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E-Book, Deutsch, 157 Seiten

Gess Halbwahrheiten

Zur Manipulation von Wirklichkeit

E-Book, Deutsch, 157 Seiten

ISBN: 978-3-7518-0527-8
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Halbwahrheiten gehören zu den auffälligsten und wirkmächtigsten Instrumenten des sogenannten postfaktischen politischen Diskurses – eines Diskurses, der zwischen Relativismus und Zynismus schwankt und für den die Verwandlung von Fakten in bloße Meinungen ebenso typisch ist wie das Streben nach Aufmerksamkeit und die Demonstration autoritärer Setzungsmacht. Ob Fake News, Verschwörungstheorien oder populistische Propaganda: Sie alle kommen nicht ohne Halbwahrheiten und ihre Manipulation von Wirklichkeit aus. In ihrem Buch setzt Nicola Gess die Halbwahrheit ins Vernehmen mit dem Ideologiebegriff und formuliert eine Theorie der Halbwahrheit als narrativer Kleinform, die nicht nach dem binären Code wahr/falsch, sondern glaubwürdig/unglaubwürdig funktioniert. Am Beispiel des gefallenen Journalisten Claas Relotius, des Verschwörungstheoretikers Ken Jebsen und des Literaten Uwe Tellkamp untersucht sie, wie eine Rhetorik der Halbwahrheiten arbeitet und warum man ihr mit einem "Fiktionscheck" besser begegnen kann als mit einem "Faktencheck".
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Halbwahrheit und Ideologiekritik
Woran liegt es, dass Halbwahrheiten – einmal abgesehen von dem »postfaktischen« politischen Diskurs, in dem sie sich bewegen – gegenwärtig Konjunktur haben?23 Halbwahrheiten gab und gibt es schließlich schon immer und überall. Sind sie also in letzter Zeit vielleicht nur sichtbarer geworden, etwa weil sie durch die neuen (sozialen) Medien ungefilterter verbreitet werden können? Oder weil das Web 2.0 der Struktur von Halbwahrheiten entgegenkommt, insofern es als eine »digitale, zwischen Oralität und Schrift oszillierende Form des Hörensagens« funktioniert, in der diejenige Nachricht, die sich am schnellsten und weiträumigsten verbreitet, am ehesten als wahr empfunden wird?24 Doch sind die sozialen Medien und ihre Nutzer:innen keineswegs gänzlich von Halbwahrheiten und anderen Falschnachrichten bestimmt. Der virtuelle Raum ist ein hybrider Ort öffentlicher Meinungsbildung, in ihm finden sich Falschinformationen neben fundierten Analysen und sorgfältig recherchiertem Hintergrundwissen. Er ist ein Ort der Wahrheit und Unwahrheit zugleich. Ihn in Gänze als Ursache einer Zunahme von Halbwahrheiten zu verstehen, greift daher zu kurz.25 Vielmehr fungieren in den sozialen Medien vor allem einzelne und häufig rechtspopulistische Seiten oder Akteure, wie zum Beispiel Donald Trump, als deren twitternde Superspreader.26 Liegt der Grund für die Konjunktur der Halbwahrheiten also vielleicht, mit Arendt gesprochen, in einem drohenden Verlust der Integrität der Politik am rechten Rand? Gleichzeitig wird das Erstarken des Rechtspopulismus aber auch oft mit einem schon länger wahrgenommenen Verlust der Integrität der Politik der Mitte beziehungsweise einer damit einhergehenden Vertrauenskrise der Bevölkerung gegenüber Politik als solcher erklärt.27 Nur deshalb können sich Trump und andere Rechtspopulistinnen und -populisten als Volkstribune gerieren, die vorgeblich mit den Lügen einer korrupten Politik aufräumen wollen. Um sich der Funktion von Halbwahrheiten bewusst zu werden, ist es daher vielleicht zunächst sinnvoller, diese nicht als Gegenstück zu einer wie auch immer gearteten »Wahrheit« anzusehen, sondern auf Theodor W. Adornos Begriffe von Ideologie und Ideologiekritik zu rekurrieren. Interessanterweise kommt eine der treffendsten Analysen des Rechtsrucks unserer Zeit nämlich aus der Vergangenheit: Wie in vielen Rezensionen betont wurde, ist mit der posthumen Herausgabe von Adornos Vortrag »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus« von 1967 »dem Verlag ein Coup gelungen«, insofern der Text »noch heute von schlagender Evidenz« sei und sich »wie ein Kommentar zum Aufstieg der AfD« lese.28 In Bezug auf die Frage nach der Konjunktur von Halbwahrheiten in einem postfaktischen politischen Diskurs lohnt es sich also vielleicht, einen weiteren Text Adornos heranzuziehen, den »Beitrag zur Ideologienlehre« (1954).29 Bis zum discursive turn der 1970/80er-Jahre war Ideologiekritik das Kernelement sich als gesellschaftskritisch verstehender Theorie; man wollte subtile Herrschaftsmechanismen offenlegen und so »verblendete« Bürger:innen aufklären. Wegen seines starken elitären Sendungsbewusstseins und seiner fundamentalen Orientierung an den Kategorien wahr und falsch geriet der Ideologiebegriff jedoch unter Beschuss und schließlich in Vergessenheit.30 Ist heute, wo sich die Frage von Wahrheit und Falschheit neu stellt, seine Renaissance notwendig?31 In seinem »Beitrag zur Ideologienlehre« schreibt Adorno 1954 über die bürgerlich-liberale Ideologie, die für seinen Ideologiebegriff maßgeblich ist und zu der man zum Beispiel die Ideen der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zählen