Geyken Wir standen nicht abseits
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-406-65903-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: PDF
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Frauen im Widerstand gegen Hitler
E-Book, Deutsch, 354 Seiten
ISBN: 978-3-406-65903-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: PDF
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Frauke Geyken, Dr. phil., Historikerin und Publizistin, lebt in Göttingen und arbeitet für verschiedene Bibliotheken und Museen. Ihre erfolgreiche Biographie über Freya von Moltke wurde von der Kritik einhellig gelobt. 'Es wird schwer fallen, das hier erreichte dokumentarische und erzählerische Niveau zu übertreffen.'
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Weitere Infos & Material
1;Cover;1
2;Titel;4
3;Impressum;5
4;Inhalt;6
5;«Vergessen Sie mich nicht!»;10
6;Erstes Kapitel: Kindheiten;18
6.1;Antje Hasenclever, eine Kaufmannstochter «ohne Traditionsbelastung»;18
6.2;Cato Bontjes van Beek, ein Künstlerkind aus Fischerhude;21
6.3;Sophie und Inge Scholl, geborgen in einer schwäbischen Familie;24
6.4;Annedore Rosenthal, eine höhere Tochter aus Lübeck;29
6.5;Rosemarie Pallat, eine Berliner Professorentochter;31
6.6;Marie Louise Edle von Medinger, ein adeliges Fräulein aus Böhmen;35
7;Zweites Kapitel: Wege in den Widerstand, 1933–1939;40
7.1;Ermächtigung und Gleichschaltung;40
7.2;Diplomatenleben: Marie Louise von Scheliha;45
7.3;Haftbesuche und ein eigenes Modeatelier: Annedore Leber;48
7.4;Reformpädagogik auf dem Dorfe: Rosemarie Reichwein;59
7.5;Antje Havemann und die Widerstandsgruppe Neu Beginnen;66
7.6;Die Scholl-Kinder in der Hitlerjugend;72
7.7;Konfirmation statt BDM: Cato Bontjes van Beek;80
8;Drittes Kapitel: Leben im Krieg, 1939–1943;82
8.1;Der Freundeskreis der Roten Kapelle;82
8.2;«Landesverräer»: Marie Louise und Rudolf von Scheliha;90
8.3;«Ich wusste sofort, das ist der Henkerstuhl»: Cato Bontjes van Beek;100
8.4;Helfernetzwerke für verfolgte Juden: Antje und Robert Havemann;114
8.5;Die Widerstandsgruppe Europäische Union;118
8.6;«Meine Seele hat Hunger»: Inge und Sophie Scholl;122
8.7;Die Weiße Rose: Mut und Übermut;130
8.8;Entfremdung in Berlin: Rosemarie und Adolf Reichwein;137
8.9;«Federnd und nicht zu zerbrechen, diese Frau»: Annedore Leber;141
9;Viertes Kapitel: Die Schatten des 20. Juli 1944;144
9.1;Konspirative Netzwerke unter Männern;144
9.2;Kreisauer Kreis: «Wenn das schiefgeht, kostet es das Leben»;149
9.3;Liebesbriefe und Trauerarbeit;158
9.4;Sippenhaft für die Frauen der «Verräter»;164
9.5;Ausgebombt und ein Kind: Antje Havemann;167
9.6;Überleben bis zum Kriegsende: Inge Scholl und Marie Louise von Scheliha;172
10;Fünftes Kapitel: Not überwinden, Neuanfang wagen? 1945/46;176
10.1;«Besinnungsloser Wiederaufbau»;178
10.2;Zersplitterung und Missachtung des Widerstands;181
10.3;«One is not tooo alone» – Hilfe aus der Emigration;185
10.4;Weiterleben wofür? Marie Louise von Scheliha;187
10.5;Neue Ehe ohne neues Glück: Antje Kind-Hasenclever;191
10.6;Kreisau bleibt – und die Freundschaft mit Freya: Rosemarie Reichwein;194
10.7;Wiedereinstieg in den Beruf;199
10.8;Journalistin, Verlegerin, Politikerin: Annedore Leber;202
10.9;Leiterin der Volkshochschule Ulm: Inge Aicher-Scholl;211
10.10;Engelserlebnis;215
11;Sechstes Kapitel: Kampf um das Erbe des Widerstands;218
11.1;Endlich Interesse?;218
11.2;«Der 20. Juli kommt vor Gericht»;221
11.3;Denkmal im Bendlerblock;226
11.4;Ausbilden, aufklären, warnen: Annedore Leber;229
