E-Book, Deutsch, 328 Seiten
Geyken Gerhard und Sabine Leibholz
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8353-8715-7
Verlag: Wallstein Erfolgstitel - Belletristik und Sachbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Auch eine Geschichte der Familie Bonhoeffer
E-Book, Deutsch, 328 Seiten
ISBN: 978-3-8353-8715-7
Verlag: Wallstein Erfolgstitel - Belletristik und Sachbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Frauke Geyken, geb. 1963, arbeitet als selbständige Historikerin. Zuvor war sie langjährige Mitarbeiterin an der Universität Göttingen. Veröffentlichungen u.a.: Zum Wohle Aller. Geschichte der Georg-August-Universität Göttingen von ihrer Gründung 1737 bis 2019 (2019); Wir standen nicht abseits. Frauen im Widerstand gegen Hitler (2014); Freya von Moltke. Ein Jahrhundertleben. 1911-2010 (2011).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
»Draußen«
Flucht und Exil –
England (1938-1947)
F. S., Kollege aus Berlin, am 28. September 1938 an Gerhard Leibholz: »Lieber Herr College!
Über den Stand meiner Sache wusste ich noch gar nichts. Möchte doch Ihre Information richtig sein! Möchten aber auch Sie mit Ihren Bemühungen Erfolg haben! Denn raus müssen wir jetzt, daran ist kein Zweifel. Mir ist die Wohnung gekündigt, ich suche keine andre, würde auch keine finden, mag aber überhaupt nicht noch einmal anfangen.«
Was tun? Wohin?
Locarno, Genf, Zürich, Wassenaar
»Donnerstag 10. November Frau Straube, Frau Doering zum Kaffee. Frau Straube kurz vor ihrem Umzug nach München«[280] notierte Ilse Neumann, die Frau des Rektors der Universität, an diesem Tag, einen Tag nach der Pogromnacht in Göttingen, in ihrem Tagebuch. Mehr hielt sie offenbar nicht für erwähnenswert.
Peter Leibholz hatte allerdings seinem Bruder Gert Erschreckendes zu berichten: »Heute vor 2 Wochen reiste die Schwiegermutter von Hans nach Holland und ich bat sie, mir von dort sofort eine Einladung zu senden, denn ich wollte den darauffolgenden Dienstag abreisen, alles war schon gepackt. Aber überhaupt keine Nachricht kam, erst am Freitag eine ungenügende Einladung von Totta u. gleichzeitig eine geschäftliche Aufforderung von Theo. Beides war zu spät, keiner mit J im Pass wurde in diesen Tagen herausgelassen, sondern in der Bahn, wo Kontrollen waren, oder an der Grenze verhaftet und ins Konzertlager [sic] gebracht. Donnerstag, den 10.11. fing es an, erst mit Vernichtungen und Plünderungen von Läden, Etagengeschäften und Büros, Anzünden aller Synagogen usw. gleichzeitig begannen die Verhaftungen in ziemlich wahlloser Form, und alle Verh[a]fteten sitzen noch. … Ich sollte in Sfld [Sommerfeld] verhaftet werden, war aber nicht anwesend. Auch Wohnungen sollen zerstört sein, in Berlin weniger als in der Provinz. Bei mir in Sfld [Sommerfeld] haben sie anlässlich einer Haussuchung wegen Waffen die Wohnung auf den Kopf gestellt. Ich habe meinen Wohnsitz zu Hause aufgegeben und irrte Tage und Nächte herum, viel bei Bekannten und ähnlich Besuche machend, auch im Büro war [i]ch nur sporadisch. Wohnung und Büro sind aber in Berlin ungeschoren geblieben.«[281]
Die Familie Leibholz befand sich am 9. November 1938 bereits in der Schweiz. »Längst hätten wir Deutschland verlassen müssen«, konstatierte Sabine Leibholz 1976 rückblickend in ihren Erinnerungen.[282] Die Situation an sich war klar. Es war Gefahr in Verzug, und im Grunde hatte Gerhard Leibholz dies lange vor 1933 erkannt: Es lohne sich nicht mehr, die Stelle in Göttingen anzutreten. Statt von Greifswald nach Göttingen zu gehen, hätte er versuchen können, sich woanders eine Existenz aufzubauen. Aber die endgültige Entscheidung zur Auswanderung zu treffen, fiel dem Ehepaar, wie so vielen anderen, sehr schwer.[283] Dennoch konnten sich Gerhard und Sabine Leibholz der Realität nicht ganz verschließen, es wurden erste, vorsichtige Vorbereitungen getroffen, Deutschland zu verlassen. Anfang 1938 hatte die Familie Leibholz bereits zwei Wochen in der Schweiz verbracht, um sich über Emigrationsmöglichkeiten zu informieren und möglicherweise auch, um dort Geld zu deponieren. Im August hielten sich die vier bei den Eltern Bonhoeffer in Berlin auf. Nachdem sie am 18. August nach Göttingen zurückgekehrt waren, habe bis zu dem Moment der Ausreise im September 1938 permanente Unruhe und Anspannung in der Herzberger Landstraße geherrscht, so hatte es Marianne in ihrem Tagebuch notiert.