kann: Als objektiv notwendiges und zugleich falsches Bewußtsein, als Verschränkung des Wahren und Unwahren, die sich von der vollen Wahrheit ebenso scheidet wie von der bloßen Lüge, gehört Ideologie […] einer entfalteten städtischen Marktwirtschaft an. Denn Ideologie ist Rechtfertigung. Sie erheischt ebenso die Erfahrung eines bereits problematischen gesellschaftlichen Zustandes, den es zu verteidigen gilt, wie andererseits die Idee der Gerechtigkeit selbst, ohne die eine solche apologetische Notwendigkeit nicht bestünde und die ihr Modell am Tausch von Vergleichbarem hat.32 Adorno spricht hier die Sprache einer marxistisch orientierten Gesellschaftskritik. »Wahr« (das heißt hier: realisiert) ist demnach die Idee der Gerechtigkeit im bürgerlich-liberalen Zeitalter, insofern sie einer auf dem Tausch basierenden Ökonomie adäquat ist. »Unwahr« bzw. »notwendig falsch« ist diese Wahrheit aber zugleich, insofern der Äquivalententausch eine Realität erzeugt, die sich durch Ungleichbehandlungen auszeichnet. Falsch ist es zudem für Adorno nicht nur, diese soziale Realität als eine gerechte misszuverstehen, sondern falsch ist auch die Ungerechtigkeit als solche – und zwar gemessen an der Idee von Gerechtigkeit als einem der Ideologie innewohnenden Anspruch oder auch »Wahrheitsgehalt«, den sie verfehlt. Die »Wahrheit« der Gerechtigkeit ist also ideologisch, doch lässt sich diese Ideologie kritisieren, indem der erfahrbare Widerspruch zwischen der Idee von Gerechtigkeit und der sozialen Realität herausgestellt wird. Dabei wird die Warte, von der aus die ideologische Wahrheit als »unwahr« oder »falsch« kritisiert wird, erst im Prozess der immanenten Kritik gewonnen. Zugleich wahr und falsch zu sein, meint im Fall der Ideologiekritik also (anders als im Fall der Halbwahrheit) gerade keine Suspendierung der Unterscheidung, sondern setzt einen sowohl epistemisch wie normativ begründeten und letztlich »emphatischen« Wahrheitsbegriff voraus,33 der erst in der Methode der immanenten Kritik gewonnen wird und bei Adorno nur negativ, das heißt als Negation des falschen Bestehenden zu haben ist.34 Insofern ist Adornos Ideologiekritik, wie die Philosophin Rahel Jaeggi schreibt, zugleich »nichtnormativ und dennoch normativ bedeutsam«: »sie generiert […] aus den Selbstwidersprüchen der gegebenen Normen und der gegebenen Realität die Maßstäbe zu deren Überwindung«.35 Für die spätkapitalistische Gesellschaft konstatiert Adorno jedoch, dass die Ideologie in ihr nicht mehr »zum Seienden […] als Rechtfertigendes oder Komplementäres hinzugefügt« werde, sondern »in den Schein übergeht, was ist, sei unausweichlich und damit legitimiert«.36 Darum lässt sich für diese eigentlich nicht mehr von einer Ideologie im obigen Sinne sprechen und auch keine herkömmliche Ideologiekritik mehr betreiben, die die soziale Realität mit den in ihr nur ungenügend realisierten Ideen ins Verhältnis setzen müsste. Außerdem wird dadurch auch die ideologiekritische Unterscheidung von wahr und falsch zum Problem, wie sich anhand von drei für Adornos Nachdenken über die Aushöhlung der bürgerlich-liberalen Ideologie zentralen Stichworten – Kulturindustrie, Relativismus, Faschismus – nachvollziehen lässt. Über die spätkapitalistische Kulturindustrie schreibt Adorno: »Wollte man in einem Satz zusammendrängen, worauf eigentlich die Ideologie der Massenkultur hinausläuft, man müßte sie als Parodie des Satzes: ›Werde was du bist‹ darstellen.«37 Sie beschränke sich nun darauf, »den Menschen nur noch einmal das vor Augen zu stellen, was ohnehin die Bedingung ihrer Existenz ausmacht«38, und dieses Dasein zugleich »als seine eigene Norm«39 zu proklamieren: »Nichts bleibt als Ideologie zurück denn die Anerkennung des Bestehenden selber, Modelle eines Verhaltens, das der Übermacht der Verhältnisse sich fügt.«40 Heute lässt sich das vielleicht am besten anhand des auf den Thatcherismus zurückgehenden TINA-Prinzips (»There Is No Alternative«) veranschaulichen, nach dem es schlicht keine Alternative zur bestehenden, allein auf den Markt beziehungsweise auf die Wettbewerbsfähigkeit ausgerichteten Politik und ihren Maßnahmen gebe, denen sich die Bürger:innen zu fügen haben. Wo es keine Alternative zum Bestehenden gibt, kann dieses aber weder falsch noch im emphatischen Sinne wahr sein; die Ausrichtung daran geht verloren zugunsten der Postulierung von Wahrheit als schlichter Alternativlosigkeit. Diesem unipolaren Prinzip lässt sich dann auch schwerlich mit Ideologiekritik als einer Form der immanenten Kritik begegnen, sondern allenfalls, so Adorno schon vor gut 65 Jahren, mit einer »Analyse des cui bono«41: Wer hat ein Interesse daran, das Bestehende als »einzige Wahrheit« bzw. alternativlos zu postulieren? So kritisch und notwendig diese Frage ist, so leicht schlägt sie jedoch Adorno zufolge in einen Relativismus um, den er als philosophische Entsprechung des »Niedergang[s] der Möglichkeit von Freiheit«42 kritisiert. Dem Prinzip der Alternativlosigkeit...