11.5;Die Geschichte von der reinen Weißen Rose;231
11.6;Wiedergutmachung und Gnadenrente: Marie Louise von Scheliha;237
11.7;Verteufelung und Seligsprechung der Roten Kapelle: Cato Bontjes van Beek;245
11.8;«Ein Unterdrücken von etwas, mit dem man eigentlich nicht fertig wird»: Rosemarie Reichwein;253
11.9;Frei für Neues – Designerin und Kunstliebhaberin: Antje Kind-Hasenclever;256
12;Siebtes Kapitel: Lebensenden;258
12.1;Nachlassverwalterin des Widerstands: Annedore Leber;258
12.2;1968: Wandel in der Wahrnehmung;261
12.3;Hüterin ihrer Geschwister: Inge Aicher-Scholl;264
12.4;Lebensfreude und eiserner Wille: Antje Kind-Hasenclever;267
12.5;Ebbe und Flut der Erinnerungen: Marie Louise von Scheliha;268
12.6;Politisch denken: Rosemarie Reichwein;271
12.7;Die Frauen des Widerstands melden sich zu Wort;273
12.8;Erinnerungsorte;280
13;Anhang;284
13.1;Dank;286
13.2;Förderer des Buches;287
13.3;Anmerkungen;288
13.4;Quellen und Literatur;328
13.5;Bildnachweis;345
13.6;Personenregister;346
14;Zum Buch;354
15;Über die Autorin;354
«Ein feines schmales Gesicht fällt mir |
«Vergessen Sie mich nicht!»
Die Frau, deren Namen Marie Louise von Scheliha nicht verstehen konnte, war Mildred Harnack. Die gebürtige Amerikanerin hatte ihren Mann, den Juristen und Nationalökonomen Arvid Harnack, in den USA kennengelernt, 1926 gingen sie gemeinsam nach Deutschland. Die Literaturwissenschaftlerin war damals Lektorin an der Berliner Universität, nebenher übersetzte sie Goethe ins Englische. Ab 1933 verbrachte Mildred Harnack einen Teil ihrer Zeit damit, über Beziehungen zur amerikanischen Botschaft Informationen zu beschaffen, die es in Goebbels’ Propaganda-Blättern längst nicht mehr zu lesen gab. Dazu gehörten Nachrichten über den Spanischen Bürgerkrieg oder Reden und Kommentare ausländischer Politiker und Journalisten, die sie unter Freunden verbreitete. Ihr Mann organisierte einen Schulungszirkel, in dem er mit Gleichgesinnten die politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge des Nationalsozialismus analysierte und Perspektiven für eine Zeit danach diskutierte. 1940 schloss sich dieser Kreis mit einem weiteren oppositionellen Freundeskreis um den Publizisten Harro Schulze-Boysen zusammen. Diese vereinigte Harnack/Schulze-Boysen-Gruppe wurde später von der Gestapo als «Rote Kapelle» bezeichnet. Ein Großteil der Beteiligten wurde von den Nazis 1942/43 hingerichtet, darunter ungewöhnlich viele Frauen. Mildred Harnack war eine von ihnen. Ihre Bitte: «Vergessen Sie mich nicht!» sollte in Erfüllung gehen, als sehr viel später, im Jahr 2000, eine umfangreiche Biographie über sie erschien.[1]
Marie Louise von Scheliha war in demselben Gefängnis wie Mildred Harnack inhaftiert, die sie später auf Fotografien wiedererkannt hat. Sie hatte begonnen, sich mit dem Widerstand zu beschäftigen, da ihr Mann, der Diplomat Rudolf von Scheliha, ebenfalls exekutiert worden war. Sein widerständiges Handeln hatte er vor seiner Frau weitestgehend verborgen gehalten – vor allem, um sie zu schützen. So musste sie sich nach 1945 die Geschehnisse erst mühsam im Zuge eines quälend langen Wiedergutmachungsverfahrens erschließen. Marie Louise von Scheliha ist eine der Frauen, die im Zentrum dieses Buches stehen. Es wäre unmöglich, auf so wenig Raum allen Frauen des Widerstands mit ihren ganz unterschiedlichen Biographien und Schicksalen gerecht zu werden. Darum wurden sieben Frauen ausgewählt, die verschiedene Facetten des Widerstands widerspiegeln.