Bereits 1934 hatte sich das Ehepaar ein Auto gekauft – damals noch eine Seltenheit auch in Professorenhaushalten –, um im Notfall mobil zu sein. Es diente all die Jahre über aber auch dazu, der bedrückenden Isolation in Göttingen zu entkommen. Die Familie fuhr am Wochenende ins Umland, oft und lange zu den Eltern nach Berlin oder auch ins Ausland, »immer schon im Hinblick auf die Auswanderung«, wie Sabine schreibt.[284] Das war möglich, weil zwei Bankangestellte der Commerzbank den Leibholzens Devisen zuteilten, so als ob sie unbedenkliche Volksgenossen wären und keine Juden, denen lange schon keinerlei Devisen mehr zustanden. Sabine Leibholz erwähnt die zwei Anständigen namentlich in ihren Erinnerungen: Willi Drescher, »ein frommer Baptist und ein ausgesprochener Feind der Nazis aus christlichen Grundsätzen« und »ein jüdischer Mann namens Hammerschlag, der wohl wegen seiner großen Tüchtigkeit nicht so schnell zu ersetzen war. Sie öffneten uns die Tore in die Freiheit.«[285] Drescher wird Gerhard Leibholz nach 1945 bei seiner Rückkehr ein weiteres Mal behilflich sein. Reinhart Hammerschlag gelang die Emigration in die USA, von wo aus er weiterhin mit Leibholz in Kontakt blieb.
Am 23. August 1938 waren Gert und Sabine Leibholz erneut für zwei Wochen nach Berlin gefahren, um sich noch einmal mit der Familie zu besprechen. Die hatte Gert wieder und wieder zur Auswanderung gedrängt. Hans von Dohnanyi, der im Justizministerium arbeitete, hatte den Familienkreis immer schon vorab informiert, welche gesetzlichen Einschränkungen den Juden und somit auch Leibholz als Nächstes bevorstanden. Alle verfolgten gemeinsam und mit großer Sorge, wie seine Demütigung, Ausgrenzung und Entrechtung staatlicherseits unablässig vorangetrieben wurden. Die Schwäger hatten seit 1933 versucht, Leibholz zu einem Entschluss zu bewegen. Der aber wollte sich nicht drücken, wollte weiterhin zum vertrauten Kreis der Freunde dazugehören, sich bewähren wie sie, denen immer klarer wurde, dass sie sich dem Unrecht, das geschah, widersetzen wollten. Aber als Jude war er eben in einer ganz anderen Position als sie und zusehends gefährdet. Und nun im Sommer 1938 verdichtete sich die Situation. Zum einen war Europa durch die Sudetenkrise unmittelbar von einem Krieg bedroht, der zunächst durch die britische Appeasement-Politik Ende September 1938 noch abgewendet wurde. Zum anderen wußte Hans von Dohnanyi, dass eine neue Verordnung in Vorbereitung war, mit der die Pässe aller Juden, die sich im Reichsgebiet aufhielten, für ungültig erklärt werden sollten.[286] Daraufhin hätte Gerhard Leibholz Deutschland nicht mehr verlassen können.