Nicola Gess ist Professorin für Neuere deutsche und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Nach einem Studium der Literaturwissenschaft, Musikwissenschaft und Querflöte in Hamburg, Princeton (USA) und Berlin forschte sie an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Universität Regensburg und der Freien Universität Berlin und folgte 2010 einem Ruf an die Universität Basel (CH). Nicola Gess ist Leiterin des vom Schweizer Nationalfonds geförderten Forschungsprojekts Halbwahrheiten. Wahrheit, Fiktion und Konspiration im 'postfaktischen Zeitalter' und Co-Leiterin der ebenfalls vom Nationalfonds geförderten Sinergia-Forschergruppe The Power of Wonder. Gastaufenthalte und Fellowships führten sie u.a. an das Käte Hamburger Kolleg Morphomata an der Universität Köln, an das Max Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte und an das Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin und an die Kolleg-Forschergruppe Imaginarien der Kraft an der Universität Hamburg. Zu ihren Veröffentlichungen gehören: Staunen. Eine Poetik (2019), Archäologie der Spezialeffekte (Hg., 2018), Handbuch Literatur und Musik (Hg., 2017), Barocktheater als Spektakel. Maschine, Blick und Bewegung auf der Opernbühne des Ancien Régime (Hg., 2015), Wissens-Ordnungen. Zu einer historischen Epistemologie der Literatur (Hg., 2014), Primitives Denken. Kinder, Wilde und Wahnsinnige in der literarischen Moderne (Müller, Musil, Benn, Benjamin) (2013), Gewalt der Musik. Literatur und Musikkritik um 1800 (2. Auflage 2011).


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