Behandelt werden drei Frauen, die selbst Widerstand geleistet haben: Antje Hasenclever (1909–1985), die erste Frau von Robert Havemann, setzte sich für Verfolgte ein und gehört damit zum sogenannten Rettungswiderstand. Außerdem war sie für die sozialistische Gruppe «Europäische Union» aktiv. Cato Bontjes van Beek (1920–1943) engagierte sich im Widerstand ähnlich wie die ein Jahr jüngere Sophie Scholl, indem sie illegale Flugblätter und Schriften verteilte. Am 5. August 1943 wurde sie im Alter von zweiundzwanzig Jahren in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Sie wird dem Umfeld der vermeintlich kommunistischen Roten Kapelle zugeordnet. Sophie Scholl (1921–1943) verbreitete zusammen mit ihrem Bruder Hans und anderen Mitstreitern die Flugblätter der «Weißen Rose» gegen das NS-Regime. Sie wurde im Februar 1943 in München-Stadelheim enthauptet.
Außerdem nimmt das Buch exemplarisch zwei Frauen in den Blick, die den Widerstand ihrer Männer unterstützten: Annedore Leber (1904–1968) war in die Aktivitäten von Julius Leber zur Vorbereitung des Umsturzversuchs vom 20. Juli 1944 eingeweiht. Rosemarie Reichwein (1904–2002) wusste vom Engagement Adolf Reichweins für den «Kreisauer Kreis» und billigte es, obwohl er damit nicht nur sich selbst, sondern auch sie und die vier Kinder aufs Höchste gefährdete.
Schließlich soll es auch um zwei Frauen gehen, die aus Widerstandsfamilien stammen, ohne selbst informiert oder beteiligt gewesen zu sein, deren späteres Leben aber maßgeblich vom Widerstand bestimmt war: Inge Aicher-Scholl (1917–1998), die ältere Schwester von Sophie und Hans Scholl, begriff ihr Handeln nach 1943/45 ausdrücklich als Erfüllung des Erbes ihrer ermordeten Geschwister. Das Leben der bereits erwähnten Marie Louise von Scheliha (1904–2003), deren Ehemann Rudolf von Scheliha als Kommunist und käuflicher Spion verleumdet und hingerichtet worden war, wurde nach 1945 ganz von dem Verdikt gegen ihren Mann überschattet.
Diese Frauen, die im Mittelpunkt des Buches stehen, repräsentieren völlig unterschiedliche Widerstandsgruppen. Ihre Schicksale sollen jedoch nicht unverbunden nebeneinandergestellt werden. Das Buch folgt vielmehr der Chronologie der politischen Ereignisse und zeigt immer wieder, wo Verbindungen zwischen den Frauen bestanden, wo sich die Wege kreuzten oder auseinanderliefen. Auf diese Weise wird neben den Protagonistinnen auch immer wieder das Leben anderer Frauen im Widerstand gegen Hitler betrachtet.