Am 31. August 1938 fuhr Gerhard Leibholz nach Hamburg auf das amerikanische Konsulat, um sich und seine Familie dort auf die Einwanderungslisten für die USA setzen zu lassen. Die Ausreise nach Amerika war nach einem Quotensystem geregelt, der Zeitpunkt einer Flucht in die USA lag somit in weiter Ferne.[287] Leibholz, der am Anfang seiner Karriere stand, hätte dank seiner Arbeit zum italienischen Faschismus auch versuchen können, in Italien Fuß zu fassen, was er 1938 tatsächlich erwog.[288] In England hingegen war es für den Juristen schwieriger unterzukommen, weil dort ein ganz anderes Rechtssystem galt.[289] Naturwissenschaftlern stand die Welt eher offen, aber für viele Disziplinen und insbesondere für Juristen war ein Neubeginn unter ganz anderen strukturellen Bedingungen oft sehr schwer. Überhaupt stellte sich den Bedrohten die Frage: Was würde uns im Ausland erwarten? Eine Ausreise stellte einen enormen bürokratischen Aufwand dar: Was musste man vorlegen? Was durfte man mitnehmen? Was musste man zurücklassen? Und vor allem: Wen musste man zurücklassen? Mehr noch als die äußerlichen Unwägbarkeiten war die enge Bindung an die Familie Bonhoeffer für Gerhard und Sabine Leibholz ein entscheidender Grund dafür, die Emigration zu verzögern, aber sie war stets präsent.[290]
Am 4. September 1938 fuhr das Ehepaar erneut nach Berlin und kehrte am 8. September mit Dietrich Bonhoeffer und Eberhard Bethge nach Göttingen zurück, wo Tante Elisabeth von Hase aus Breslau, die Schwester von Paula Bonhoeffer, sich um die Kinder gekümmert hatte. Gleich am folgenden Tag, am 9. September 1938, verließ die Familie Göttingen, angeblich um nach Wiesbaden zu fahren, wie Sabine Leibholz dem Kindermädchen mitteilte. »Meine Eltern fuhren nie nach Wiesbaden«, erinnert sich Marianne Leibholz in ihrem Bericht über die Flucht. Die damals Elfjährige wusste sofort Bescheid: »Wir gehen fort.«[291] Die Situation war da, es musste gehandelt werden. Marianne schreibt: »Ich wußte, dass wir uns im Kriegsfall nicht in Deutschland einschliessen lassen durften, da wir uns dann hilflos jeder beliebigen Verfolgungsmaßnahme unserer nationalsozialistischen Landsleute ausgesetzt hätten.« Ihr Vater wäre bedroht gewesen genauso wie Victor Klemperer, von dessen Zwangsarbeiterdasein wir bereits gehört haben. Die NS-Regierung verschärfte zudem kontinuierlich ihre antisemitische Politik der Ausgrenzung, die die Juden im Reich immer weiter in die Isolation trieb: Für den Wissenschaftler Leibholz hätte es schwerwiegende Folgen gehabt, wenn er von nun an keine Bibliotheken mehr hätte betreten dürfen. Außerdem bestand ein Kraftfahrzeugverbot für Juden ab 1938.[292] Ihre für ungültig erklärten Pässe erlangten nur neue Gültigkeit, wenn sie diese mit einem großen roten J stempeln ließen. Dies erschwerte die Ausreise von Juden erheblich, da sie so an jeder Grenze sofort als solche zu identifizieren waren. Und genau das war das Ziel, denn mit dieser Bestimmung reagierten die deutschen Behörden auf eine Intervention der Schweiz. Die Zahl derjenigen, die Deutschland 1938/39 doch noch verlassen wollten und mussten, war enorm gestiegen, während die Aufnahmebereitschaft der Nachbarländer...