sich.
Marlie zuckte unbekümmert mit den Schultern. Ihre Art, dauernd zu lächeln, egal, was sie sagte, ging Dakota mächtig auf die Nerven; es deutete auf eine Oberflächlichkeit hin, die sie von klein auf kultiviert haben musste. »Ehe ich hierherkam, habe ich mir die letzte Ausgabe des City Bulletin besorgt. Anscheinend ist er doch freiwillig abgehauen, und die Ältesten kochen vor Wut.«
Dakota nickte. Die Nachricht von Banvilles Verschwinden hatte in den Grover-Gemeinden, wie die Ältesten sich auszudrücken beliebten, bereits zu Aufständen geführt. Doch der Ausdruck Barackenslums hätte besser gepasst; seit nunmehr drei Jahren wucherten sie vor den Stadtmauern, zum Bersten vollgestopft mit Flüchtlingen, die von der gescheiterten Grover-Kolonie tausend Meilen weiter nördlich herbeiströmten.
Rasch durchlief Dakota die visuellen Routinen, die ihr Unterbewusstsein öffneten, damit sie einen Strom von Daten und Nachrichten aus dem örtlichen Tach-Netz empfangen konnte. Vor Schreck weiteten sich ihre Augen, als sich ein Schwall neuer Informationen in ihren Kopf ergoss: Banville war seit knapp einem Tag verschwunden, doch just vor ein paar Minuten war eine aufgezeichnete Botschaft aufgetaucht, in der er behauptete, er habe sich aus freien Stücken zum Oratorium, der Lehre von Uchida, bekannt und Bellhaven für immer verlassen.
Sie warf einen Blick auf Marlie und wusste sofort, dass sie exakt dieselben Auskünfte erhielt.
»Das ist schlecht«, kommentierte Dakota unnötigerweise.
Marlie nickte. »Allerdings, Dakota, das ist sogar sehr schlecht.«
Es gab Berichte, denen zufolge über den ganzen Globus verteilt ein Dutzend weitere Aufstände ausbrachen, sobald sich die schockierende Enthüllung von Banvilles Überlaufen verbreitete. Dakota beobachtete, wie von zwei unterschiedlichen Sektoren der Grover-Camps Rauchsäulen aufstiegen, während sie auf dem flachen Dach des Turms im Ostquadranten stand, dessen Rand von einer altertümlichen Brustwehr umgeben war. Gestelle aus Stahl und Keramik für die Montage von Impulswaffen, mit denen man im Ersten Bürgerkrieg Erkinning verteidigt hatte, lagen nach anderthalb Jahrhunderten der Vernachlässigung verrostet und von Löchern zerfressen herum.
In Anbetracht der derzeitigen Umstände fielen die Feierlichkeiten, die Dakotas Graduierung begleiteten, eher gedämpft aus. Trotzdem hatte Langley spät in der Nacht sein Teleskop wie versprochen auf selbigem Dach aufgebaut, damit alle einen Blick auf die neue Supernova werfen konnten, die sich kurz vor dem Morgengrauen dem Horizont näherte.
Dakota fand, dass das Teleskop geradezu mittelalterlich aussah, ein dicker Tubus aus glänzendem Kupfer und Messing, der auf einen drehbaren Äquatorialfuß montiert war. Das Ding wirkte wie ein Wesen, das aus Gefilden jenseits des bekannten Universums zu stammen schien, ein Hybrid aus Spinne und Maschine, der in diese Welt eingedrungen war und nun über die Dächer der Stadt stakste.
»Haben Sie etwas gesagt, Dakota?« Langley fasste sie argwöhnisch ins Auge.
Mit dem Kinn deutete sie nach oben in Richtung der Supernova. »Ich sagte, eines Tages möchte ich mich an einen Ort wie diesen begeben und mich mit eigenen Augen davon überzeugen, wie ein sterbender Stern aus der Nähe aussieht.«
Ihr Blick begegnete dem von Aiden, und sie geriet ins Stocken; ihre helle Haut lief rot an, als sie sich an ihre unbeholfenen Intimitäten im Schlafsaal erinnerte.
»Das soll wohl ein Witz sein, oder?«, meinte Aiden, der dem Alkohol kräftig zugesprochen hatte. »Du willst losziehen und eine Supernova besuchen?« Er lachte, und die Studenten, die noch wach waren und nicht irgendwo ihren Rausch ausschliefen, fingen nervös an zu kichern. Marlie hockte ungeachtet der feuchten Kacheln im Schneidersitz auf dem Boden und richtete ihre volle Aufmerksamkeit auf Langley, der über ihre unerwiderten Sehnsüchte voll im Bilde war. Martens’ eulenhafte Züge ließen erkennen, dass er seinen eigenen Gedanken nachhing und sich von der Außenwelt abgeschottet hatte. Otterich und Spezo machten einen gelangweilten und müden Eindruck, und der Rest hatte sich entschuldigt und für die Nacht zurückgezogen. Manche Studenten interessierten sich nicht besonders für explodierende Sterne.
Langley selbst warf Aiden einen warnenden Blick zu. Dann wandte er sich an Dakota, offensichtlich zufrieden mit den minimalen Justierungen, die er am Teleskop vorgenommen hatte. »Ich teile Ihren Wunsch, aber die Große Magellan’sche Wolke liegt ein bisschen weiter weg, als die Shoal bereit wären, Sie oder sonst jemanden zu befördern.«
»Jawohl, wie groß ist noch mal die Entfernung?«, spottete Aiden. »Einhundertundsechzigtausend Lichtjahre, nicht wahr?« Er gönnte Dakota ein Grinsen, das sie mit einem hasserfüllten Blick quittierte. »Wir beobachten also ein Ereignis, das ungefähr zu der Zeit stattfand, als die Shoal anfingen, die...