Viele der überlebenden Frauen sind sehr alt geworden. Sie lebten nur zwölf Jahre in einer Diktatur, die jedoch ihr gesamtes späteres Leben geprägt hat. Die Darstellung beschränkt sich daher nicht auf die Zeit des Nationalsozialismus, sondern zeigt auch, wie unterschiedlich die Betroffenen mit dem Erbe des Widerstandes umgegangen sind, mit dem sie sich unweigerlich beschäftigen mussten. Es wird deutlich, dass vor allem in den 1950er Jahren für die überlebenden Frauen die Kontinuitäten zur Zeit vor 1945 überwogen.
Gemeinsam ist allen Frauen, mit Ausnahme von Sophie Scholl, vor allem eines: Sie waren lange Zeit – und sind es teils bis heute –«vergessene Frauen» des Widerstands. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis sich das Interesse von Forschung und Öffentlichkeit ihnen zuwandte. Viele Quellen zu den Frauen wurden bisher noch gar nicht erschlossen und konnten von mir erstmals ausgewertet werden. Auf diese Weise will das Buch der einfachen, aber oft gar nicht erst gestellten Frage nachgehen, was diese Frauen im Widerstand denn eigentlich gemacht haben. Was genau war ihr Beitrag? Worin besteht ihre Leistung, die sie von ihren Zeitgenossinnen unterscheidet?
Als im Jahr 2011 anlässlich des hundertsten Geburtstags von Freya von Moltke gleich zwei Biographien über die am 1. Januar 2010 im Alter von achtundneunzig Jahren verstorbene Witwe des Widerstandskämpfers Helmuth James von Moltke erschienen,[2] stellte einer der Rezensenten, Klaus-Jürgen Bremm, fest: Hundert Jahre Leben machen noch keine Jahrhundertgestalt, und eine «wirkliche Lebensleistung» sei bei Freya von Moltke nicht zu erkennen. Schließlich habe sie ja nicht einmal in ihrem erlernten Beruf gearbeitet – sie war promovierte Juristin –, sondern «behalf» sich mit «Gelegenheitspositionen im sozialen Bereich» mit der Begründung, sie sei ja «für die Menschen gemacht», was für den Autor «eher wie eine pathetische Selbstlegitimierung ihres Hausfrauendaseins» klingt.[3]
Hausfrau, sonst nichts? Abgesehen von der Häme, die aus diesen Worten spricht und die generell ein «Hausfrauendasein» nicht als Lebensleistung anerkennt, ist diese Klassifizierung im vorliegenden Fall unangemessen. Freya von Moltke selbst hätte sich dagegen verwahrt. 1992 schrieb sie an Irene Etzersdorfer, die das Buch von Dorothee von Meding rezensiert hatte: «Es stimmt, wir haben nicht alle gleich viel von den Einzelheiten des Widerstandes unserer Männer gewusst – einige mehr, andere weniger. Und eine ganze Reihe von uns Frauen war auch selber ganz schön aktiv. Alle haben aber gewusst, worum es ging, mit allen Konsequenzen, die das für uns und unsere Kinder haben konnte und dann auch hatte. Und alle haben den Widerstand gebilligt. Ich meine, wir hätten verdient, dass das ganz klar und eindeutig gesagt wird. Weil Sie das nicht tun, darum schreibe ich Ihnen heute. Und wenn Sie so etwas von oben herunter über uns schreiben, dass wir nur als glückliche und liebende Ehefrauen dabei waren, dann unterschätzen Sie unseren persönlichen Einsatz.»[4]
Dieser Einsatz war zwar in vielen Fällen durch das Hausfrauendasein getarnt, aber er ging weit darüber hinaus. Kaffee kochen ist kein Widerstandskampf, aber als Mitwisserin und Zeugin Kaffee für eine Gruppe von Verschwörern zu kochen – wie es zum Beispiel Marion Yorck bei den Treffen des Kreisauer Kreises in der Berliner Hortensienstraße oft tat oder auch Antje Havemann für sozialistische Gruppen –, das war in den Augen der Nazis Hochverrat und konnte mit dem Tod bestraft werden. Man tut sich schwer, die unterschiedlichen Erscheinungsformen widerständigen Handelns als «Kampf» zu bezeichnen. Eine Hausfrau konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte,...